Foto: unsplash/Etienne Girardet

Für eine gemeinsame, friedliche und sichere Zukunft.

Von Anfang 2020 bis Anfang 2021 erarbeiteten im Rahmen der Körber Strategic Stability Initiative Expert:innen aus China, Russland, den USA und Europa, neunzehn Handlungsempfehlungen für die Zukunft von Rüstungskontrolle und strategischer Stabilität.

Handlungsempfehlungen

Allgemeine Prinzipien

Um die katastrophalen Folgen eines Großmächtekonflikts im 21. Jahrhundert zu vermeiden, sollten die USA, Russland und China eine Reihe allgemeiner Regeln befolgen. Eine Basis hierfür müsste die gemeinsame Überzeugung sein, dass die Vermeidung militärischer Konflikte die grundlegende politische Bereitschaft voraussetzt, sich gegenseitig zuzuhören und Kompromisse zu finden. Die genannten Staaten sollten zudem davon absehen, nukleare strategische Unverwundbarkeit anzustreben. Sie sollten also keine Maßnahmen ergreifen, die die Fähigkeit zum Gegenschlag des jeweils anderen unterminieren. Ebenso sind Forderungen nach unilateralen, also einseitigen, Zugeständnissen nicht dazu geeignet, den Großmächtewettbewerb konstruktiv zu verregeln und strategische Stabilität zu stärken. Rüstungskontrolle hingegen ist ein zentrales Politikinstrument für die Stärkung strategischer Stabilität. Erfolgreiche Rüstungskontroll-Initiativen bedürfen der Zusammenarbeit und müssen allen Beteiligten Vorteile bringen.

Unser heutiges Verständnis von strategischer Stabilität basiert auf den Lehren, die aus den Krisen des Kalten Kriegs gezogen wurden. Mit der zunehmenden Rivalität zwischen den USA, Russland und China scheinen viele dieser Lehren wieder in Vergessenheit zu geraten. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen seither verändert haben, können sich die Großmächte von heute die damaligen Verregelungsansätze zu Nutze machen. Die anhaltende Krise der Rüstungskontrolle und das Fehlen eines konstruktiven Dialogs verleiten dazu, in Nullsummenspielen und Worst-Case-Szenarien zu denken – beides Voraussetzungen für Wettrüsten und Instabilität. Um diesen Trend umzukehren, müssen sich die Großmächte wieder auf die Vorteile von strategischer Zurückhaltung und Rüstungskontrolle besinnen. Gleichzeitig bedarf es eines Dialogs über die Ursachen von Instabilität. Ein solcher Dialog müsste nicht notwendigerweise bereits an konkrete Rüstungskontroll-Maßnahmen gekoppelt sein.

Strategische Stabilität zwischen den USA, Russland und China zu stärken, wird ein langer, ungewisser und schrittweiser Prozess sein. Ein solcher Prozess wird möglicherweise neue Rüstungskontrollkonzepte erfordern, die der ständigen Weiterentwicklung strategischer Erstschlagfähigkeiten Rechnung tragen.
Die beteiligten Parteien sollten eine Agenda für zukünftige Gespräche über strategische Stabilität sehr sorgfältig planen und keinesfalls überlasten. Stattdessen sollten sie gemeinsam daran arbeiten, Bereiche zu identifizieren, die das größte Kooperationspotential bieten. Sie sollten kreativen Ansätzen Priorität geben, aber von großen Entwürfen absehen, die Antworten auf jede potentielle Herausforderung bieten wollen. Gleichzeitig sollten die USA und Russland ihre Bemühungen zur Stärkung strategischer Stabilität auf bilateraler Ebene deutlich intensivieren.

Strategische Stabilität im 21. Jahrhundert verlangt nach neuen und innovativen Konzepten, die sich mit der Asymmetrie von Fähigkeiten befassen. Das betrifft insbesondere die Asymmetrie zwischen den USA und Russland auf der einen Seite (beide verfügen jeweils über ein wesentlich größeres nukleares Arsenal als China) und China auf der anderen Seite (mit einem größeren Arsenal an landgestützten Raketen, die sowohl mit nuklearen als auch mit konventionellen Sprengköpfen bestückt werden können). Die Parteien sollten sich dafür offen zeigen, diese Asymmetrien auf verschiedenen Ebenen anzusprechen – in bilateralen, trilateralen oder multilateralen Gesprächsformaten – abhängig vom spezifischen Problem und den jeweils involvierten Akteuren. Konkrete Sicherheitsbedenken müssen über Fragen des Gesprächsformats gestellt werden. Vielmehr muss sich das Format an der jeweiligen Problemstellung orientieren.

