Europa braucht Deutschlands Führung

Foto: Mohamed Mekhamer

Europa braucht Deutschlands Führung

Als Exportnation hängt unser Wohlstand von der Einhaltung internationaler Regeln ab. Die EU braucht eine gemeinsame Haltung zu China und dem globalen Süden, mahnt Norbert Röttgen.

Von Norbert Röttgen

Anders als wir haben unsere europäischen Nachbarn längst verstanden, dass die Europäische Union ohne Deutschland kein geopolitischer Akteur werden wird. Solange wir nicht bereit sind, hier Führung zu übernehmen, wird diese dringend notwendige Weiterentwicklung der EU nicht stattfinden. Für Deutschland ist dies nicht nur eine Frage der Sicherheit. Als Exportnation hängt auch unser Wohlstand davon ab, dass internationale Regeln gelten und eingehalten werden. Aber die regel-basierte Ordnung zerfällt momentan in atemberaubendem Tempo und Europa tut wenig, um diesem Zerfall etwas entgegenzusetzen.

Dabei stellt vor allem die Gleichzeitigkeit und Verwobenheit der aktuellen Krisen eine enorme Herausforderung dar: Russland führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Unterstützt wird es dabei von der Islamischen Republik Iran, die auch Chinas enger Partner ist. China ist de facto Putins Verbündeter und hat die globale Ambition ist die internationale Ordnung fundamental zu verändern. Und die Islamische Republik Iran unterstützt nicht nur Russland, sondern hat durch Geld, Waffen und Training auch den beispiellosen Terror der Hamas gegen Israel ermöglicht.

In dieser Situation könnte die Verteidigung der von Russland angegriffenen europäischen Friedensordnung und ein langfristiges Engagement in die Stabilität des Nahen- und Mittleren Ostens Grundlage einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik darstellen. Aber wir sind weit davon entfernt, dass dies Wirklichkeit wird. Denn es gibt keinen europäischen Konsens darüber, weitere Kompetenzen an Brüssel zu übertragen, um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und umzusetzen. Nichts deutet darauf hin, dass sich dies in näherer Zukunft ändert – zu weit liegen die Positionen der Mitgliedstaaten auseinander.

Um uns aus dieser Sackgasse zu befreien, plädiere ich dafür, dass sich Mitgliedstaaten zusammentun, die willens und in der Lage sind, eine gemeinsame europäische Außenpolitik anzustoßen. Als Brücke zwischen Ost und West halte ich Deutschland für besonders geeignet, unterschiedliche Mitgliedstaaten zusammenzubringen. Offen für alle und in enger Abstimmung mit den EU-Institutionen würden diese Staaten sich nicht nur auf einen Politikansatz einigen, sondern ihn auch gemeinsam umsetzen. Ein Vetorecht gäbe es zwischen diesen Staaten dann nicht mehr.

Damit Europa sein wirtschaftliches und politisches Gewicht international stärker in die Waagschale werfen kann, ist ein gemeinsamer europäischer Ansatz gegenüber China entscheidend – eng abgestimmt mit den USA. Dabei geht es auch darum, in unsere eigene Stärke zu investieren, insbesondere im Bereich der Technologieführerschaft. Hier wird sich entscheiden, wer den Systemwettbewerb gewinnt. Obwohl wir in Deutschland und Europa exzellente Wissenschaftler haben, fehlt uns oft die Fähigkeit der USA, wissenschaftliche Innovation in erfolgreiche Produkte zu übersetzen. Ich halte es daher für sinnvoll, diese Fähigkeiten viel stärker zusammenzubringen und unsere Militärallianz, um ein Technologiebündnis zu ergänzen.

Als geopolitischer Akteur müsste Europa vor allem lernen, sich mehr um seine eigene Sicherheit und Nachbarschaft zu kümmern. In unserer südlichen Nachbarschaft erstreckt sich inzwischen ein Band des Terrors und der Instabilität von Westafrika über den Sahel, Iran bis hin zum Irak. Die ganze Region ist entscheidend für die Sicherheit und Stabilität unserer europäischen Gesellschaften und dennoch haben wir keinerlei langfristige Strategie für den Umgang mit den betroffenen Staaten. Die Mittelmeeranrainer und EU-Mitgliedsstaaten, die besonders von irregulärer Migration betroffen sind, sollten zusammenarbeiten und langfristig in die Stabilität der strategisch wichtigsten Länder in Westafrika und im Sahel investieren. Menschen werden nur dann in ihren Heimatländern bleiben, wenn sie dort echte Perspektiven haben.

Das erfordert einen völlig neuen Ansatz an die Gestaltung unserer Beziehungen zum sogenannten Globalen Süden. Wir müssen uns von gut gemeinter, aber bevormundender Entwicklungshilfe verabschieden und Beziehungen auf Augenhöhe schaffen. Unser übergeordnetes Interesse sind Stabilität und Ordnung. Unsere südliche Nachbarschaft darin zu unterstützen, langfristig politisch und wirtschaftlich erfolgreich zu werden, ohne dabei von China abhängig zu werden, wäre somit das Beste für Europa. Dafür müssen wir lernen, mit den Ländern des globalen Südens auf der Grundlage ihrer Wirtschaftsinteressen und nicht zuerst unserer zusammenzuarbeiten. Dabei sollten wir uns auf die riesigen Potentiale dieser Länder im Bereich der erneuerbaren Energien konzentrieren, die wir bisher weitgehend ignoriert haben. Dem Klima wäre so gleich auch noch geholfen.

Dieser Artikel ist am 22.11.2023 auch im Handelsblatt erschienen.

Foto: Jonas Makoschey

Norbert Röttgen ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, den er von 2014 bis 2021 gleitet hat.