
Foto: Jann Wilken
Vol. 2 A Filetta
Über viele Jahrhunderte hat sich auf Korsika eine einzigartige Vokaltradition entwickelt, die 2009 zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt wurde und seitdem eine neue Blütezeit erlebt. »Paghjella« heißt dieser mündlich überlieferte mehrstimmige und unbegleitete Männergesang, der heute auf frühbarocke Instrumentalkunst und zeitgenössische Klangwelten trifft. Dafür geht das Ensemble Resonanz einen spannenden Dialog mit der korsischen Vokalgruppe A Filetta ein, die sich seit Jahrzehnten um das klingende Erbe ihrer Heimatinsel bemüht.

Traditionelle korsische Vokalpolyphonie, frühbarocke Instrumentalmusik und neuere Werke mit und ohne Gesang – diese abenteuerliche Kombination verspricht viel Abwechslung, lädt aber auch dazu ein, versteckte Bezüge und Gemeinsamkeiten zu entdecken.
Hier treffen sakrale Gesänge auf alte und mikrotonale Musik. In Workshops finden die Ensembles zusammen, befragen sich selbst, werden von Catherine Lamb zu einem radikal utopischen Klangkörper verbunden, der, auf die Welt hörend, wie ein einziges Instrument zu klingen scheint.
Mehrstimmiger Männergesang in den drei Stimmlagen Seconda, Terza und Bassu hat in der korsischen Volksmusik eine lange Geschichte, die allerdings nie genauer dokumentiert wurde. Rein mündlich wurden die Lieder und Gesangstechniken von Generation zu Generation weitergegeben, bis sie im 20. Jahrhundert fast in Vergessenheit geraten wären. Ab den 1970er Jahren hauchten Gruppen wie A Filetta der Tradition neues Leben ein. Die weltlichen wie auch religiösen Lieder der sogenannten »Paghjella« widmen sich unterschiedlichsten Themen: Das Spektrum reicht von Totenklage über Krieg, Exil und Gefängnis bis zu Arbeit, Heimatverbundenheit und natürlich Liebe. Die Harmoniefolgen stehen dabei stets fest, doch die Schnörkel und Verzierungen der Oberstimmen lassen auch Raum für Improvisation. Ähnlich verhält es sich oft bei den Instrumentalstücken des Frühbarock. Anders als die korsischen Volksgesänge sind sie zwar in Notenschrift überliefert, doch längst nicht so detailliert, wie dies im 18. und 19. Jahrhundert zum Standard wurde. Eine bezifferte Bass-Stimme und ein dürres Melodiegerüst müssen von den Ausführenden mit Leben erfüllt werden.
Konzertmitschnitt aus der
Kölner Philharmonie (21. August 2022)
Catherine Lamb

Geboren 1982 in Olympia, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Washington, brachte Lamb bereits mit elf Jahren eigene Stücke zum Klavierunterricht mit. Für die US-Amerikanerin war das Komponieren schon damals eine mathematische Aufgabe, eine Frage der Berechnung. Ihre meditativen, unendlich langsamen Klangwelten nutzen nicht die vertraute wohltemperierte Tonleiter, in der alle Töne denselben Abstand haben wie die Tasten auf einem Klavier, sondern eine reine bzw. »rationale« Stimmung, wie sie sie selbst nennt. Sie basiert auf den Berechnungen der griechischen Antike und bestimmt die Intervalle nach perfekten mathematischen Verhältnissen: Oktave 1:2, Quinte 2:3, Quarte 3:4 und so weiter. Dabei können interessante mikrotonale Verschiebungen entstehen, die schon Pythagoras beschäftigten. So ist es letztlich nicht die Komponistin, die mit Klang experimentiert, sondern die vorgeprägten Ohren des Publikums, das hier zum aktiven Zuhören aufgefordert wird.
Foto: Jann Wilken