Julija Nawalnaja

Foto: Körber-Stiftung/Claudia Höhne

Rede zum Exil der Schirmherrin Julija Nawalnaja

Gehalten während der Tage des Exils Hamburg am 19. Februar 2025 in der Elbphilharmonie. Musikalisches Programm von Gidon Kremer und dem Kammerorchester Kremerata Lettonica.

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Rede zum Exil von Julija Nawalnaja

Die Rede zum Exil als Volltext 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

ich danke Ihnen, dass Sie heute in diesem wunderschönen Saal der Elbphilharmonie zusammengekommen sind. Vielen Dank, dass Sie sich dem Thema „Exil“ zuwenden.

Einem wichtigen Thema: für Millionen von Menschen weltweit, und auch hier in Europa; für mein eigenes Land, Russland; und nicht zuletzt auch für mich persönlich.

Vor drei Jahren entfesselte Wladimir Putin einen sinnlosen und blutigen Krieg gegen die Ukraine. Einen Krieg, der den Menschen in der Ukraine unsägliches Leid brachte, Millionen von ihnen zwang, ihre Häuser zu verlassen und sich auf die Flucht zu begeben. Durch Putins Verschulden wurden sie ihrer Heimat beraubt und von ihren Angehörigen getrennt.

Bereits ein Jahr zuvor hatte ein anderer Diktator, Alexander Lukaschenko, die Proteste, die gegen die von ihm gestohlenen Wahlen in Belarus entbrannt waren, gewaltsam niedergeschlagen. Tausende Menschen wurden ins Gefängnis gesteckt. Mehr als 500.000 gingen ins Exil und wurden Teil der traurigen Statistik.

Das Schicksal der Flucht ereilte auch jene Russinnen und Russen, die sich weigerten, Teil des verbrecherischen Putin-Regimes zu werden. Russinnen und Russen, die sich gegen den Krieg in der Ukraine und gegen die Macht des Diktators auflehnten, die nicht bereit waren, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Innerhalb von drei Jahren verließen etwa 1,5 Millionen Menschen das Land, flohen vor Krieg, Repressionen und Zwangsmobilmachung. Vornehmlich junge, kluge und talentierte Menschen.

Wer sind diese Menschen, die als erste ihre Sachen packten und außer Landes gingen?

Es sind politische Aktivistinnen und Aktivisten, denen aufgrund ihrer Antikriegshaltung Verfolgung und Verurteilung drohten – aktive und engagierte Menschen mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Es sind junge Fachkräfte, die sich zutrauten, außerhalb des eigenen Landes eine Arbeit zu finden und sich ein neues Leben aufzubauen. Es sind Unternehmerinnen und Unternehmer, denen korrupte Vertreter staatlicher Machtorgane die Geschäftsgrundlage entzogen, indem sie ihnen fingierte Straftaten anhängten.

Man könnte nun meinen: Was sind schon 1,5 Millionen Menschen, die dem riesigen Russland den Rücken kehrten? Gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung! Doch wenn es sich um die besten Köpfe des Landes handelt, dann ist das ein herber Schlag für die Zukunft des Landes.

Es scheint so offensichtlich: Fliehen die Menschen aus einem Land, schadet das dem Land selbst. Dem gesunden Menschenverstand nach müsste es daher im Interesse eines jeden sein, die Zahl Flüchtender zu verringern.

Doch weit gefehlt! Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge verließen vor zehn Jahren weltweit 14 Millionen Menschen aufgrund von Verfolgungen ihr Heimatland. Im Jahr 2024 waren es nahezu dreimal so viele: 38 Millionen. Das entspricht der Gesamtbevölkerung von Polen, einem großen europäischen Land.

Hinter diesen statistischen Zahlen verbergen sich reale Schicksale. 38 Millionen Menschen, deren Leben in einem solchen Maße gefährdet und zerstört worden war, dass sie alles aufgaben und den Weg ins Ungewisse antraten.

Fast jeder Zehnte von ihnen – insgesamt 3,5 Millionen Menschen – fand vorübergehend Zuflucht in Deutschland. Das entspricht der Bevölkerungszahl von ganz Berlin.

