Mit Deutschlands Sonderweg in der Russlandpolitik muss Schluss sein
Den an Russland grenzenden Ländern muss Deutschland zeigen, dass es ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Verbündeter ist. Es braucht klare Signale an Russland.
Von Jacek Czaputowicz
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz eine fundamentale Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Entscheidung, das Pipelineprojekt Nord Stream 2 einzufrieren. Diese Schritte waren nicht nur eine Reaktion auf die russische Aggression gegenüber der Ukraine, sondern auch auf eine erhöhte Bedrohungswahrnehmung in der deutschen Gesellschaft. Die Frage ist, ob Deutschland mit diesen Entscheidungen zu spät kam. Wären die Berechnungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin über mögliche Gewinne und Verluste ohne eine Umsetzung der gemeinsamen Energieprojekte mit Deutschland die gleichen gewesen? Würde es überhaupt einen Krieg in der Ukraine geben?
Für Polen ist die Hilfe für die Ukraine eine Verpflichtung, die sich aus dem Völkerrecht, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen ergibt, sowie eine ethische Verpflichtung, basierend auf den europäischen Werten. Für Deutschland ist diese Verpflichtung jedoch nicht so eindeutig. Deutschland behauptet, dass es anders reagiert hätte, wenn Russland ein NATO-Mitglied angegriffen hätte, weil es nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags rechtlich zur kollektiven Verteidigung verpflichtet sei.
Aber würden Deutschlands Zurückhaltung, Putin zu „demütigen“, und die deutsche Sorge, die Tür zu Friedensgesprächen (wie mit der Ukraine) nicht verschließen zu wollen, verschwinden, wenn Russland einen NATO-Mitgliedstaat angreifen würde? Würde Deutschland den angegriffenen Staat bedingungslos verteidigen? Es ist schwer vorstellbar, dass die Angst vor der Atommacht Russland in einem solchen Fall verschwände. Die bisherige deutsche Haltung zur militärischen Unterstützung der Ukraine rechtfertigt diese Skepsis. Folglich verlassen sich Polen und andere mitteleuropäische Staaten mehr auf diejenigen, die der Ukraine diese Art von Unterstützung gewähren. Dazu gehören die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Kanada, die das unveräußerliche Recht der Ukraine auf Souveränität, territoriale Integrität und Selbstbestimmung anerkennen und bereit sind, dafür eine Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Russland in Kauf zu nehmen. Aus der Sicht Polens kämpfen die Ukrainer gleichzeitig für ihre Unabhängigkeit und für die Sicherheit der Europäischen Union. Deutschland sollte den an Russland grenzenden Ländern zeigen, dass es ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Verbündeter ist. Der beste Weg, dies zu tun, wäre die Übernahme einer Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine mit militärischer Ausrüstung.
Die polnische Besorgnis über die Reaktion Deutschlands auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine beschränkt sich nicht auf Regierungskreise. So argumentiert ein Artikel in der überparteilichen Tageszeitung Rzeczpospolita, dass der Anstieg der deutschen Rüstungsausgaben ein Problem sein könnte, weil das Vertrauen in Deutschland seit dem Einmarsch dramatisch gesunken sei. Der Autor stellt auch eine Schlüsselfrage: Will Deutschland wirklich, „dass Russland in Zukunft keine militärische Bedrohung mehr darstellt“?
Die angekündigte Erhöhung der deutschen Militärausgaben ist gut, da sie eine Stärkung der NATO bedeutet. Das Problem ist jedoch nicht die Größe der Streitkräfte, die ein außenpolitisches Instrument sind, sondern die Ausrichtung der Politik. Mit Putin zu telefonieren und einen Frieden in Erwägung zu ziehen, der territoriale Zugeständnisse der Ukraine erfordert, ist ein beunruhigendes Beispiel für die deutsche Doppelzüngigkeit. Die Antwort deutscher Politiker auf dieses Argument – nämlich, dass sie es den Ukrainern überlassen, ob sie kämpfen oder eine Lösung am Verhandlungstisch finden – geht an der Sache vorbei. Die entscheidende Frage ist die Bereitschaft Deutschlands (und der internationalen Gemeinschaft insgesamt), die Ukraine militärisch zu unterstützen, damit sie ihre Souveränität und territoriale Integrität gegen den Aggressor verteidigen und die Kosten der gegen Russland verhängten Sanktionen tragen kann. Polen scheint in dieser Hinsicht sehr viel mehr für die Ukraine zu tun. Deutschlands Unterstützung für die Ukraine sollte ihrem wirtschaftlichen und militärischen Potenzial entsprechen, welches in der Menge, der Qualität und dem Tempo der Lieferung von Waffen zur Abwehr der russischen Aggression zum Ausdruck kommt. Nach Ansicht Polens und anderer mitteleuropäischer Staaten, insbesondere derjenigen, die an Russland angrenzen, ist die vom Kreml ausgehende Bedrohung der internationalen Ordnung so ernst, dass nur eine einheitliche Haltung des Westens unter Führung der Vereinigten Staaten ein wirksames Gegengewicht darstellen kann. Sie erwarten von Deutschland eine Politik, die auf die Aufrechterhaltung einer solchen Einheit gerichtet ist. Dies ist nicht der Zeitpunkt für einen europäischen Sonderweg bei der Lösung des Konflikts oder der Gestaltung der Beziehungen zu Russland, zumal Putin die Vereinigten Staaten als Russlands Hauptfeind und die westeuropäischen Länder als potenzielle Verbündete betrachtet.
