In seiner Studie aus dem Jahr 2022 „Demokratie in der digitalen Transformation“ untersucht Julian Nida-Rümelin, wie die Repräsentativität und Inklusivität der Demokratie durch digitale Prozesse gestärkt werden kann.
Die Demokratie ist mehr als eine Staatsform. Sie ist zugleich eine Lebensform, die auf der wechselseitigen Anerkennung ihrer Bürgerinnen und Bürger als Gleiche und Freie beruht, die Verantwortung für ihr Leben übernehmen und ihre politischen Lebensbedingungen gemeinsam gestalten wollen. Die digitale Transformation fordert das menschliche Selbstbild heraus. Wenn sogenannten digitalen Akteuren personale Eigenschaften zugeschrieben werden, wenn diese als Gegenüber interpretiert werden, würde die digitale Transformation zwangsläufig zu einer Erosion der humanistischen Grundlagen der Demokratie führen, bis hin zu einer befürchteten Machtübernahme Künstlicher Intelligenz.
Diesem Zerrbild setzen wir die These entgegen, dass allein Menschen Verantwortung für ihr Tun wahrnehmen können, dass digitale Maschinen nichts erkennen, nichts fühlen, nichts entscheiden. Vielmehr gestalten wir sie so, dass sie entsprechende Fähigkeiten simulieren. Es ist ein menschlicher Selbstbetrug, hochkomplexe digitale Systeme erschaffen zu wollen, um Erkenntnisse, Gefühle und Entscheidungen zu simulieren und diese dann mit Personen zu verwechseln, die über Emotionen, Einsichten und praktische Vernunft verfügen.
Auch die dem soeben skizzierten animistischen Irrtum entgegengesetzte Sichtweise, dass zwar digitale Maschinen keine menschlichen Eigenschaften haben, aber Menschen letztendlich nichts anderes seien als algorithmengesteuerte Maschinen, also die mechanistische Ideologie, die mit der digitalen Transformation einhergeht, gefährdet das humanistische Menschenbild, auf dem die Demokratie beruht. Während der animistische Irrtum in naher Zukunft zu einem Erliegen des technologischen Fortschritts führen müsste, da Softwaresystemen, denen personale Eigenschaften zugeschrieben werden, auch personale Rechte zuerkannt werden müssten, diese also nicht lediglich als Instrument für menschliche Zwecksetzungen eingesetzt werden dürften, führt die mechanistische Selbstverkleinerung des Menschen zum Verlust menschlicher Würde, Freiheit und Verantwortung.
Die Demokratie in der digitalen Transformation darf nicht zu einer Schwächung ihrer anthropologischen und ethischen Voraussetzungen führen. Ziel der digitalen Transformation muss vielmehr sein, die demokratische Praxis kollektiver und individueller Selbstbestimmung durch den Einsatz digitaler Informationsverarbeitung und Entscheidungsunterstützung zu bereichern. Ziel kann dabei nicht die Ersetzung der rechtsstaatlich verfassten repräsentativen, individuelle Rechte garantierenden Mehrebenen-Demokratie sein, sondern die Stärkung des öffentlichen Vernunftgebrauchs und der Entscheidungsfindung in den Parlamenten und Verwaltungen durch die Einbeziehung des Sachverstands der Bürgerinnen und Bürger.
Gegen die Transformation zu einer radikalen digitalen direkten Demokratie sprechen drei Gefahren, die damit verbunden wären: Populismus, kollektive Irrationalität und Kompetenzverlust. Eine gute Praxis der digitalen Transformation der Demokratie stärkt ihre Repräsentativität und ihre Inklusivität. Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern erweiterte Möglichkeiten, sich an der legislativen und exekutiven Praxis zu beteiligen und damit die Demokratie zu stärken.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die für die Demokratie so essentielle Repräsentativität und Inklusivität nur mithilfe digitaler Tools in dem Maße geschehen kann, was bedeutet: Digitale Tools sollten umfassend eingesetzt werden, um die Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere in ihrem lokalen und sozialen Nahbereich, aber auch hinsichtlich existenzieller Fragen gesellschaftlicher Entwicklung für eine Revitalisierung der Demokratie zu nutzen. Die digitalen Tools können so ein wichtiges Mittel sein, damit Bürgerinnen und Bürger mit niedriger Hemmschwelle, wenig Zeitaufwand, ohne räumliche Bindung und allgemeinverständlich sich politisch proaktiv einbringen können. Dabei dienen die digitalen Partizipationstools stets als Mittel – Digitalisierung ist nicht der Endzweck. Vielmehr können durch digitale Partizipationstools Gatekeeper-Funktionen aufgelöst werden und mehr Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich auch in gesamtgesellschaftlich relevante Fragestellungen einzubringen und nicht nur im persönlichen Nahbereich des Wohnortes und der eigenen lokalbegrenzten Gemeinde oder des Bezirks. Aber selbstverständlich setzt dies eine entsprechende Offenheit der Verwaltungen und ihre digitale Aufrüstung voraus.
