„Wenn wir die Ukraine schützen, schützen wir uns selbst“
Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel machte bei einer Konferenz der Körber-Stiftung in Lwiw schon im Herbst 2019 klar, wie sehr sich in der Ukraine Europa spiegelt. Er benannte auch alle wesentlichen Motive, die den Angriffskrieg Russlands gegen das Land antreiben. Seine Auftaktrede von damals ist heute aktueller denn je.
Die Ukraine und Europa aus Sicht des Historikers
Mitte Oktober 2019 kam die Körber History Reflection Group in der westukrainischen Stadt Lwiw zusammen. Am international besetzten runden Tisch diskutierten und debattierten Experten und Entscheidungsträger die aktuellen politischen Implikationen der Ost- und Mitteleuropäischen Geschichte. Die komplexe und tragische Vergangenheit der Stadt bildete Hintergrund und Ausgangspunkt einer Annäherung an die aktuelle Position der Ukraine innerhalb der Region und gegenüber Europa. Die Eröffnungsrede des Treffens hielt der Publizist und Osteuropahistoriker Karl Schlögel. Er machte deutlich, wie Vergangenheit und Gegenwart der Ukraine sowohl Inspiration als auch Verpflichtung für Europa sind.
Lwiw/Lemberg: Eine Stadt im europäischen Grenzland zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Ort der Reflexion
Keynote am 10. Oktober 2019
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich, wieder in Lwiw zu sein. Ich war vor einigen Wochen schon hier, während der Internationalen Buchmesse Lwiw, einer wunderbaren Veranstaltung in der Stadt der Bücher, in bibliopolis, wie die Stadt seit Iwan Fjodorow genannt wurde, dem Mann, der das erste Buch in kyrillischen Lettern druckte. Und wenn Sie in diesen Tagen durch die Stadt spazieren, werden Sie staunen, wie viele Buchhandlungen es hier gibt. Ja, es war ein großartiges Ereignis: eine halbe Million Menschen an vier Tagen, die Stadt, in der fast rund um die Uhr Lesungen, Vorträge und Diskussionsrunden liefen. Eine Stadt mit Tausenden von Touristen, die durch die Altstadt flanierten, in einer Art Altweibersommer, bis lange nach Mitternacht. Aber die Zeit bleibt nicht stehen, und vor ein paar Wochen hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die Ukraine – als „Ukrainian affair“ – erneut im Brennpunkt amerikanischer Politik und im Mittelpunkt eines Amtsenthebungsverfahrens stehen würde. Ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, dass es in ukrainischen Städten Demonstrationen gegen die „Steinmeier-Formel“ geben würde – als Formel des Aufgebens, der Kapitulation.
Natürlich sind wir nicht als Touristen hier, zum Sightseeing in einer der schönsten Städte Ostmitteleuropas. Wir sind hierhergekommen, weil diese Stadt der ideale Ort ist, um über die Geschicke Ostmitteleuropas zu reflektieren. Es ist ein Privileg, hier zu sein, um besser zu erkennen und zu verstehen, was dieser historischen Region vor allem im 20. Jahrhundert widerfahren ist, und um zu sehen, wie eine Stadt in einem Land aussieht, das unter dem Druck eines Angriffs von außen um seine Unabhängigkeit und Modernisierung ringt. Wir haben die Möglichkeit, mit Experten zu sprechen, unsere Ansichten und Zweifel auszutauschen und darüber nachzudenken, was zurzeit vor sich geht.