Wie schon zu Zeiten des Kalten Kriegs steigt die Komplexität strategischer Stabilität, wenn Bündnispartner und erweiterte Abschreckung ins Spiel kommen. Während Fragen strategischer Stabilität vor allem die USA, Russland und China betreffen, sollten die Bedenken von anderen wichtigen Akteuren in den jeweiligen Regionen respektiert und berücksichtigt werden. Das schließt auch die Anliegen nicht-nuklearer Staaten und der Bündnispartner weiterer Staaten mit ein. Die Berücksichtigung der Interessen von Bündnispartnern ist von Bedeutung, da direkte und indirekte wechselseitige Zusammenhänge zwischen regionalen Konflikten, der (Nicht-)Verbreitung von Atomwaffen und strategischer Stabilität existieren: Die Stärkung bzw. Schwächung strategischer Stabilität kann zu einem zu- oder abnehmenden regionalen Proliferationsinteresse führen, und umgekehrt. Zur Stärkung regionaler Stabilität sollten die Großmächte daher die Anliegen ihrer Bündnispartner und der Bündnispartner ihrer Rivalen berücksichtigen.

Europa sollte sich aktiver an Debatten zu strategischer Stabilität beteiligen. Konkret können europäische Staaten Diskussionen auf Expert:innen-Ebene ebenso fördern wie Initiativen zur Entwicklung von mehr Kompetenz und Expertise. Zudem kann Europa als vertrauenswürdiger Akteur Plattformen für Dialog und Verhandlungen anbieten. Darüber hinaus sollten europäische Staaten die Großmächte aktiv zur Einhaltung bestehender Normen anhalten. Entscheidend ist, dass Europa nicht weiterhin passiver Zuschauer im Großmächtewettbewerb bleibt, sondern eigene konkrete Vorschläge zur Rüstungskontrolle entwickelt und voranbringt.

Einfach erreichbare Ziele

Transparenz wird oft als ein erster Schritt in Richtung ambitionierterer Rüstungskontrollmaßnahmen gesehen, trifft allerdings nicht immer auf positive Resonanz bei allen Parteien. Als Zwischenlösung könnten die USA und Russland vorbereitende Maßnahmen treffen und relevante Erfahrungen und Expertise mit anderen Staaten teilen. Diese könnten sich somit mit grundlegenden Konzepten, Prozessen, und Praktiken der Rüstungskontrolle vertraut machen. Der Fokus könnte dabei zunächst auf dem allgemeinen Mehrwert und den technischen Parametern von Verifikation liegen. Technische Fachexpert/innen, Vertreter/innen des Militärs und hochrangige Diplomat/innen könnten regelmäßig mit einbezogen werden. All dies könnte zu einem gemeinsamen Verständnis beitragen, was Rüstungskontrolle leisten kann. „Bottom-Up“-Initiativen in Form von Expert/innendialogen könnten solche Bemühungen zusätzlich stärken. Eine Abkopplung von Expert/innen- und diplomatischen Communities in einer Zeit zunehmender Großmachtrivalität könnte so verhindert werden. Gleichzeitig können Formate dieser Art dazu beitragen, gleichwertige Fachexpertise aufzubauen.

Das bestehende Dialogformat zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des VN-Sicherheitsrats (P5) – initiiert im Jahr 2009 für den regelmäßigen Austausch zu nuklearen Themen – könnte als Rahmen für Gespräche zur Minimierung strategischer Risiken und vertrauensbildender Maßnahmen dienen. Zur Verbesserung der Krisenkommunikation könnten sich die P5 auf den Aufbau von „Hotlines“ zwischen allen Parteien verständigen und sich gegenseitig über geplante Raketenstarts in Kenntnis setzen. Solche Maßnahmen würden zu größerer Berechenbarkeit führen und Missverständnissen, die eskalieren könnten, vorbeugen.

Da die Begrenzung oder Reduktion nuklearer Arsenale vergleichsweise schwierig zu erreichen ist, könnten zunächst gemeinsame politische Erklärungen ein kooperativeres Umfeld vorbereiten. Eine Erneuerung der Reagan-Gorbatschow-Erklärung, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen sei und niemals geführt werden dürfe, könnte dafür ein wichtiger Schritt sein. Zusätzlich wären Zusicherungen wichtig, keine Präventivschläge gegen die nuklearen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme der gegnerischen Seite durchzuführen.

