Die Rede zum Exil von Swetlana Tichanowskaja

Foto: Claudia Höhne

Rede zum Exil der Schirmherrin Swetlana Tichanowskaja

Schirmherrin Swetlana Tichanowskaja hielt zum Auftakt der Tage des Exils Hamburg am 11. April 2023 im Körber Forum die Rede zum Exil

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Rede zum Exil von Swetlana Tichanowskaja

Liebe Freund:innen,

ich fühle mich geehrt, Schirmherrin der diesjährigen Tage des Exils zu sein, und ich möchte der Körber-Stiftung für die Einladung danken, die Rede zum Exil bei dieser wichtigen Veranstaltung zu halten. Ich würde gern die Gelegenheit nutzen, um heute meine eigene persönliche Exilgeschichte mit Ihnen zu teilen.

Exil als Geschichte zerbrochener Familien

Tatsächlich bin ich nur eine von hunderttausenden von Belaruss:innen, die seit der gestohlenen Wahl von 2020 gezwungen waren, das Land zu verlassen.

Die Menschen flohen vor Repressionen, Folter und Erniedrigung, vor Gesetzlosigkeit und Gewalt. Viele versuchten, möglichst lange auszuharren, bis eines Tages der KGB an ihre Türen klopfte. Keine:r von uns wollte aus dem Land fliehen, das wir so sehr lieben und ehren.

Als Exilant:innen empfinden wir eine tiefe Liebe zu dem Land, das wir zurückließen, zu unserer Kultur und nationalen Identität. In vieler Hinsicht vertieft sich diese Liebe fern von zu Hause, und sie verstärkt unsere Entschlossenheit, unsere Kultur am Leben zu halten, selbst wenn der Diktator in unserer Heimat sie zu zerstören sucht.

Exil ist eine komplexe und emotionale Reise, die über den physischen Akt des Verlassens der Heimat hinausreicht. Es hat zur Folge, dass einem die eigene Gemeinschaft und der Lebenssinn entrissen werden und man nicht an den Ort zurückkehren kann, wo Herz und Seele wirklich hingehören.

Für viele von uns ist das Exil eine Geschichte zerbrochener Familien, voneinander getrennter Angehöriger und auf den Kopf gestellter Leben. Es liegt in seiner Natur, dass es uns aufgezwungen wird, doch die Entscheidung, die wir in Reaktion darauf treffen, definiert unseren Charakter und unsere Widerstandskraft.

Die gestohlene Wahl in Belarus

Meine Geschichte begann 2020, als der Diktator seinen brutalen Anschlag auf die belarussische Demokratie mit der Verhaftung von Aktivist:innen und Politiker:innen begann. Zu diesen gehörte auch mein Ehemann, Sergej Tichanowski. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme hatte er gerade seine Absicht erklärt, für das Präsidentenamt zu kandidieren.

Da ich mich angesichts dieser Ungerechtigkeit zum Handeln gezwungen fühlte, entschied ich mich, an seiner Stelle meine Kandidatur anzumelden. Ich traf diese Entscheidung aus Liebe zu meinem Mann und unserem Land. Das Regime registrierte mich bloß deshalb als Kandidatin, weil es mich demütigen und lächerlich machen wollte; es hielt mich nicht für eine ernstzunehmende Bewerberin. Das jedoch ging nach hinten los.

Am 9. August 2020 verlor Lukaschenko die Wahl, doch erklärte sich trotzdem zum Präsidenten. Viele tausende, die gegen diesen eklatanten Wahlbetrug protestierten, wurden verhaftet, verprügelt, gefoltert und sogar im Gefängnis vergewaltigt. Zehn Menschen wurden vom KGB und von der Polizei getötet.

Nach der gestohlenen Wahl war ich gezwungen, Belarus zu verlassen. Gemeinsam mit meinen Kindern fand ich Zuflucht in Litauen, doch mein Mann ist noch immer ein politischer Gefangener in Belarus. Vor kurzem wurde er, zusätzlich zu seiner bestehenden 18-jährigen Haftstrafe, zu weiteren anderthalb Jahren verurteilt. Er ist in Einzelhaft, und meine Kinder haben ihn seit seinem Haftantritt nicht gesehen. Die staatliche Propaganda streut das Gerücht, er sei tot.

Doch ich kann Ihnen versichern: Sergej ist ungebrochen. Er weiß, dass er im Recht ist, dass er nicht im Gefängnis sein sollte. Und er hat seine enorme innere Stärke entdeckt.

Zusammen mit ihm gibt es mehr als 1500 politische Gefangene. Sie sind Tag für Tag körperlicher Gewalt und psychologischer Folter ausgesetzt. Es werden ihnen grundlegende Menschenrechte und der Kontakt zu anderen vorenthalten. Sie erhalten keine Briefe, keine Päckchen, Lebensmittel oder Geldüberweisungen. Zur Kennzeichnung der politischen Gefangenen werden besondere Aufnäher genutzt, damit ihre Kerkermeister wissen, wen sie gewissenhafter foltern sollen.