Ich habe die Ehre, vor Beginn unserer Konferenz einige Worte sagen zu dürfen. Ich bin kein Diplomat, kein politischer Berater; ich würde eher sagen: ein langjähriger Beobachter aus Beruf und Leidenschaft, jedoch ohne die Aufgaben und Verpflichtungen der beiden Ersteren. Ich war schon einmal in dieser Stadt, in den 1960er Jahren, als Schüler, auf dem Weg von einem bayerischen Internat nach Moskau und zurück: Das war das sowjetische Lwow, ein grauer Ort hinter dem Eisernen Vorhang. In den 1980er Jahren war ich noch einmal hier, auf der Suche nach „Mitteleuropa“, das damals von Schriftstellern wie Milan Kundera, Claudio Magris oder György Konrad entdeckt wurde. Auf der Suche nach einer verschwundenen, ausgelöschten Welt – der Komplexität Mitteleuropas vor den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts: die Schlachten des Ersten Weltkriegs, das gemischte urbane Gefüge jüdischer, polnischer, ukrainischer, armenischer, deutscher, russischer Gemeinden, die Welt, die in den Werken Joseph Roths, Karl Emil Franzos‘, Bruno Schulz‘, Iwan Frankos imaginiert und vor allem von meinem Kollegen und Freund Martin Pollack beschrieben wird, die Stadt, die nach der deutschen Besatzung und dem Holocaust, nach den sowjetischen Deportationen und der Vertreibung der Polen nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr existierte. Und ich kam nach dem Ende des Kalten Krieges hierher zurück, nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs, als Lwow zu Lwiw geworden und nicht mehr provinzieller Hinterhof war, sondern das Zentrum der Bewegungen für nationale Unabhängigkeit und Demokratie, die wir als Orange Revolution kennen, und als Maidan-Revolution Anfang 2014, als ich die meisten Städte im Osten bereiste, die von russischen Spezialeinheiten und deren Unterstützern in ihre Gewalt gebracht worden waren.
Was für Veränderungen im Laufe der Jahre! Für Menschen wie mich, die die Stadt seit 50 Jahren kennen, ist dies heute eine andere Stadt: Das ist nicht mehr die „Metropole der europäischen Provinz“, wie ich sie in einem Essay in den 1980er Jahren nannte: Flugverbindungen aus und in Dutzende von Städten im Ausland, Hunderttausende Menschen, die nach Danzig, London, Berlin, Barcelona oder Neapel pendeln, Heerscharen von SUVs, die 100 Jahre alte Kopfsteinpflasterstraßen einer mitteleuropäischen Stadt beschädigen oder was die Nostalgie so gern mit Mitteleuropa assoziiert. Ich möchte Sie an einigen der Gedanken teilhaben lassen, die mir durch den Kopf gingen, als ich die Einladung der Körber-Stiftung erhielt.
Erstens: Lemberg/Lwiw ist der richtige Ort, wenn man versucht zu verstehen, was dieser historischen Region widerfahren ist, besonders im 20. Jahrhundert. Die Topografie der Stadt spiegelt die Triumphe und Tragödien des letzten Jahrhunderts. Wir können die Textur, die Schichten, das Palimpsest einer Stadt „lesen“. Es gibt kein besseres Dokument, um uns vor Augen zu führen, was geschehen ist und was auf dem Spiel stand und immer noch steht. Ich bin, vielleicht auch wir sind, deshalb hier, weil wir hier Dinge sehen können, die es nur hier zu sehen gibt: ein Ort beispielloser Paradoxien, von unglaublicher Schönheit und nie dagewesenem Grauen, das immer wieder über die Stadt hereinbrach, Labor der Moderne und Schauplatz von Völkermord und Massendeportationen. Wir sind hierher an einen der Orte gekommen, die kennzeichnend, paradigmatisch für das Schicksal Ostmitteleuropas im letzten Jahrhundert sind.
Zweitens: Da ich nicht als Tourist hier bin, auf nostalgischer Suche nach Habsburg-Boulevards, Jugendstilbauten und legendären Hotels wie dem George, da ich nicht nur von Beruf Historiker bin, der sich die meiste Zeit seines Lebens mit urbaner Kultur in Ost- und Mitteleuropa befasst hat, sondern auch Zeitgenosse, Zeitzeuge einer „Geschichte der Gegenwart“, möchte ich gern mehr über die aktuellen Ereignisse in diesem Land erfahren, das vor unglaublich großen Herausforderungen steht: der Bewältigung des sowjetischen Vermächtnisses, das wie eine schwere Last auf dem Staat und einer Gesellschaft liegt, die versucht, die sowjetische Welt hinter sich zu lassen.
