Sofia Dyak

Foto: Iryna Sereda

„In diesen Tagen denke ich oft an Lviv im Jahr 1939“

Im Interview erläutert Sofia Dyak, Direktorin des Center for Urban History im ukrainischen Lviv, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine das Leben an ihrem Institut und in der Stadt verändert hat.

Das Center for Urban History und die Körber-Stiftung haben in den vergangenen Jahren gemeinsam internationale Projekte und Gesprächskreise organisiert und arbeiten auch jetzt in Zeiten des Krieges weiter zusammen.

Ein sorgsam renoviertes Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert ist die Heimat des Center for Urban History in der westukrainischen Stadt Lviv. Bis zum 24. Februar, dem Tag, an dem Russland sein Nachbarland Ukraine überfiel, war das Center ein Ort intellektueller und gesellschaftlicher Begegnung. Ein Ort für all diejenigen, die sich für die Geschichte der Stadt Lviv interessieren – einer Stadt, in der sich polnische, jüdische ukrainische, österreich-ungarische, russische und sowjetische Vergangenheitenüberlagern.

Seit 2010 leitet die Historikerin Sofia Dyak das Center for Urban History. Vor dem 24. Februar 2022 waren ihre Tage und die ihres Teams gefüllt mit dem Nachdenken und Schreiben über die Geschichte ihrer Stadt, in den Räumen des Instituts fanden Seminare, Vorträge und Veranstaltungen zum Thema public history statt. Gemeinsam entwickelte das Team Digitalprojekte wie Lviv Interactive und das Urban Media Archive, eine digitale Enzyklopädie und ein Digitalarchiv zur Geschichte der Stadt.

Der Krieg, der am 24. Februar began, hat alles verändert. In einem Video-Gespräch einige Tage nach dem Beginn der russischen Invastion erläutert Sofia Dyak, wie sich ihr eigenes Leben, aber auch das Leben am Institut und in der Stadt mit dem Ausbruch des Krieges verändert haben.

Wie haben Sie die ersten Tage nach dem Beginn des Krieges verbracht?

Sofia Dyak: In den ersten beiden Tagen war ich vollauf damit beschäftigt, mich um die Menschen zu kümmern, die mir nahestehen und für die ich verantwortlich bin. Natürlich die alten Eltern, aber auch mein Team hier am Institut. Wir haben zum Beispiel die Auszahlung der Gehälter vorgezogen, damit unsere Mitarbeiter:innen Geld zur Verfügung hatten.

Die ganze Situation fühlte sich für uns surreal an. Von einem Tag auf den anderen lebten wir im Krieg. Sirenen, Menschen in Schutzräumen, Ausgangssperren am Abend und in der Nacht. Plötzlich war das unsere neue Wirklichkeit. Natürlich ist die Situation in den östlichen und südöstlichen Teilen der Ukraine und in der Hauptstadt Kiew viel dramatischer, aber der Krieg ist im ganzen Land zu spüren, auch in Lviv.

Wie hat der Krieg den Alltag und das Leben am Center for Urban History verändert?

Unser Institut war schon immer ein Ort der Begegnung für Menschen mit unterschiedlichen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, nationalen und intellektuellen Zugehörigkeiten. Ganz ähnlich wie auch unsere Stadt Lviv: eine Stadt mit sehr vielschichtigen, komplexen Vergangenheiten, oft miteinander verwoben, schwer greifbar, aber doch immer einladend und offen. Als der Krieg begann, kamen Menschen aus anderen Teilen der Ukraine in die Stadt und in unser Institut. Journalisten waren darunter, die aus Kiew vor den russischen Angriffen fliehen mussten, aber auch ein ganzes Team des Ukrainischen Instituts, einer staatlichen Organisation, die sich normalerweise mit Kulturvermittlung und cultural diplomacy beschäftigt. Darüber hinaus kamen auch andere Intellektuelle, oder einfach Menschen aus den Schutzräumen, die bei uns Unterschlupf suchten. Das heißt, wir sind immer noch ein Ort der Begegnung, allerdings unter radikal geänderten Vorzeichen. Wir tun, was wir können, um so viele Menschen wie möglich aufzunehmen. Wir nutzen unsere Wohnungen, die normalerweise Gastwissenschaftler:innen zur Verfügung stehen, nun für diejenigen, die aus anderen Gebieten der Ukraine fliehen und ihr Hab und Gut dort zurücklassen mussten. Unseren Veranstaltungsraum haben wir zu einer Art Schlafsaal umfunktioniert.

Welche anderen Auswirkungen hat die aktuelle Situation auf Sie und Ihr Team?