Im Schnitt gibt es pro Tag 17 neue politische Verhaftungen, und die Marionettengerichte des Regimes produzieren wie am Fließband massenhaft politische Urteile, ohne jede Gerechtigkeit.

Man fragt sich, wie sie Zeit finden, echte Straftäter:innen zu fassen, wo sie so beschäftigt sind mit der Jagd auf Regimegegner. Doch es ist eine traurige Wahrheit: Das Rechtssystem wurde zur Unterdrückungsmaschine umfunktioniert.

Exil als Chance

Meine eigene Geschichte fand in Litauen ihren Fortgang, wo ich mein Büro und das gemeinschaftliche Übergangskabinett einrichtete, um Belarus zur Demokratie zu führen, unsere Unabhängigkeit zu verteidigen und alle politischen Gefangenen zu befreien. Dies ist das Ziel, für das ich kämpfe. Im Exil zu sein, in Freiheit zu sein, gibt mir eine Chance, meine Stimme für alle Belaruss:innen zu erheben, die vom Regime zum Schweigen gebracht wurden.

Wäre ich heute in Belarus, säße ich im Gefängnis wie mein Mann. Wie Maria Kolesnikowa, die mit mir gemeinsam Wahlkampf machte. Wie die junge Studentin Danuta, die zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie eine Nachricht gegen den Krieg weiterleitete.

Wie unser Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki, ein lebenslanger Verteidiger der Menschenrechte, der kürzlich zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.

Wenn noch irgendein Zweifel bestand, was mir passieren würde, wenn ich nach Belarus zurückginge, dann wurde er diesen Monat ausgeräumt, als das fingierte Gericht des Regimes mich in Abwesenheit zu 15 Jahren Gefängnis verurteilte.

Natürlich ist das gesamte Verfahren eine Farce, bei dem die Marionetten des Regimes die Rollen des Richters, Staatsanwalts und sogar Verteidigers spielten. Mir selbst wurden jegliche Informationen über meinen Fall vorenthalten.

Diese Schauprozesse sind ein Einschüchterungswerkzeug, genau wie die Drohungen des Regimes mit Entzug der Staatsbürgerschaft belarussischer Exilant:innen und der Beschlagnahme ihres Eigentums in Belarus. Wenn sie nicht an Sie herankommen, nutzen sie jedes Druckmittel, das sie finden können, und belästigen sogar Ihre Familie.

Die belarusische Diaspora

Diese falsche Verurteilung ändert für mich gar nichts – doch eine Rückkehr nach Belarus ist derzeit keine Option. Mein Leben mit meinen Kindern spielt sich erst einmal in Litauen ab.

Mein neues Zuhause, Vilnius, liegt nicht mehr als 25 km von der Grenze zu Belarus entfernt. Doch besteht eine enorme Kluft zwischen dieser Stadt der Freiheit und der fortgesetzten Unterdrückung und russischen Besetzung in meinem Land.

Historisch verknüpft die Menschen in Belarus ein starkes Band mit den Litauer:innen sowie den Pol:innen und Ukrainer:innen. Zu Beginn dieses Jahres feierten wir den 160. Jahrestag des Januar-Aufstands von 1863, der uns gegen den russischen Imperialismus einte.

Die Regierungen Litauens und Polens haben unsere demokratische Bewegung für Belarus von Anfang an unterstützt und Belaruss:innen auf der Flucht vor Repressionen geholfen, sich in ihren Ländern niederzulassen. In Litauen haben wir Zehntausende von Belaruss:innen, in Polen mehr als 100.000.

Nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen, Gründerzentren und sogar Universitäten haben Belarus angesichts der zunehmenden Unterdrückung verlassen.

Dies hat eine kraftvolle, dynamische Gemeinschaft belarussischer Exilant:innen hervorgebracht. Sie unterstützen Belarus und die Ukraine, und viele studieren oder gründen sogar eigene Unternehmen. Ich weiß, dass viele nach demokratischen Veränderungen nach Belarus zurückkehren und zur Entwicklung unseres Landes beitragen werden.

Ich sage immer: Wenn Sie Belaruss:innen im Exil unterstützen, investieren Sie zugleich in die Zukunft der Nation.

Ich muss zugeben, dass ein Leben im Exil auch ein Leben auf der Durchreise ist. Weil wir alle wissen, dass wir in unser Land zurückkehren möchten. Ich werde ewig dankbar sein für die Gastfreundschaft, die Litauen mir und meiner Familie erwiesen hat, aber ich weiß, dass meine Zukunft in Belarus liegt, bei meinem Ehemann.