Und schließlich: In unserem Gespräch geht es – aus meiner Sicht – nicht nur um die Vergangenheit, das Gedenken und die Geschichtspolitik, nicht nur um die Ukraine oder Lemberg, sondern auch um uns. De te fabula narratur. Um Europa, um den Westen, um Russland, um ein Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges, nach dem Zerfall der alten Weltordnung, und darum, was „wir“ – im Westen, in Deutschland oder in jedem anderen Land – mit Blick auf die Ukraine tun sollten.
Die Körber-Stiftung hat richtig daran getan, die Reflection Group nach Lemberg zu bringen, zumal in so schwierigen Zeiten, wie die öffentliche Debatte um die Steinmeier-Formel und die Demonstrationen in einigen ukrainischen Städten zeigen. Wir haben die Möglichkeit, unser Wissen über das europäische Grenzland zu erweitern und zu vertiefen. Lwiw ist ein Ort, an dem man umdenken und Dinge neu konzipieren kann. Lwiw ist ein Ort, der die Verwicklungen und Antinomien der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts in Frage stellt. Ein Ort der Reflexion, so wie ich ihn verstehe, bietet die Möglichkeit zur Erkundung, die Möglichkeit, den eigenen Geist zu öffnen für das, was jenseits der altbekannten Antworten liegt, ein offener Raum und ein Ort zum Brainstorming, anstatt Lehren aus der Geschichte zu ziehen, was aus Hegels Sicht ein sinnloses Unterfangen ist.
Erstens: Alle Fragen, die auf dem Programm für die nächsten zwei Tage stehen, finden sich an diesem Ort.
Die Geschichte der Stadt wird oft anhand der Biografien ihrer Bürger erzählt. Man konnte in derselben Stadt bleiben und dennoch mehrmals die Staatsangehörigkeit wechseln – als Bürger von fast einem Dutzend verschiedener Imperien, Staaten, Regierungen und Regimes. Im Fall von Lemberg/Lwów/Lwow/Lwiw bedeutet das: Jemand, der, sagen wir mal, in den 1910er Jahren geboren wurde, war zunächst Bürger des Habsburgerreichs und erlebte während des Ersten Weltkriegs eine kurze Phase russischer Besatzung, lebte nach 1918 in der Westukrainischen Volksrepublik, die schnell wieder verschwand, wurde danach Bürger der Zweiten Polnischen Republik; nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 vor genau 80 Jahren gehörte die Stadt dann zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, nach der Invasion der Wehrmacht im Juli 1941 zum Distrikt Galizien im Generalgouvernement und nach der Rückeroberung durch die Rote Armee in Jahr 1944 schließlich zur Sowjetunion bis zu deren Ende im Jahr 1991.
So könnte eine Person während ihres Lebens etwa acht verschiedene Staatsbürgerschaften gehabt haben. Dies ist in vielerlei Hinsicht einzigartig, aber eben auch kennzeichnend für Regionen und Städte im Zwischenland Ostmitteleuropa. Und natürlich war das nicht nur eine Abfolge formaler Veränderungen. All das ging mit wechselnden Amtssprachen, dem Umbau von Institutionen, der Umbenennung von Straßen und Plätzen und der Abgrenzung des öffentlichen Raums einher, vor allem aber war es eine Frage von Leben und Tod, eine Frage des Überlebens. Die Stadt, die zwar physisch überlebt hatte und von militärischen Handlungen weitgehend verschont geblieben war, existierte in ihrer früheren sozialen, religiösen und ethnischen Zusammensetzung nicht mehr. Als der Krieg zu Ende ging – und der Krieg in der Westukraine endete übrigens erst Mitte der 1950er Jahre – gab es die Stadt der Vorkriegszeit, die in ihrer physischen Erscheinung völlig intakt geblieben war, gab es das Lwiw in seiner bisherigen menschlichen Dimension nicht mehr. Die jüdischen Bewohner der Stadt, deren Anteil an der Bevölkerung vor dem Krieg noch rund 40 Prozent betrug, waren verschwunden, verhungert, im Ghetto dahingerafft, im Todeslager Janowska ermordet und in die Gaskammern von Belzec deportiert worden.