Zum großen Teil sind wir Historiker:innen und Sozialwissenschaftler:innen, ein lebendiges, sehr kreatives Team, das für seine Arbeit brennt. Jetzt ist Lviv eine Stadt voller ukrainischer Geflüchteter. Es ist ein Ankunftsort für diejenigen, die aus dem Süden, Osten, Südosten oder aus den mittleren Teilen des Landes fliehen müssen. Lviv ist ein Durchgangsort für diejenigen, die sich in Richtung Westen in Sicherheit bringen wollen, beispielsweise in Polen. Aber die Stadt ist eben auch ein Ort für diejenigen, die ihr Land nicht verlassen wollen oder können, die aber trotzdem Unterstützung brauchen. Deshalb kümmern wir uns natürlich um all diejenigen, die zu uns in das Center for Urban History kommen. Aber Freiwillige aus unserem Team helfen auch an anderen Orten der Stadt. Sie verteilen Essen und Getränke auf dem Bahnhof an die Ankömmlinge aus anderen Teilen des Landes und an die Weiterreisenden nach Polen und in andere Nachbarländer der Ukraine. Wir bieten an, den Menschen zuzuhören, die uns erzählen möchten, was sie in diesem Krieg gesehen und erlebt haben. Wir setzen uns zu ihnen in den Schutzräumen, hören zu und helfen, wo immer wir gebraucht warden.

Welche Rolle spielt ihr Beruf als Historikerin für Ihre Wahrnehmung des jetzigen Krieges?

Vieles aus der Geschichte klingt in meinem Inneren in diesen Tagen an. So denke ich beispielsweise sehr oft an die Ereignisse und das Leben in Lviv im Jahr 1939. Als die Sowjetunion im September 1939 die damals polnische Stadt Lwow unter den Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Pakts besetzte, lebten hier 100.000 jüdische Menschen, die aus dem deutschen Besatzungsgebiet in Polen geflohen waren. Eine Stadt, voll mit Geflüchteten, Teil der „sowjetischen Einflusszone”, ein Krieg, der gerade begonnen hatte. Dies alles lässt mich viel über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachdenken. All diese Gewalt, die sich damals plötzlich Bahn brach, all diese Gewalt, die wir jetzt sehen. Ich denke auch darüber nach, wie wir mit diesem aktuellen Krieg in Zukunft als Historiker:innen umgehen können. Momentan sind wir mittendrin in einem Krieg des 21. Jahrhunderts, müssen unsere Souveräntät verteidigen, unsere Leben retten und einfach nur überleben. Aber trotzdem müssen wir als Historiker an die Zukunft denken.

Wie meinen Sie das?

Ich glaube, wir müssen bereits jetzt darüber nachdenken, wie wir die Geschichte dieses Krieges in Zukunft schreiben werden. Das bedeutet, dass wir bereits jetzt Material und zukünftige Quellen sammeln müssen. Damit sind natürlich viele komplexe Fragen verbunden, Fragen moralischer und ethischer Art. Aber ich bin überzeugt, dass wir unsere humanitäre Hilfe und die Unterstützung, die wir jetzt hier vor Ort anbieten, mit unserem Beruf und unserer Berufung als Historiker in Einklang bringen sollten. Wir müssen Ereignisse und Geschichten aus diesem Krieg für zukünftige Generationen dokumentieren. In manchen Fällen kann eine solche Dokumentation unter Umständen in Zukunft auch dabei helfen, Kriegsverbrechen aufzuklären.

Wie betrifft Sie die aktuelle Situation in der Ukraine persönlich? Welche Pläne haben Sie?

Ich werde in Lviv bleiben, so lange das möglich ist. Ich habe nicht vor, die Stadt zu verlassen. Das Center for Urban History und sein Team werden gerade jetzt besonders gebraucht hier vor Ort. Und, was mich persönlich betrifft, habe ich im Vergleich zu vielen anderen Menschen in der Ukraine, keinen Grund zur Klage. Ich habe ein wunderbares Team um mich herum, ich habe eine Familie, die mir sehr nah steht und um die ich mich kümmere, ich habe ein Dach über dem Kopf. Wir helfen hier denjenigen, die anderswo ihr Hab und Gut verloren haben, deshalb werde ich bleiben.

Was können Menschen in anderen Ländern tun, um die ukrainische Zivilgesellschaft jetzt in Zeiten des Krieges zu unterstützen?

Jeder und jede sollte das tun, was möglich ist. Demonstrieren, spenden, sich ehrenamtlich engagieren, Geflüchteten helfen. Briefe und Petitionen an politische Vertreterinnen und Vertreter schreiben, um das Leidender zivilen Opfer in diesem Krieg zu beenden. Es braucht Wege, um ukrainische Städte zu schützen, in denen Menschen getötet werden und die vor einer humanitären Katastrophe stehen. Kriege betreffen alle Menschen, nicht nur diejenigen, die direkt angegriffen werden. Werdet in Eurem Umfeld aktiv, geht raus aus Eurer Komfortzone und durchbrecht Eure üblichen Routinen. Wir haben es mit einem Krieg zu tun, wie wir ihn in Europa seit 1945 nicht kannten.

Interview: Gabriele Woidelko

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