Hans Clevers im Büro

Friedrun Reinhold

Hans Clevers (2016):
Ersatzorgane aus der Petrischale

Der niederländische Biologe und Mediziner Hans Clevers erforscht schwerpunktmäßig adulte Stammzellen, die geschädigtes Körpergewebe reparieren können. 2009 entwickelte er eine Methode, entnommene Stammzellen praktisch unbegrenzt zu vermehren. Damit lassen sich in der Petrischale Organoide züchten – etwa winzige Därme, Mägen und Lebern. Diese Mini-Organe eignen sich nicht nur zum Testen von Medikamenten, was künftig weniger Tierversuche erforderlich macht, sondern auch als Ersatz für erkrankte Organe. 2013 gelang es dem Preisträger, Stammzellen aus dem Darm von Patienten mit der Erbkrankheit Mukoviszidose in vitro gentechnisch zu reparieren und anschließend zu gesunden Organoiden zu vermehren. Mit den Mitteln des Körber-Preises hofft Clevers Patienten mit Erbdefekten der Leber gentherapeutisch von ihren Leiden befreien zu können.

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Hans Clevers – Körber-Preisträger 2016

Ersatzorgane aus der Petrischale

Text: Claus-Peter Sesín
Fotos: Friedrun Reinhold

Wer heute einen weltweiten Streifzug durch die Labors der Stammzellenforscher unternähme, könnte meinen, sich in einen Frankenstein-Film verirrt zu haben: Auf den Tischen der Wissenschaftler stehen Schalen, in denen lebende Organe wachsen. Die winzigen, nur wenige Millimeter messenden Zell-Bällchen sind teils bereits funktionsfähige Frühstadien von Därmen, Mägen, Lebern, Nieren, Herzen, Vorsteherdrüsen und sogar Gehirnen. Wollen die Wissenschaftler diese Mini-Organe zu voller Größe züchten, um sie dann eines Tages wie im 1818 erschienenen Horror-Roman von Mary Shelley zu einem Monster zusammenzunähen?

Mit diesen Vorstellungen wäre der Besucher buchstäblich im falschen Film. Nicht minder sensationell aber ist, was die Forscher mit den Organoiden tatsächlich vorhaben: Die aus körpereigenen Stammzellen gezüchteten Mini-Organe versprechen eine medizinische Revolution. Schon bald könnten Organoide defekte Därme, Lebern oder Mägen ersetzen. Statt eines kalten Metall- oder Kunststoffkonstrukts oder eines körperfremden Spenderorgans erhält der Patient ein natürliches Ersatzorgan, das mit dem kranken Original in seinem Körper praktisch identisch ist – nur eben gesund. Die eigentliche Heilung erfolgt außerhalb des Körpers: Nach Entnahme der erkrankten Stammzellen werden diese mit den neuesten Methoden des Genetic Editing hochpräzise repariert. Anschließend wachsen die genetisch korrigierten Stammzellen in Petrischalen zu gesunden Organoiden heran. Diese können nach Reimplantation schrittweise das beschädigte Organ ersetzen. An Mäusen wurde diese neuartige Variante der Gentherapie bereits erfolgreich getestet.

Einer der wegbereitenden Pioniere dieses neuen Forschungsgebiets ist Hans Clevers. Der niederländische Biologe und Mediziner hat 2009 ein neues Standardverfahren entwickelt, mit dem sich entnommene adulte Stammzellen außerhalb des Körpers praktisch unbegrenzt vermehren lassen. Die so entstehenden Organoide funktionieren in vitro (in der Petrischale) ähnlich wie das entsprechende Originalorgan in vivo (im Körper). Die Entdeckung des Preisträgers löste einen regelrechten Boom aus: Inzwischen züchten eltweit über 200 Forscher-Teams nach der Clevers-Methode Mini-Organe aus adulten Stammzellen.

Das Verfahren funktioniert sowohl mit gesunden als auch mit kranken Stammzellen. Deshalb können Forscher auch aus Krebswucherungen die dann schadhaft entarteten Stammzellen isolieren und daraus lebende Modelle der Tumoren züchten. Das geht sogar in mehreren Petrischalen gleichzeitig. Bereits heute sind Ärzte in der Lage, in jeder dieser Petrischalen ein unterschiedliches Krebsmedikament zu testen. Nach Abschluss der Tests verabreichen sie dem Tumorpatienten dann jenes Medikament, das am besten gewirkt hat. „Statt Krebspatienten mit einer unspezifischen Chemotherapie zu traktieren, können wir ihnen das Mittel verschreiben, auf das ihre im Labor getesteten Tumor-Organoide besonders gut angesprochen haben“, sagt Hans Clevers. Auch viele Pharmalabors greifen inzwischen auf Organoide zurück. An ihnen lassen sie unter sehr realistischen Bedingungen neue Medikamente testen. Das macht nicht zuletzt viele Tierversuche überflüssig, deren Ergebnisse ohnehin oft nicht eins zu eins auf den Menschen übertragbar sind.