Ich bin Deutschland und zahlreichen anderen westlichen Staaten sehr dankbar dafür, dass viele ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie ihre politischen Entscheidungsträger die Lage erkannt haben und Geflüchtete aufnehmen. Dass sie ihnen Schutz und ein Dach über dem Kopf gewähren sowie finanzielle Unterstützung leisten. Dass sie ihren humanitären Verpflichtungen nachkommen.

Doch kann es so weitergehen? Soll es so weitergehen? Was, wenn sich in den nächsten zehn Jahren die Zahl der weltweit im Exil lebenden Menschen erneut verdreifacht? Wie sähe unsere Welt dann aus?

Wir alle sollten realistisch sein und uns bewusst machen: Die Möglichkeiten zur Aufnahme geflüchteter Menschen sind begrenzt. So kann es einfach nicht weitergehen.

Vor allem aber: Wohin soll das führen?

Liest man die Nachrichten, hat man den Eindruck, dass Monat um Monat irgendwo in der Welt ein neuer Konflikt ausbricht. Menschen müssen ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpacken und ins Exil gehen, um das Letzte zu retten, das sie besitzen: ihr Leben und ihre Freiheit. Das Leben und die Freiheit ihrer Kinder.

Sie machen sich auf die Suche nach einem Ort, an dem ihnen möglicherweise Zuflucht gewährt wird – gehen in demokratische Länder, die sich zu den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts bekennen.

Doch seien wir ehrlich: Für die Demokratien läuft es gegenwärtig nicht wirklich gut. Laut Demokratieindex der Zeitschrift The Economist leben gerade einmal acht Prozent der Weltbevölkerung in vollständigen Demokratien. Alle anderen haben deutlich weniger Glück. 55 Prozent leben in autoritären Diktaturen beziehungsweise Hybridregimen; das sind siebenmal mehr als jene Menschen, die in Demokratien leben.

Man muss kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass in den Demokratien nicht genug Platz für alle aus Diktaturen geflüchteten Menschen ist. Und man muss auch kein Mathematiker sein, um zu begreifen, dass es nicht die Auswirkungen, sondern die Ursachen sind, die es zu bekämpfen gilt, vornehmlich die große Zahl an Regimen dieser Welt, die ihre Bürgerinnen und Bürger unterjochen und damit Flüchtlingsströme überhaupt erst auslösen.

Solange wir nur die Krankheitssymptome behandeln und ihre Ursachen außer Acht lassen, werden wir das Problem nicht lösen. Ganz im Gegenteil, wir werden es nur verschlimmern.

Eben dies geschieht gegenwärtig in vielen europäischen Demokratien. Allerorten erleben wir den Aufstieg von Populisten, die für die globalen Probleme der Welt mit einfachen Lösungen aufwarten; Lösungen, die ebenso einfach wie abwegig sind. Schenkt man ihnen Glauben, so genügt es, sich mithilfe eines hohen Zauns gegen jedwedes Problem abzuschotten – und schon ist man es los.

Aber natürlich funktioniert das so nicht. Wenn Eltern ihre Kinder vor Hunger, Gewalt und Tod retten wollen, wird kein Zaun dieser Welt sie davon abhalten können. Das Einzige, was wirklich zu einem Rückgang der Vertriebenenzahlen führen kann, ist eine Reduzierung der Zahl an Diktaturen und Diktatoren. Die Menschen fliehen vor den Diktatoren, davor, was letztere ihren eigenen und den angrenzenden Ländern antun. Vor Demokratien flieht niemand.

Natürlich ist es sehr schwer, sich gegen Diktatoren aufzulehnen. Wer das tut, riskiert sein Leben. Die Diktatoren des 21. Jahrhunderts sind gewiefter und gefährlicher geworden. Sie lernen voneinander, und sie lernen aus den Fehlern der Vergangenheit. Sie sind geübt im Umgang mit modernen Technologien. Sie verfügen über die mächtigsten Propagandamittel, sie sind reich und grausam. Der Kampf gegen sie birgt Gefahren. Doch einen anderen Ausweg gibt es nicht.