Die Polen, die vor dem Krieg auf über die Hälfte der Bevölkerung gekommen waren, wurden nach den Vereinbarungen von Teheran und Lublin „evakuiert“. Das polnische Lwów wurde gewaltsam nach Breslau/Wrocław verlegt, wo die deutsche Bevölkerung die Stadt verlassen musste. Die kleine Minderheit der Galiziendeutschen verschwand. Tausende Ukrainer wurden während der sowjetischen Besatzung in den Jahren 1939-1941 und nach der Rückeroberung 1944 deportiert. Die Zitadelle im deutsch besetzten Lemberg wurde für mehr als 100.000 sowjetische Kriegsgefangene zum Todeslager und Massengrab. So wurde die mehr oder weniger internationale, gemischte Gesellschaft der Stadt, wie Lord Curzon es gern formulierte: entmischt, entpolonisiert, entjudaisiert, und es war der Zustrom von Ukrainern und Russen aus den zentralen und östlichen Regionen, der das sowjetische Lwow in eine ukrainische Stadt verwandelte, mit all den typischen Merkmalen sowjetischer Hyperurbanisierung und Ruralisierung (Moshe Lewin), die gleichzeitig aber auch – ethnisch, sprachlich und kulturell gesehen – unumkehrbar ukrainisch war (Ähnliches vollzog sich auch in Städten wie Wilno/Vilnius, Minsk und anderswo).
Doch selbst das dramatischste chronologische Narrativ wird den Paradoxien nicht gerecht, die sich in der Wirklichkeit ereigneten: das Zusammenspiel zweier extrem gewalttätiger totalitärer Regime und deren Auswirkungen auf das städtische Universum. Die Gewalt, die Lwow/Lwiw zerstörte, kam von außen: zuerst aus dem nationalsozialistischen Deutschland, aber auch aus Stalins Sowjetunion; beide Regime entfesselten Konflikte und Rivalitäten zwischen den gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Gruppen innerhalb des Lwiw-Universums. Deutsche und Sowjets machten sich die innerethnischen, sozialen und kulturellen Widersprüche für ihre eigenen Zweck zunutze, indem sie einerseits gegenseitigen Hass und den Wunsch nach Rache und Vergeltung schürten, andererseits aber eine enge Kollaboration von unten etablierten. Totale Herrschaft, die aus dem Ausland hereingetragene Revolution und die Anstiftung zu Feindseligkeiten und Rivalität im Inneren setzten das soziale Gefüge in Brand – mit tödlichen Folgen, symbolisiert durch die Massenhinrichtungen Tausender Bürger durch den sowjetischen NKWD und die schrecklichen antijüdischen Pogrome in den letzten Juni- und ersten Julitagen, die, mit Rückendeckung der deutschen Wehrmacht, von ukrainischen Nationalisten organisiert wurden, sich vor den Augen Schaulustiger abspielten und Tausende Opfer forderten.
Jeder nationalen Bewegung bot der Kampf der Imperien die Chance, die Unabhängigkeit der unterdrückten Völker und Nationen zu erlangen; wie wir während des Ersten Weltkriegs und danach sehen konnten, bereitete der Zusammenbruch der Reiche den Weg für eine neue Landschaft unabhängiger Nationalstaaten im Nachkriegseuropa. Doch die Erwartungen der ukrainischen Nationalbewegung wurden enttäuscht: Weder die Deutschen noch die Sowjets hatten Interesse an einer unabhängigen Ukraine. Als die Sowjets nach dem 17. September 1939 einrückten, organisierten sie etliche Massendeportationen, die sich gegen die „herrschenden Elemente“: richteten: Bürger, Kapitalisten, Grundbesitzer, Priester, Offiziere, Nationalisten, Angehörige der Intelligenzija – Ukrainer, Polen oder Juden. Als die Deutschen die Macht übernahmen, war dies der Beginn von Zwangsarbeit, Massenhinrichtungen vor Ort, der Errichtung von Todeslagern und Deportationen in die Gaskammern im nahegelegenen Bełżec. Der Krieg endete nicht nach der Befreiung, sondern setzte sich im Untergrund und als Bürgerkrieg mit unerbittlicher Brutalität auf beiden Seiten und Tausenden von Opfern und Deportierten fort.
