Russland kann Demokratie

Foto: David Ausserhofer

Russland kann Demokratie

Russlands Weg vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts

Von Michail Chodorkowski

Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine zeigt: Sein Regime wird untergehen. Ob in einem oder in fünf Jahren, kann ich nicht sagen. Klar ist aber, dass dieser Krieg Kräfte freigesetzt hat, die einen Machtwechsel herbeiführen werden. Kann Russland ein Rechtsstaat werden und bereitet sich die demokratische Opposition darauf vor? Wir müssen uns der bitteren Realität stellen, dass friedliche Demonstrationen allein das brutale Regime Putins nicht stürzen werden und dass Putin auch nicht durch Wahlen abgelöst werden kann.

Deshalb habe ich in Jewgeni Prigoschins Putschversuch im Juni 2023 eine Chance gesehen. Nicht aus Zuneigung zu einem Mann, der so wie Putin ein Verbrecher und Mörder war. Aber die politische Krise im Zuge seiner Meuterei hätte den Sturz des Regimes herbeiführen können. Die Ermordung Prigoschins und seiner Verbündeten hat gezeigt, wie unzufrieden das Militär mit Putin ist und wie schwach sich das Regime fühlt, als es nicht wagte, Prigoschins Anhängern den Prozess zu machen.

Veränderungen kann nur von denen kommen, die hier die Lücken im System ausnutzten. Es wird zu neuen Spaltungen im System Putin kommen und darauf muss sich die demokratische Opposition vorbereiten, denn Leute wie Prigoschin werden Russland nicht demokratisch machen. Deswegen müssen wir das Regime absetzen und unsere demokratischen Interessen mehr denn je verteidigen. Nur so können wir ernsthaft Grundlagen für einen Systemwechsel schaffen.

Der Sturz Putins ist die Voraussetzung für eine russische Demokratie, aber wir brauchen auch eine Vorstellung davon, was danach kommt. Ein Zerfall Russlands wäre ein schwerer Fehler. Russland darf nicht in Kleinstaaten zerfallen, die über Atomwaffen verfügen und von lokalen Kriminellen wie Ramsan Kadyrow in Tschetschenien beherrscht werden. In einem solchen Fall könnte ein neuer Autokrat an die Macht kommen, der das russische Imperium wiederherstellen will, und der entstehende militaristische und expansionistische Staat würde sich erneut gegen die Ukraine und den Westen wenden.

Putin darf aber auch nicht durch einen „guten Zaren“ ersetzt werden. Ein neuer starker Mann mit zentralisierter Macht würde bedeuten, dass Russland seinen Weg der Korruption, Stagnation und Unterdrückung im Innern und des Expansionsstrebens nach außen fortsetzt.

Deshalb unterstütze ich die Idee, eine demokratische parlamentarische Bundesrepublik zu schaffen. Wir brauchen eine von den Regionen Russlands getragene Bündnisstruktur und kein System, in dem ein starker Zar mit seiner Zentralmacht kleine Zaren in der Peripherie ermächtigt.

Einer der größten Verluste Putins ist der Exodus vieler der besten und klügsten Köpfe Russlands. Aber unsere Exilanten sind ein Schatz an potenziellen Revolutionär:innen, die – befreit von der Unterdrückung eines Polizeistaates – die Kraft haben, Russland in eine Demokratie zu verwandeln. Die Opposition im Ausland muss daher als politische Vertretung der Teile der russischen Gesellschaft anerkannt werden, die gegen Putin und gegen den Krieg sind. Dies würde dazu beitragen, dass oppositionell denkende Bürger:innen Russlands eine Stimme erhalten und auf das Bestehen eines alternativen Machtzentrums hinweisen.

Deutschland sollte die Entstehung einer Koalition der russischen Opposition konsequent unterstützen, statt dafür zu sorgen, dass verschiedene Kräfte durch den Konkurrenzkampf um finanzielle Unterstützung zersplittert bleiben.

Um die demokratische Opposition in Russland zu stärken, muss der Westen seine Sanktionen intelligenter gestalten. Eine selektive Aufhebung der Sanktionen, zum Beispiel durch die Vergabe von Visa, könnte den Kampf gegen das Regime in Moskau fördern. Gleichzeitig darf es keinerlei Toleranz gegenüber Russ:innen geben, die in Europa leben wollen, sich aber nicht von Putins Regime distanzieren.

Ich bin der Meinung, dass ein Ende der Diskriminierung russischer Bürger:innen, die sich vom Putin-Regime distanziert haben, der Kreml-Propaganda den Wind aus den Segeln nehmen würde und dazu beitragen könnte, dass weitere Teile der russischen Gesellschaft dem Regime ihre Unterstützung entziehen.

Deutschland sollte seine engen Beziehungen zur russischen Gesellschaft nutzen und darauf hinwirken, dass sich auch die US-Politik bewegt. Das bedeutet Beziehungen zu regionalen Eliten, Vertreter:innen des Militärs und der Verwaltung aufzubauen. Deutschland muss erkennen, dass Russland ein untrennbarer Teil Europas ist und durch keine Mauer der Welt zu isolieren ist. Russland bleibt für immer ein großes Problem Europas oder wird Teil der Lösung der Probleme Europas.

Im April 2023 haben viele Mitglieder der russischen Opposition die Erklärung der Demokratischen Kräfte Russlands unterzeichnet und den Westen zur Zusammenarbeit aufgerufen. Es ist wichtig, dass Putin-Regime zu bekämpfen, aber ebenso wichtig ist es, die Kräfte in der russischen Gesellschaft zu unterstützen, die den Imperialismus dieses Regimes ablehnen und es durch eine Demokratie ersetzen wollen. Ein demokratisches und rechtsstaatliches Russland ist möglich, aber wir dürfen uns vor den Schritten, die es möglich machen nicht fürchten.

Eine gekürzte Version dieses Artikels ist am 27. November im Tagesspiegel erschienen.

Foto: Anastasia Khodorkovskaya

Michail Chodorkowski ist einer der Gründer des russischen Antikriegskomitees, ehemaliger politischer Gefangener, Geschäftsmann und Aktivist.