Basieren künftig mehr Länder dieser Welt auf stabilen Demokratien und Rechtsstaatlichkeit, dann braucht es keine hohen Zäune. Weiten sich indes die Diktaturen aus, wird auch die Zahl der Menschen im Exil weiter steigen. Dann helfen auch keine Zäune.

Ich empfinde Dankbarkeit gegenüber all jenen Staaten, die Vertriebene aus meiner Heimat und aus anderen Ländern aufgenommen haben. Gleichzeitig bin ich nicht gewillt, den Kampf gegen das Regime von Wladimir Putin aufzugeben. Mir ist bewusst, dass viele von Ihnen mich sowie meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter in diesem Kampf unterstützen und ich danke Ihnen sehr für diese Unterstützung.

Am 16. Februar 2024 ermordete Wladimir Putin meinen Ehemann, den inhaftierten russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny.

Auf den Tag genau vor einem Jahr, am 19. Februar, drei Tage nach der Ermordung von Alexej, veröffentlichte ich ein Video, in dem ich erklärte, dass ich seine Sache, seinen Kampf fortsetzen werde.

Mir war elend zumute. Ich hatte furchtbare Angst. Doch kann ich zulassen, dass Putin obsiegt? Dass mein Mann sich vergebens geopfert hat?

Der einzige Weg, nicht zuzulassen, dass sein Tod vergebens war, besteht darin, jenes „Wunderbare Russland der Zukunft“ aufzubauen, von dem er träumte und sprach. An das er glaubte. Für das er sein Leben gab. Ein Russland, in das all jene zurückkehren wollen, die in den letzten Jahren ins Exil getrieben wurden.

Auch ich selbst lebe fern der Heimat. Mein Zuhause ist und bleibt Russland, außerhalb seiner Grenzen halte ich es nirgends lange aus. Die meiste Zeit verbringe ich auf Reisen – in Flugzeugen und Hotels. Ich konnte nicht zur Beerdigung meines Ehemanns und kann auch jetzt nicht an sein Grab – in Russland würde ich auf der Stelle verhaftet werden. Doch Tag für Tag träume ich vor allem davon, eines Tages wieder nach Hause zurückzukehren.

Ich weiß, dass die meisten der im Exil lebenden Menschen diesen Traum in sich tragen.

Die Liebe zur Heimat ist kein Widerspruch zu dem Wunsch, Fuß zu fassen in der Fremde, und sei es nur für eine gewisse Zeit. Auch Patriotismus und Dankbarkeit gegenüber einem Land, das Geflüchteten Zuflucht gewährt, widersprechen einander nicht. Ebenso wenig wie das Bestreben, sich im Exil ein Leben mit seinen kleinen Freuden und Erfolgen aufzubauen und gleichzeitig die eigene Kultur zu bewahren. Noch weniger widersprechen einander das Erlernen einer neuen Sprache und das tägliche Bemühen darum, Veränderungen in der Heimat herbeizuführen, um dorthin zurückkehren zu können. Das eine ist so wichtig wie das andere.

Jeder im Exil lebende Mensch hat seine Prioritäten. Seinen eigenen schweren und schmerzvollen Weg. Seine eigene Geschichte. Doch verbindet uns eines: der gemeinsame Schmerz, die Sehnsucht nach der Heimat und die Hoffnung auf Rückkehr. Lasst uns das nicht vergessen, lasst uns einander unterstützen.

Wir werden nach Hause zurückkehren! Und wir werden alles daransetzen, dass dieser Tag so bald wie möglich kommt.

Lassen Sie es mich so sagen: Ich werde mich nach Kräften bemühen, dass die von der Körber-Stiftung initiierten „Tage des Exils“ zukünftig nicht mehr stattfinden müssen. Dass sie einfach entbehrlich werden.

Ich danke Ihnen für das, was Sie tun, und dafür, dass Sie nicht aufgeben.

(Übersetzung aus dem Russischen: Katja Fröhlich)