Tobias Mörike

Fabeltiere und Bordüren

Foto: Caroline Schmidt-Gross

Für den neuen Steinernen Orientteppich von Frank Raendchen, der auf der Wilhelminenbrücke vor der Körber-Stiftung verlegt wird, hat sich der Künstler von turkmenischen Teppichen und ihrer Symbolik inspirieren lassen. Im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg kennt sich Tobias Mörike mit der Vielfalt der Kunst des Kulturraums Orient aus.

„Der Orient ist eher eine europäische Vorstellung“, sagt Tobias Mörike, Kurator für Islamische Kunst am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG). „Viele denken dann an die Märchen 1001 Nacht oder an Luxusgüter.“ Dagegen sprechen Wissenschaftler:innen lieber von geografischen Räumen, wie dem östlichen Mittelmeerraum, Nordafrika und Zentralasien.

Ebenso wenig gibt es den Orientteppich. Denn diese gewebten oder geknüpften Textilien werden ganz unterschiedlich eingesetzt: Als prächtiger Raumschmuck in Palästen oder Moscheen, als Gebetsteppich oder multifunktional bei den Nomaden als Schlafunterlage, Türvorhang oder Sattel. Das Spannende daran: Viele Teppiche verraten mittels Farben und Muster oder Verarbeitung etwas über ihre Vergangenheit und Verwendung.

Besonders anschaulich wird das im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Hier hängt ein kunstvolles fast sechs Meter langes Stück aus dem 16. Jahrhundert mit einer ganz besonderen Geschichte. „Vermutlich wurde er wegen Erbstreitigkeiten auseinander geschnitten“, erzählt Tobias Mörike. Den ersten Teil hatte das Museum bereits 1965 gekauft. Der zweite Teil tauchte erst 36 Jahre später zufällig auf dem Kunstmarkt auf. Er wurde dann erworben, aufwendig restauriert und im Jahr 2015 im Rahmen der Neueinrichtung der Sammlung Islamische Kunst daneben gesetzt.

Bemerkenswert ist an diesem Teppich, dass es sich um eine Auftragsarbeit für den Hof des Shahs handelt. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert führte man Teppiche nicht mehr nur als Handarbeit zu Hause nach dem Gedächtnis aus, sondern sie entstanden in Manufakturen nach Mustervorlagen, die meist in den Ateliers für Buchkunst entworfen wurden.

Nach bisherigen Erkenntnissen lag dieser Teppich vermutlich in der Stadt Täbris, der Hauptstadt der schiitischen Safawiden (1501-1722) im Norden des Irans in einem Palast. Zu sehen ist auf den ersten Blick ein ornamentreicher Blütengarten auf rotem Grund, der typischen Herrschaftsfarbe. Auf den zweiten Blick gibt es aber noch viel mehr Details zu entdecken.

„Hier sind beispielsweise chinesische Wolkenbänder“, sagt Tobias Mörike und deutet auf hellblaue Schlangenlinien. Weiter oben ist das Fabeltier Qilin abgebildet, ein magisches Wesen aus der chinesischen Mythologie, das einer Kuh gleicht, Glück bringt und auf keinen Fall gefangen werden darf. „Deutlich zeigt uns dieser Teppich, dass Gestaltungsformen aus der Antike sowie zentralasiatischen und chinesischen Kulturen in die islamische Kunst eingeflossen sind“, erklärt Mörike und unterstreicht, was dem MKG besonders wichtig ist zu vermitteln. Der Islam sei eben nicht eine in sich geschlossene Welt, sondern eine komplexe Zivilisation, die über Epochen und Grenzen hinweg immer in im Austausch war und auch Europa mitgeprägt hat.

Auf dem Teppich sind weiterhin Stiere und Löwen eingearbeitet, die um ihr Leben rennen und kämpfen. Diese Jagdszenen galten als Machtsymbol, ein Zeichen der Unterwerfung und der Beherrschung der Natur. „Meine Lieblinge sind aber die kleinen Vögel, die in der Bordüre sitzen“, ergänzt Mörike. „Vögel spielen in der iranischen Kunst eine mystische Rolle und verweisen oftmals auf das Literaturstück Konferenz der Vögel aus dem 12. Jahrhundert, in dem sich diese Tiere auf den Weg machen, um einen König zu suchen.“

„Besonders durch die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert wurden die sogenannten Orientteppiche auch ein Teil der europäischen Konsumkultur“, sagt Mörike. Bereits die Gemälde der Renaissance zeigen die Teppiche als Raumschmuck. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Briefleserin am offenen Fenster (1657/59) von Jan Vermeer – zu bewundern in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Aber auch im MKG ist ein „Teppichgemälde“ zu finden – allerdings in der Musikabteilung. Auf diesem Bild ist das gute Stück in Falten über einen Tisch drapiert worden, auf dem eine Laute und andere Saiteninstrumente liegen. Die Verwendung als Tischdecke ist nicht untypisch für diese Epoche. Man war damals der Meinung, die Orientteppiche seien einfach zu kostbar, um sie auf dem Boden mit Füßen zu treten.