Eine besondere Herausforderung der digitalen Transformation der Demokratie stellt die sich verändernde Kommunikationsform dar. Die digitale Kommunikation ist ambivalent. Einerseits baut sie Schwellen ab und ermöglicht den Zugang zu Informationen, die zuvor nur Fachleuten zugänglich waren. Zugleich führt die abnehmende Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seriöser Printmedien dazu, dass Standards der Rationalität und Informiertheit auf den Social Media-Plattformen an Bedeutung verlieren und das Ethos respektvollen Meinungsaustauschs erodiert. Um zu verhindern, dass dies zu einer gravierenden Beeinträchtigung der zivilkulturellen Grundlagen der Demokratie führt, müssen gesetzliche Normen zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung, zum Schutz der Meinungsvielfalt und zum Schutz der kommerzfreien Kommunikation etabliert werden.
Der europäische Rechtsrahmen muss so weiterentwickelt werden, dass die einseitige Abhängigkeit von globalen Tech-Monopolisten beendet wird und die aktuelle Praxis der Datenenteignung der Nutzerinnen und Nutzer durch Plattformen wirksam unterbunden wird. Zugleich ist sicherzustellen, dass die großen Datenmengen, die durch die digitale Transformation generiert werden, für Wissenschaft und Forschung, die zivilgesellschaftliche Praxis und die politische Gestaltung des Gemeinwesens zur Verfügung stehen. Denn ohne Daten, keine (empirische) Forschung. Und weil die Riesenmengen an Daten derzeit noch in den Händen der sie erhobenen Unternehmen verweilen und nicht für Wissenschaft und gemeinnützige Zwecke verwendet werden dürfen, werden Innovationen nicht vorangetrieben – obwohl die erforderlichen Daten dafür grundsätzlich verfügbar wären und die daraus erwachsenden Innovationen meistens den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen würden. Selbstverständlich ist der Schutz der Daten der Bürgerinnen und Bürger in höchstem Maße wichtig. Doch es gäbe einfach umsetzbare Mechanismen, um einerseits den Schutz der Daten vor privatwirtschaftlichen Unternehmen und Missbrauch zu gewährleisten und gleichzeitig die anonymisierte Verwendung der Daten durch NGOs und Universitäten zu gewährleisten. Die deutsche Datenschutzpraxis ist in dieser Hinsicht in hohem Maße dysfunktional. Sie soll zu Recht das informationelle Selbstbestimmungsrecht schützen, führt aber in vielen Fällen zur Ineffektivität staatlichen Handelns und blockiert eine Stärkung der Demokratie in Gestalt kommunaler Verfügbarkeit kollektiver Daten. Es gilt eine Balance zwischen Datenschutz und Open Data zu finden.
Der gemeinsame öffentliche Raum der Gründe, das Ringen um das bessere Argument ist konstitutiver Bestandteil der Demokratie. Die durch die digitalen Kommunikationsformen sich bildenden Filterblasen sind daher demokratiegefährdend. Es spricht viel dafür, ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung, wie es das Bundesverfassungsgericht für den Rundfunk vorgeschrieben hat, auch auf die Nachrichtenfunktionen der Social Media auszudehnen. Pluralismus, Minderheitenschutz und wechselseitiger Respekt sollten auch für die Internetkommunikation gelten.
Neben den privaten Social Media-Anbietern sollte in der EU eine digitale Kommunikationsinfrastruktur in öffentlich-rechtlicher Hand etabliert werden, die sich nicht am Unternehmensinteresse eines möglichst langen Verweilens der Nutzerinnen und Nutzer, auch nicht an anderen kommerziellen Interessen, sondern an den Zielen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks orientiert. Hierbei geht es nicht etwa um die Ausdehnung der Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf digitale Plattformen, sondern um eine Infrastruktur als Alternative zu kommerzgetriebenen Angeboten. Dies würde die Demokratie in der digitalen Transformation stärken. Denn es reicht nicht, wenn ARD und ZDF auf Twitter, Instagram & Co. selbst Inhalte teilen – strukturell sind sie dennoch den Regeln und Algorithmen privatwirtschaftlichen und gewinnorientierten Unternehmen verpflichtet. Vielmehr müsste das Öffentlich-Rechtliche eigene Plattformen und Infrastrukturen bereitstellen – etwa in Form einer öffentlich-rechtlichen Informationsplattform – ähnlich der bestehenden Soziale Medienplattformen – wo die Struktur demokratischen Prinzipien unterliegt, eine Austauschplattform für alle Nutzerinnen und Nutzer bereitgestellt wird und die Inhalte den Prinzipien des Öffentlich-Rechtlichen entsprechen. Relevante Stakeholder wären in dem Zusammenhang vor allem die EU-Staaten je individuell, die EU als Ganze und die öffentlich-rechtlichen Medien der unterschiedlichen Länder, sowie natürlich die Bürgerinnen und Bürger der EU.