Die lange Abfolge der Gewalttaten hat Spuren in der Stadtlandschaft hinterlassen, und da Lwów/Lwiw/Lwow im Mittelpunkt stand, war die Stadt voll von Flüchtlingen, Schriftstellern und Journalisten, die die über das, was sie gesehen hatten, berichteten. Es mangelt nicht an Augenzeugenberichten, Wochenschauen, privaten Fotos von Soldaten und Zuschauern, offiziellen wie inoffiziellen, und einige dieser Dokumente sind zu Symbolen geworden und prägen das Bild von Lwiw über die Grenzen der Stadt hinaus: Ich denke da an das Filmmaterial der Wochenschau über die Ausgrabung der Leichen im Lonzki- und im Brygidki-Gefängnis, die Fotografien vom Pogrom in der Zeit vom 1. bis 3. Juli 1941, vergleichbar mit dokumentarischen Aufnahmen aus Kaunas zur gleichen Zeit.
Die Spuren dieser Ereignisse verbleiben in der Textur der Stadt – einige von ihnen sichtbar, während andere erst noch entdeckt werden müssen. Ich möchte nur einige davon nennen:
Die polnischen oder jiddischen Inschriften an den Wänden ehemaliger Geschäfte. Der alte jüdische Friedhof – ausgelöscht von den Deutschen. Das „maurische“ Krankenhaus an der Rappoport-Straße; die Lücke, die die von den Deutschen gesprengte Goldene-Rosen-Synagoge hinterlassen hat; die Jakob Glanzer Schul, die umfunktioniert und jahrzehntelang als Sporthalle zweckentfremdet wurde; die Hinrichtungsstätte Piaski im heutigen Industriegebiet Janowska.
Der Lytschakiwski-Friedhof, eine der größten Nekropolen einer mitteleuropäischen Großstadt: mit den Gräbern berühmter Ukrainer – Iwan Franko, Salome Kruschelnytska, Olha Kobylianska –, polnischer Familien und „polnischer Adler“, aber auch von Kommandanten der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) wie Roman Schuchewitsch und Mitgliedern der Himmlischen Hundertschaften, die auf dem Maidan und im Donbas ihr Leben ließen.
Der Prunk der Paläste der polnischen Aristokraten, der Jugendstilvillen von Julian Zachariewicz in der Nowy Świat Straße und die konstruktivistischen Gebäude der Zwischenkriegszeit.
Und natürlich die Pracht von Klein Wien, das Opernhaus (Zygmunt Gogolewski), das Gebäude des Sejm, heute die Iwan-Franko-Universität.
Die Stadt der deutschen Besatzung, der Hotels, der Haftanstalten und Vergnügungsstätten, der Gestapo, der Kinos.
Die Stadt der Sowjetisierung – ehemalige Lenin-Denkmäler, die heute abgerissen oder umgewandelt werden, und Industrieanlagen, wie die berühmte Lwow-Bus-Werk mit seinen Tausenden von Arbeitern.
Das Einwohnerverzeichnis von Lemberg/Lwów/Lwow/Lviv liest sich wie eine Art Who is Who der europäischen Moderne, mit Adressen von Schriftstellern wie Joseph Roth, den Gründern der Lemberger mathematischen Schule, Hugo Steinhaus und Stefan Banach, dem weltbekannten Ökonomen Ludwig von Mises, von Schriftstellern wie Józef Wittlin, Dichtern wie Zbigniew Herbert, dem Memoirenschriftsteller Aleksander Wat, dem luziden marxistischen Theoretiker Roman Rosdolsky, dem Symbol des jüdischen Internationalismus, Karl Radek, von Pionieren des Völkerrechts wie Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin, dem Erfinder des Begriffs „genocide“ („Völkermord“), von Mychajlo Hruschewskyj, dem Begründer der modernen ukrainischen Geschichtsschreibung, Ludwik Fleck, dem Begründer der modernen Geschichte des wissenschaftlichen Denkstils, und nicht zuletzt von Metropolit Andrej Scheptyzkyj, der in einer Zeit Juden rettete, als andere mit den Deutschen kollaborierten. Für beide – Andrej Scheptyzkyj und Stepan Bandera – wurden in den letzten zehn Jahren neue Denkmäler errichtet.
