Gedanken zum Krieg
Seit dem militärischen Angriff Russlands herrscht in der Ukraine der Ausnahmezustand. Andrii Fert koordiniert von Kiew aus ein Kooperationsprojekt von DVV International und Körber-Stiftung. Seine Gedanken zum Krieg teilte er kurz nach Kriegsausbruch über Facebook. Wir veröffentlichen sie in Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.
Die Körber-Stiftung ist über EUSTORY langjährig mit Partner:innen aus der Ukraine verbunden. Seit 1997 organisiert die ukrainische NGO Nova Doba im Rahmen des EUSTORY-Netzwerks einen Geschichtswettbewerb für Schüler:innen im Land. Seit dem Jahr 2017 ist Nova Doba einer von 11 lokalen Partner:innen in einem großen Kooperationsprojekt von DVV International und der Körber-Stiftung, das mit finanzieller Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amts Geschichtswettbewerbe in Belarus, Georgien, Moldawien, der Ukraine und jüngst auch in Armenien organisiert.
Der Historiker Andrii Fert arbeitet als Projektkoordinator dieser Allianz im Regionalbüro Östliche Partnerschaft des DVV International in Kiew. Wir veröffentlichen seinen Text in Solidarität mit allen unseren Partner:innen und den Menschen in der Ukraine.
Gedanken zum Krieg
Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle der letzten Tage und auch die momentanen zu beschreiben. Vor einigen Wochen noch war das einzige, woran ich denken konnte, mein anstehender TOEFL Test. Gestern sah ich ein Foto der Straße in der Nähe des Testzentrums – ausgebrannte russische Fahrzeuge und Blutspuren überall. Ich selbst ging noch vor acht Tagen diese Straße entlang.
Der Stadtteil von Kiew, in dem ich aufgewachsen bin – Obolon, mein geliebtes Obolon, fußgängerunfreundlich, so melancholisch mit seinen endlosen sowjetischen Plattenbauten, und trotzdem mein geliebtes Zuhause – stand unter Beschuss der Angreifer. Nicht weit von dem Archiv entfernt, in dem ich noch vor einem Monat sowjetische Berichte über Religion gelesen habe, wurde eine Familie erschossen.
Es gibt keine Worte, um dies zu beschreiben. Eine Woche vor dem Krieg habe ich einen Sammelband gelesene, „Mottled Dawn“. Geschrieben von einem Mann, der nach der Teilung aus Bombay fliehen musste, sind diese Geschichten denen er begegnet oder von denen ihm berichtet wurde, voll von haarsträubenden Gräueln, die der Krieg und das gegenseitige Abschlachten mit sich brachten. Die Geschichten sind in einer so emotionslosen und berichtsartigen Sprache geschrieben, dass mir das Lesen unangenehm, ja sogar peinlich war. Aber jetzt merke ich, dass eine solche Sprache die geeignetste Art ist, über solche Schrecken zu sprechen.
An jenem grauen Morgen in Kiew hörte ich keinen Granateneinschlag und keinen Alarm, sondern nur eine Explosion aus der Ferne. Doch das reichte aus. Ich hatte weder Bargeld noch einen Plan. Meine Mutter und meine Schwester setzten sich in ihr Auto und flohen. Die Angst lähmte mich. Ivan, mein Partner, führte mich zum Bahnhof, bestach den Schaffner und kümmerte sich darum, dass auch wir fliehen konnten. Meine Hände zitterten. Mein erster Gedanke war, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Aber während der Zug uns nach Westen brachte, wurden die Grenzen geschlossen. Und jetzt, in der relativen Sicherheit eines westukrainischen Dorfes, sollte ich mich dafür schämen, dass die geschlossenen Grenzen und nicht der Patriotismus mich dazu gebracht hatten, in der Ukraine zu bleiben? Sollte ich mich selbst dafür hassen, dass ich meine Heimat verlassen habe? Ein Freund von mir sagt, alles sei entwertet worden. Das ist es wirklich. Meine Arbeit ist jetzt nutzlos, mein Wissen auch. Wer braucht schon Historiker, wenn Bomben auf unsere Städte regnen? Ich habe noch nie in meinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten; die Kurse dazu in der Schule habe ich stets ignoriert. All dieses Gerede, ihr männliches Gerede, haben mich angewidert. Aber heutzutage, wozu könnten diese Fähigkeiten gut sein. Ich habe Angst, solche Angst, vor dem Tod, vor Schmerzen, vor möglichen Verletzungen – davor eine Waffe in die Hand zu nehmen. Und gleichzeitig habe ich – aus Faulheit und Bequemlichkeit – nach dem achten Fliegeralarm aufgehört, mich zu verstecken.
Ich vermisse bereits jetzt die kleinen Dinge, die mich zu mir gemacht haben: unsere kleinen Gespräche, ein Kaffee in einem netten Café in der Nähe der St. Michael-Kathedrale, lange einsame Spaziergänge von der Kostelna Straße zum Podil, meinen ständig wachsenden Bücherstapel, mein wunderbares Büro mit Blick auf den Maidan, den Geruch alter und schlecht erhaltener Archivakten. Aber vor allem vermisse ich die Welt von gestern. Eine Welt, in der ich für mein dummes kleines Leben verantwortlich war. Eine Welt, in der ich lesen, den ganzen Tag lang Strom verbrauchen, mich mit selbstironischen Gedanken oder Kaffee begnügen, Musik hören und ins Bett gehen konnte, wann immer ich wollte. Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt muss man seine Ängste überwinden und etwas tun.
Mehr Informationen zu den Projektaktivitäten des Kooperationsprojekts gibt es hier.