Dies ist unser Ziel; dies ist, wofür wir Tag für Tag kämpfen: in ein freies, demokratisches Belarus zurückkehren und die Souveränität des Landes schützen zu können. Im Moment ist uns eine Rückkehr unmöglich.

Belaruss:innen im Exil, die der Repression des Regimes entkommen sind, laufen Gefahr, ohne gültige Ausweispapiere dazustehen. Darum arbeiten wir eng mit den Regierungen befreundeter Länder zusammen, um sicherzustellen, dass Belaruss:innen die rechtlichen Dokumente erhalten können, die sie zum Reisen brauchen.

Das mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, doch besteht meine Aufgabe darin, den Bedürfnissen aller Belaruss:innen zuzuhören, einschließlich jener im Exil. In den letzten Jahren habe ich tausende von Gesprächen geführt, um zu verstehen, was wir tun können, um zu helfen.

Ich bin sehr stolz auf die belarussischen Exilant:innen. Erst kürzlich, am 25. März, haben wir unseren Tag der Freiheit als Tag der Solidarität mit Belarus gefeiert, und wir haben Belarussen in aller Welt zu Aktivitäten in Unterstützung von Freiheit und Demokratie aufgefordert.

Auf Reisen versuche ich immer, mich mit der örtlichen belarussischen Diaspora zu treffen, um mich über ihre Situation, ihre Herausforderungen und Hoffnungen zu informieren. Das gibt mir die Kraft und den Mut, weiterzumachen.

Einerseits bin ich selbst ein politischer Flüchtling, eine Mutter mit zwei Kindern, und mein Mann ist politischer Gefangener in meinem Heimatland. In dieser Lage empfinde ich starke Verbundenheit nicht nur mit anderen vor dem Terror des Regimes geflüchteten Belaruss:innen, sondern auch mit den Menschen aller übrigen Länder, die aufgrund politischer Repression im Exil leben.

Andererseits trage ich als führende Politikerin eine besondere Verantwortung gegenüber meinem Volk, sowohl innerhalb wie außerhalb von Belarus, auf positive Veränderungen hinzuarbeiten. Ich verbringe den Großteil meiner Zeit mit Reisen, um das demokratische Belarus zu repräsentieren, und sorge dafür, dass die Interessen unseres Volkes auf der internationalen Tagesordnung stehen.

Brücken des Verständnisses

Heute, da Millionen Menschen in Europa unterwegs sind, um Krieg, Terror und Tyrannei zu entgehen, ist es wichtiger denn je, Brücken zu schlagen und unsere Herzen und unsere Wohnungen für Menschen in Not zu öffnen. Ich bin froh, zu sehen, dass die Umstände, so schrecklich sie auch sind, das Beste in den Menschen zum Vorschein bringen.

Sie bringen das Beste in jenen Deutschen und anderen Europäer:innen hervor, die Unterkünfte anbieten, humanitäre Hilfe leisten oder auf andere Weise dazu beitragen, das Leid der Ukrainer:innen zu lindern. Sie bringen das Beste in all den Pol:innen, Litauer:innen und anderen Europäer:innen hervor, die den Belaruss:innen geholfen haben, sich geschützt vor dem Terror des Regimes eine neue Existenz aufzubauen.

Wir alle sehen einem freien und demokratischen Belarus entgegen, und ich weiß, dass viele zurückkehren werden, um zum Wiederaufbau ihres Landes beizutragen und die in den Jahren der Diktatur angerichteten Schäden zu beseitigen. Sie werden neue Fertigkeiten, neue Ideen und neue Freundschaften aus ihrer Zeit im Exil mitbringen.

Doch ich möchte betonen, dass man Menschen im Exil nicht als Opfer betrachten sollte. Ich hatte das Glück, in vielen Ländern belarussische Exilant:innen zu treffen, und ich bin jedes Mal erstaunt über ihre Energie, Leidenschaft und ihr Engagement beim Aufbau eines erfolgreichen Lebens und der Hilfe für ihr Heimatland.

Ich hoffe, dass Tage des Exils dazu beitragen wird, neue Brücken des Verständnisses zu schlagen und neue Verbindungen aufzubauen. Diese Veranstaltungen sind der beste Weg hin zu einer Zukunft des Friedens und der Würde für die gesamte Menschheit.

Wir sollten uns erinnern, dass Exil nicht nur eine persönliche, sondern auch eine globale Erfahrung ist. Es erinnert uns an die Bedeutung der Menschenrechte und die Notwendigkeit, denen, die unterdrückt werden, solidarisch beizustehen. Wir müssen eine Welt schaffen, in der niemand aus Angst um sein Leben und seine Freiheit aus seiner Heimat fliehen muss.

In diesem Sinne sende ich meine besten Wünsche für die diesjährigen Tage des Exils und danke Ihnen erneut, dass Sie Ihre Herzen für die Belaruss:innen geöffnet haben.

Vielen Dank.