Bei der Kartierung der Schichten der Stadt, bei der Lektüre des Who is Who ihrer Bewohner erkennt man Aufstieg und Fall der europäischen Zivilisation in den Schütterungszonen Mitteleuropas. Die Bühne dessen, was wir als Lemberger/Lwiwer Moderne kennen, und Lemberg/Lviv als Abgrund für den tiefen Fall Europas. Würde man die Fragmente ausgraben, sammeln und zu einem Mosaik zusammenfügen, ergäbe sich ein Puzzle und eine Topographie, einzigartig, aber gleichzeitig durchaus kennzeichnend für das, was in dieser Region geschah, was ihr widerfuhr.
Zweitens: Komplexität, Stärke und Verletzlichkeit
Lwiw, Galizien, die Westukraine ist nur eine Region in diesem zweitgrößten Land Europas. Die Ukraine, das Grenzland Europas, ist ein Europa en miniature. Die Ukraine ist vielleicht das vielfältigste Land des Kontinents – in historischer, kultureller, ethnischer, sprachlicher und religiöser Hinsicht. Nehmen wir Odessa, den Porto Franco am Schwarzen Meer, die griechische, jüdische, internationale Gemeinde, in denen Russisch gesprochen wird. Nehmen wir Wolhynien, das so nachhaltig von den ukrainisch-polnischen Beziehungen und der Last des Bürgerkriegs während des Zweiten Weltkriegs (Alfred Rieber) geprägt ist. Nehmen wir Winnyzja oder Tschernihiw, die weiten Ebenen des Schwarzerdegebiets. Nehmen wir Charkiw, die erste Hauptstadt der sowjetischen Ukraine, in den 1920er Jahren Zentrum der ukrainischen Moderne und inmitten eines Landstrichs gelegen, der vom Holodomor verheert wurde. Nehmen wir das Herzland der Industrialisierung des Russischen Reiches und der Sowjetunion, den Donbas, die wohl am stärksten sowjetisch geprägte Region. Nehmen wir die Steppe entlang des Dnipro, die den Ausgangspunkt für das Kosaken-Hetmanat bildete. Nehmen wir Uman, das jedes Jahr aufs Neue zum Ziel hunderttausender orthodoxer jüdischer Pilger aus aller Welt wird, in einer Region, die bis zum Holocaust die Heimat des osteuropäischen Judentums war. Nehmen wir Tscherniwzi und die Bukowina oder Transkarpatien mit ihren rumänischen und ungarischen Gemeinden.
Und last but not least: Nehmen wir Kiew, die „Stadt der Städte“, das Zentrum der mittelalterlichen Rus und das Zentrum einer neuen Ukraine jenseits der Trennlinie zwischen Ost und West. Die Vielfalt der Städte und Regionen zeigt die Stärke, aber auch die Gefahr der Fragmentierung. Auf dem Territorium der Ukraine überschneiden sich die Erfahrungen und Traditionen der polnisch-litauischen Rzeczpospolita, des Russischen/Sowjetischen Reiches, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches. Die Herausforderung, der sich jede ukrainische Regierung zu stellen hat, liegt klar auf der Hand: dieses reiche und vielfältige Ensemble zum Klingen zu bringen, zu integrieren und einzubeziehen, und zwar unter den Bedingungen der Loslösung vom sowjetischen Erbe – politisch, wirtschaftlich, kulturell und mental. Vielleicht bin ich ja zu naiv, aber ich sehe keine wirklich ernsthaften Minderheitenprobleme – den Krimtataren ist kulturelle Autonomie zugebilligt worden. Ich sehe auch keine ernsthaften Sprachprobleme – die Ukraine ist mehr oder weniger ein zweisprachiges Land, einschließlich einer dritten Sprache – des Surschyk –, und könnte Vorbild für andere europäische Gesellschaften sein.