Zukünftige Verhandlungen werden auf kompetente Expert/innen angewiesen sein. Angesichts fehlender formeller Gespräche im letzten Jahrzehnt werden Russland und die USA aller Voraussicht nach mehr Diplomat/innen, technische Expert/innen, Wissenschaftler/innen und Jurist/innen einstellen und ausbilden müssen. Dies gilt umso mehr für Staaten mit noch weniger Erfahrung in der Rüstungskontrolldiplomatie.

COVID-19 hat gezeigt, dass ein unerwartetes externes Ereignis, wie eine Pandemie, die Spannungen zwischen Großmächten verstärken und sich negativ auf das allgemeine Sicherheitsumfeld, und damit auch auf Rüstungskontrollbemühungen, auswirken kann. Verschiedene Rüstungskontrollinspektionen und -beobachtungen konnten nicht oder nur begrenzt stattfinden. Wichtige Treffen, wie die Überprüfungskonferenz des Atomwaffen-Sperrvertrags und die New START Bilateral Consultative Commission, mussten verschoben werden. Alle Parteien sollten Lehren aus der COVID-19-Pandemie ziehen, um in vergleichbaren Situationen Dialog, Inspektionen und Beobachtungen möglichst aufrechtzuerhalten und dafür entsprechende sichere Kommunikationskanäle zu entwickeln.

Ambitioniertere Ziele

Für ein zukünftiges Rüstungskontrollregime zwischen den USA, Russland und China könnte ein kombinierter Ansatz („mix-and-match“) in Betracht gezogen werden. So könnten etwa die Bestimmungen des New-START-Vertrags mit den Reichweiten und Systemen des ehemaligen INF-Vertrags (zwischen 500 und 5.500 Kilometern) kombiniert werden. Somit könnte für alle drei Parteien eine gemeinsame Obergrenze für alle strategischen Waffensysteme und für Waffensysteme mit INF-Reichweiten gelten. Darüber hinaus müsste ein solcher Ansatz eventuell auch die geografische Stationierung von Waffensystemen mit INF-Reichweiten berücksichtigen, da solche Systeme durchaus auch als „strategisch“ angesehen werden könnten, beispielsweise wenn sie nahe der gegnerischen Grenze stationiert werden. Ein solcher Ansatz würde helfen, die asymmetrische Verteilung strategischer Nuklearwaffen der USA und Russlands im Vergleich zu China, und gleichzeitig Chinas großes Arsenal an Raketen mit INF-Reichweite zu adressieren.

Der Ausbau amerikanischer Raketenabwehr wird oft als bewusster Schritt weg vom Prinzip strategischer Stabilität interpretiert. Alle Parteien sollten anerkennen, dass Raketenabwehr trotz divergierender Interessen ein legitimes Thema bei Gesprächen zu strategischer Stabilität ist. Die USA, Russland und China sollten für die jeweilige Gegenseite akzeptable Wege finden, die destabilisierenden Effekte von Raketenabwehrsystemen auf strategische Stabilität zu verringern. Sie sollten dabei anerkennen, dass Raketenabwehrsysteme nicht die Fähigkeit zum Gegenschlag untergraben dürfen.

Vor dem Hintergrund einer Vielzahl neuer politischer und technologischer Risiken sollten die P5- Staaten, wie auch die Atommächte Indien und Pakistan, gemeinsame Gespräche darüber führen, die Reaktionszeiten für Staats- und Regierungschefs in einer eskalierenden Krise zu maximieren. Die genannten Staaten sollten Maßnahmen identifizieren, wie der Zeitrahmen zur Entscheidungsfindung maximiert werden kann und wie andere Parteien dazu beitragen können. Eine gemeinsame Studie zu neuen Risiken im Zusammenhang mit derzeitigen Einsatzstrategien und zu Bedrohungen durch neue Technologien könnte solche Maßnahmen unterstützen. Gleichzeitig sollten die Staaten Diskussionen zur Begrenzung und Verringerung der Risiken eines nuklearen und nicht-nuklearen Überraschungsangriffs auf gegnerische militärische Infrastruktur („counterforce strike“) vorantreiben.

Einsatzstrategien und Doktrinen können eine wichtige Rolle dabei spielen, das Risiko eines offenen militärischen Konflikts zu minimieren. Die Atommächte sollten deshalb nur solche Politiken wählen, die Nötigung und Erpressung mittels Atomwaffen ausdrücklich ausschließen. Zudem sollten die Atommächte in Dialogformaten darlegen, wie ihre jeweiligen Politiken zur Abschreckung beitragen und an welchen Punkten divergierende Wahrnehmungen bestehen. Solche Dialogformate zu nuklearen Doktrinen, zu Fähigkeiten, Einsatzstrategien und impliziten Kommunikationssignalen („messaging“) könnten das Risiko von Rüstungswettläufen reduzieren. Darüber hinaus können sie potenziell destabilisierende Effekte verhindern, wenn beispielsweise eine Seite glaubt, die andere Seite habe eine Doktrin eingeführt, welche die Schwelle zum Atomwaffeneinsatz herabsenkt.