Die letztendliche Unabhängigkeit Deutschlands von russischer Energie könnte zu einer entschiedeneren Politik gegenüber Moskau führen. Da jedoch geopolitische und historische Erwägungen weiterhin eine Rolle spielen werden, ist unklar, ob es zu einem solchen Wandel kommen wird. In der politischen Kultur Deutschlands wird Russland als wichtiges Bindeglied für das europäische Sicherheitssystem angesehen. Dieses Denken geht zurück auf das Europäische Konzert der Großmächte des 19. Jahrhunderts und die Existenz zu respektierender Einflusssphären.
Heute sprechen deutsche Politiker nur noch selten explizit von Geopolitik oder Einflusssphären. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach lange Zeit lieber von Russlands unverzichtbarem Platz in der neuen Sicherheitsarchitektur. Die Bedeutung ist jedoch dieselbe: Russlands Sicherheitsinteressen auch in Bezug auf die Ukraine sollten respektiert werden und Russland muss sein Gesicht wahren dürfen. Steinmeier hat inzwischen zugegeben, dass er sich in der Russlandpolitik geirrt hat, aber der Beweis für einen dauerhaften Wandel der deutschen Politik wären nicht Worte, sondern Taten wie militärische Unterstützung für die Ukraine und schärfere Sanktionen gegen Russland.
Könnte es für Deutschland und Polen noch einen gemeinsamen Weg zum Wiederaufbau der europäischen Sicherheit geben? Aus deutscher Sicht erscheint Polen als schwieriger Partner, führend dabei, Deutschland zu kritisieren und Forderungen zu stellen, u. a. nach Reparationszahlungen aus dem Zweiten Weltkrieg, und das nicht immer auf diplomatische Art und Weise.
Deutschland und Polen haben auch unterschiedliche Auffassungen zur Rolle der Vereinigten Staaten in Europa. Berlin möchte die guten und offenen Beziehungen der Europäischen Union zu den Vereinigten Staaten aufrechterhalten, während Warschau die Vereinigten Staaten in Europa halten möchte. Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten liegt die militärische Präsenz der USA in Europa am Herzen, insbesondere an der Ostflanke der NATO. In diesen Ländern herrscht die Überzeugung, dass im Falle eines russischen Angriffs Aggression nur die Vereinigten Staaten ihre Sicherheit gewährleisten können. Das macht Washington aus ihrer Sicht zu einem europäischen Akteur. In Deutschland werden die Vereinigten Staaten eher als einer von vielen externen Partnern, wie Russland und China, wahrgenommen, wenn auch als einer, der vom Werteverständnis her näher steht.
Während die Deutschen die US-Politik während der Präsidentschaft von Donald Trump kritisieren, blicken die meisten Polen aus verschiedenen Gründen positiv auf sie zurück. Erstens beschloss Russland erst während der Präsidentschaft von Joe Biden, die Ukraine anzugreifen. Zweitens sprach sich Trump entschieden gegen das Nord Stream 2-Projekt aus, das die Abhängigkeit Deutschlands und Europas von Russland im Energiebereich erhöht. Drittens waren Trumps Forderungen nach einer Erhöhung der deutschen Militärausgaben auf das von der NATO festgelegte Ziel von 2 Prozent des BIP, wie wir heute sehen können, völlig gerechtfertigt. Vor allem aber schätzen die Polen die verstärkte US-Militärpräsenz in ihrem Land, die sie als Garant für ihre Sicherheit wahrnehmen.
Die starke Kritik Polens an Russland, die engeren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die pro-amerikanische Haltung in vielen internationalen Fragen und das Streben nach einer unabhängigen Politik in der Region, wie es mit der Drei-Meere-Initiative (die ohne die Beteiligung Deutschlands ins Leben gerufen wurde) versucht wurde, werden von Berlin als gegen seine langfristigen Interessen gerichtet wahrgenommen. Die Differenzen zwischen Deutschland und Polen können nur überbrückt werden, wenn die Erwartungen des jeweils anderen berücksichtigt werden.
Hat in einer solchen Situation das Weimarer Dreieck, bestehend aus diesen beiden Ländern und Frankreich, eine neue Chance? Der Besuch von Scholz an der Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und des rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis in Kiew im Juni 2022 hat gezeigt, dass das Weimarer Dreieck im Krieg keine Rolle gespielt hat. Eine pragmatische Zusammenarbeit in der internationalen Politik liegt jedoch trotz der aktuellen Spannungen weiterhin im strategischen Interesse Deutschlands und Polens. Ein Treffen zwischen den Außenministern der Weimar-Länder und der Ukraine trüge wichtigen Symbolcharakter und könnte das Format neu beleben. Es wäre ein Zeichen für die Behandlung der Ukraine als gleichberechtigter Partner und ein deutliches Signal an Russland. Es könnte auch ein Mittel sein, um die Beziehungen zwischen Frankreich, Deutschland und Polen zu verbessern. Ist eine solche Initiative realistisch? Das werden wir nur herausfinden, wenn wir es versuchen.
Dieser Text erschien in gekürzter Form am 17. Oktober 2022 in der Neuen Nürcher Zeitung (NZZ).
Jacek Czaputowicz ist Professor an der Universität Warschau und war von 2018 bis 2020 polnischer Außenminister.