Das drängendste Problem – auch 30 Jahre nach der Unabhängigkeit – sind meines Erachtens die Auswirkungen der sowjetischen Tradition, die Entsowjetisierung in nahezu allen Bereichen, die Entwicklung und feste Verankerung zivilgesellschaftlicher Institutionen und – vor allem – staatsbürgerlicher Routinen und Praktiken im Alltag. Die große Kluft oder gar der Widerspruch besteht meiner Meinung nach nicht zwischen Ukrainern und Russen oder Ukrainischsprachigen und Russischsprachigen, zwischen Ost und West, sondern zwischen Alt und Neu, zwischen der alt-neuen Klasse einer sowjetischen und postsowjetischen Form der Oligarchie und einer Gesellschaft einfacher Bürger, die nicht weniger wollen als ein „normales Leben“.
Der an sich schon hochkomplexe Transformationsprozess vollzieht sich unter extrem schwierigen Bedingungen: der Intervention Russlands, einer revisionistischen Macht, die außerstande ist, sich von ihrer imperialen Tradition zu lösen. Eine Transformation unter den Bedingungen eines – offen geführten oder nicht erklärten – Krieges mit mehr als 12.000 Toten in fünf Jahren, Zivilisten und Militärangehörigen, und rund 2 Millionen Binnenflüchtlingen, eines Krieges, der das am stärksten industrialisierte Gebiet des Landes in ein Trümmerfeld verwandelt, es entvölkert und verwüstet hat.
Ich finde es erstaunlich, wie weit die Ukraine trotz dieser zerstörerischen Bedingungen bereits mit der Umsetzung der großen Reformen vorankommen ist und weiter vorankommt. Trotz der Korruption und gegen die Korruption: das große Projekt der Landreform mit dem Ziel, die Ukraine wieder zur Kornkammer nicht nur Europas zu machen. Der Bauboom ist – wie ich nicht nur in den Großstädten beobachte – beeindruckend und hat bisweilen schon erheblichen Schaden an der alten Architektur und den Silhouetten der Städte (etwa in Kiew) angerichtet. Der Boom der IT-Branche. Und ebenfalls sichtbar: Migranten, die überall unterwegs sind, Millionen, die jedes Jahr die Grenze überschreiten, im Ausland ihr Geld verdienen, während gleichzeitig zu Hause, wo qualifiziertes Personal und Kompetenzen für die Modernisierung dringend gebraucht würden, die Arbeitskräfte fehlen; man könnte das als massenhafte und alltägliche Europäisierung bezeichnen, jedoch mit überaus negativen Nebenwirkungen. Ich möchte dies erwähnen, um deutlich zu machen, dass wir bei der Diskussion von Problemen der Vergangenheit in Ostmitteleuropa und der Ukraine die „Geschichte der Gegenwart“ nicht aus den Augen verlieren.
Drittens: Reflexion und Selbstreflexion
Die Ukraine wird ihren Weg gehen, mit unseren Ratschlägen oder ohne sie. Aber wissen wir überhaupt, welchen Weg wir, die anderen Europäer, gehen? Eine Art Ukraine-Müdigkeit hat sich überall in Europa breitgemacht. Europa scheint mit anderen, vermeintlich wichtigeren Problemen beschäftigt zu sein: Klimawandel, Dieselaffären, Zuwanderung, Syrien. In den Augen vieler Menschen macht die Ukraine zu viel Ärger, kann ihre eigenen Probleme nicht lösen und schafft Probleme für andere. Viele haben dabei vergessen oder ignorieren, dass die Orange Revolution und der Maidan die Fortsetzung einer Bewegung waren, deren 30. Jahrestag wir dieser Tage feiern – vor allem in Deutschland.
Die Versuchung, die neuen Realitäten zu ignorieren, ist übermächtig, und der Wunsch, in der Komfortzone zu verharren und den Traum von einem Europa jenseits der neuen Realitäten weiterzuträumen, ist zuweilen alarmierend. Realität bedeutet: Russlands andauernder Krieg gegen die Ukraine, die Besetzung und Annexion ukrainischen Territoriums, destabilisierende Aktivitäten, die Unterstützung aller Richtungen und Parteien, die eine Auflösung der Europäischen Union anstreben. Russland hat die Europäische Union und den Westen zu Feinden erklärt und handelt entsprechend: Cyberkrieg, Einmischung in den politischen Prozess anderer Länder, körperliche Übergriffe auf Menschen im Ausland, militärischer Druck und Provokationen. Europa, oder allgemeiner gesprochen: der Westen, ist in einer denkbar schlechten Verfassung. Angst liegt in der Luft.