Die zunehmende „Verschränkung“ („entanglement“) nuklearer und nicht-nuklearer Waffensysteme erhöht das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation. Rüstungskontrollmaßnahmen zwischen den USA, Russland, China sowie wichtigen Regionalmächten sollten diese Risiken thematisieren, indem sie sich etwa auf die individuellen Bedrohungswahrnehmungen konzentrieren, die sich aus der Verschränkung von klassischen Waffensystemen und neuen Technologien ergeben. Die USA, Russland und China könnten auch von einer gemeinsamen Studie zu den Eskalationsimplikationen der Verschränkung verschiedener Waffensysteme profitieren. Wo nötig und möglich, sollten Maßnahmen zu einer „Loslösung“ („disentanglement“) dieser Verschränkungen umgesetzt werden.

Als Hyperschallwaffen werden solche Waffensysteme bezeichnet, die eine Fluggeschwindigkeit oberhalb der fünffachen Schallgeschwindigkeit mit hoher Lenkbarkeit kombinieren. Da die Technologie von Hyperschallwaffen noch nicht vollständig ausgereift ist, ist bisher unklar, in welchem Ausmaß diese Waffensysteme strategische Stabilität beeinflussen werden. Einerseits könnten sie die Fähigkeit zum Gegenschlag stärken und es Parteien auch ohne ein vergleichbar großes nukleares Arsenal ermöglichen, ein Mindestmaß an gegenseitiger Verwundbarkeit aufrechtzuerhalten und somit strategische Stabilität stärken. Andererseits könnte die Stationierung von Hyperschallwaffen in strategischen Kontexten den Grad an Ungewissheit erhöhen. So führt etwa die Manövrierbarkeit von Hyperschallwaffen zu Ungewissheiten in Bezug auf möglicherweise avisierte Ziele. Gleichzeitig könnte Unklarheit über die Beschaffenheit des Sprengkopfs – konventionell oder nuklear – bestehen. Zudem führen Hyperschallwaffen zu Herausforderungen mit Blick auf die zur Verfügung stehende Zeit für Früherkennung, Warnung und Entscheidungsfindung. Zur Klärung dieser Risiken und als ein Schritt zur Entwicklung eines Rüstungskontrollmechanismus sollten Staaten die genauen Auswirkungen von Hyperschallwaffen auf strategische Stabilität im Dialog erörtern.

Mit zunehmender technologischer und geopolitischer Konkurrenz wird der Druck steigen, autonome Waffensysteme zu entwickeln sowie KI für militärische Entscheidungsprozesse einzusetzen. Einige Systeme mit integrierter KI könnten die Schwelle für einen Angriff herabsenken und im Fall von technischem Versagen eine Eskalation herbeiführen. Die Staaten sollten deshalb in einem Dialog darlegen, welche Prinzipien sie für die Integration von KI in militärische Waffensysteme als akzeptabel ansehen. Hierfür könnten parallele bilaterale Gespräche zwischen den USA und Russland sowie zwischen den USA und China sinnvoll sein. Multilaterale Gespräche sind ebenfalls denkbar.

Cyber-Bedrohungen stellen vielfältige Herausforderungen an strategische Stabilität und umfassen ein komplexes Umfeld aus Aktivitäten, Zielen und Akteuren. Ihre Regulierung wird notwendigerweise ein punktueller Prozess sein: langfristig angelegt, dezentral, parallel und häufig ad hoc. Die Priorität sollte dabei darauf liegen, Cyber-Bedrohungen mit Bezug zu Nuklearwaffen zu verringern. In einem ersten Schritt sollten die P5-Staaten eine „Risikohierarchie“ für den nuklearen Bereich identifizieren und dabei übereinkommen, dass eine entsprechende Cyber-Rivalität in diesem Bereich zu gefährlich wäre. Darüber hinaus sollten sie auf die Etablierung von Normen und Regeln hinwirken, wie etwa ein Verhaltenskodex, der Cyber-Angriffe gegen gegnerische nukleare Früherkennungs-, Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme untersagt.

Ergebnisse zum Download

Handlungsempfehlungen für die Zukunft von Rüstungskontrolle und strategischer Stabilität