Die Bereitschaft, sich auf Kompromisse und „Deals“ einzulassen, wächst – natürlich im Namen der „Realpolitik“. Im Kontext der deutschen Geschichte bedeutet dies, sich wieder mit Russland zu arrangieren und die Interessen der Nachbarn Deutschlands auf die leichte Schulter zu nehmen; das hat lange Tradition, von Bismarck bis zum Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die Gefahr, dass die Sanktionen gegen den Aggressorstaat Russland aufgehoben werden, nimmt zu, die Glaubwürdigkeit der deutschen Loyalität gegenüber der Ukraine ist strittig und zweifelhaft, seit die Bundesregierung die Position vertritt, Nord Stream 2 sei ein „rein kommerzielles“ Projekt, was offensichtlich nicht stimmt und irreführend ist und die Einheit der Länder, die die Sanktionen befürworten, untergräbt. Dass ein ehemaliger Bundeskanzler, Gerhard Schröder, Putins Mann in Deutschland, als wichtigster Lobbyist für Russlands Staatsunternehmen auftritt und seinen persönlichen Aufstieg mit hochrangiger Politik zugunsten von Putins Russland verknüpft, ist ein Skandal, aber bislang folgenlos. Nord Stream 2 wird schon bald in Betrieb gehen – und wie soll man das nennen? Einen Deal, Realpolitik oder Verrat? Deutschland scheint stabil zu sein, in Wahrheit aber ist der russische Faktor vorhanden und wirksam: Über die Parteigrenzen hinweg gibt es eine Mehrheit für „Frieden und Aussöhnung mit Russland“ um jeden Preis. Eine Aufhebung der Sanktionen wird von der rechten AfD ebenso befürwortet wie von der Linken, aber auch von einigen Ministerpräsidenten der Bundesländer (Christdemokraten und Sozialdemokraten gleichermaßen) und natürlich der Finanz- und Geschäftswelt unterstützt, die zum Busines as usual zurückkehren will. Wir sollten aber auch die russischsprachige Community in Deutschland nicht vergessen, der viele Menschen mit russischem Pass angehören, die zeigen, dass ihre Loyalität eher Putin als Merkel gilt (ähnlich wie deutsch-türkische Bürger, die bei Wahlen vorzugsweise für Erdogan stimmen).
Ich denke, es ist eine Illusion, darauf zu hoffen, dass Putin, ein Mann, dessen persönlicher und politischer Erfolg und dessen Schicksal an Aggression gebunden ist, um an der Macht zu bleiben, sich zurückziehen und den Weg zum Frieden bereiten kann. In diesem Zusammenhang bin ich überzeugt, dass die so genannte Steinmeier-Formel wie auch das Minsk-II-Abkommen Fallen sind, die keine Wege zur Lösung der so genannten „Ukraine-Krise“ eröffnen. Ob sich neue Wege beschreiten lassen, hängt davon ab, was in Moskau geschieht, d.h. wann sich die russische Gesellschaft von ihrer imperialen Tradition löst, einen Weg aus der Isolation findet und zu einem modernen Land wird – ein Prozess, der, wie wir vom Fall der Ukraine wissen, noch komplexer und gefährlicher sein und nicht ohne Gegenreaktionen ablaufen wird. Alles wird davon abhängen, was vor Ort geschieht – sowohl in Moskau als auch in Kiew. Wir müssen abwarten und wir müssen den Ukrainern gegenüber loyal bleiben, denn indem sie ihre Freiheit verteidigen, verteidigen sie auch unsere Freiheit. Dafür zu sorgen, dass die Ukraine nicht abermals von der geistigen Landkarte der Europäer verschwindet, wird eine der vordringlichsten Aufgaben einer europäischen Öffentlichkeit sein, um nicht nur die Ukraine, sondern auch uns selbst zu schützen.
Karl Schlögel, Berlin im Oktober 2019
Übersetzung aus dem Englischen: Steffen Beilich