„Statt einen Krebspatienten mit einer unspezifischen Chemotherapie zu traktieren, können wir ihm das Mittel verschreiben, auf das seine im Labor getesteten Tumor-Organoide besonders gut angesprochen haben.“

Hans Clevers

In seiner Zeit als Immunologe an der Universität Utrecht befasste sich Hans Clevers vorrangig mit der Differenzierung von weißen Blutzellen (T-Lymphozyten), die aus blutbildenden Stammzellen im Knochenmark entstehen. Später verschob sich sein Forschungsschwerpunkt auf adulte Stammzellen in Verdauungsorganen – speziell im Dünndarm. Adult steht für erwachsen: Im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen, die nur in frühen Embryonen vorkommen, sind adulte Stammzellen nach der Geburt im Körper vorhanden und können zeitlebens Defekte reparieren. Schneidet man sich beispielsweise in den Finger, stellen Stammzellen in der Haut das defekte Gewebe wieder her. Im Dünndarm beseitigen Stammzellen nicht nur Schäden, sondern erneuern zudem regelmäßig dessen Innenhaut (Epithel). Stammzellen im Dünndarm zählen zu den aktivsten Zellen im ganzen Körper.

Bereits 1745 hatte der Berliner Arzt Johann Lieberkühn anhand von Wachsabdrücken festgestellt, dass aus dem Dünndarm feine Ausstülpungen ragen, die er Krypten nannte. Von innen gesehen sind die Krypten Vertiefungen. Diese engen Höhlen liegen zwischen den fingerartig ins Darminnere zeigenden Zotten, die unter anderem Verdauungssekrete absondern und die Nahrung aufnehmen. An den Böden der Krypten sitzen die Darm-Stammzellen. Deren durch Teilung entstehenden Tochterzellen wandern die Krypten-Wände hinauf und differenzieren währenddessen in die sechs Zelltypen des Darm-Epithels. Nach Austritt aus den Krypten rücken die nun ausgereiften Darmzellen Schritt für Schritt weiter bis an die Spitzen der Zotten, wo sie absterben und dadurch Platz für nachfolgende machen. Auf diese Weise erneuert sich die innere Zellschicht des menschlichen Darms schätzungsweise alle sechs bis acht Tage komplett – die eines Maus-Darms alle fünf Tage. Die hohe Teilungsneigung adulter Stammzellen birgt aber auch ein Krebsrisiko: Wird das Genom einer Stammzelle beschädigt, etwa durch starke Strahlung oder Umweltgifte, kann sie zu einer Tumorzelle entarten.

  • Ein Forscher kultiviert in einer sterilen Werkbank Organoide. Die benötigten Flüssigkeiten werden mit Pipetten (2) in die Schälchen gefüllt. Jedes einzelne der 24 Schälchen (3) bietet Platz für Tausende Organoide.
    Ein Forscher kultiviert in einer sterilen Werkbank Organoide. Die benötigten Flüssigkeiten werden mit Pipetten (2) in die Schälchen gefüllt. Jedes einzelne der 24 Schälchen (3) bietet Platz für Tausende Organoide.

Als Clevers mit seinen Dünndarm-Studien begann, erstaunte ihn, dass sich die Forschung bis dahin fast ausschließlich mit kranken, etwa von Krebs befallenen Därmen befasst hatte, kaum hingegen mit der Regeneration des gesunden Darms. Der Wissenschaftler interessiert sich besonders für die biochemischen Signale, die Darm-Stammzellen bei der routinemäßigen Epithel-Erneuerung, aber auch bei bösartigen Wucherungen zur Teilung anregen. Auslöser sind sogenannte Wachstumsfaktoren, die außen an Rezeptoren der Stammzellen docken. Clevers fand nach jahrelangen Studien einen nur auf Stammzellen vorkommenden Rezeptor namens Lgr5, an den der Wachstumsfaktor R-Spondin andockt. Dank des Lgr5-Markers lassen sich Darm-Stammzellen leicht aus entnommenem Darmgewebe isolieren. Auch Stammzellen vieler anderer Organe – etwa Leber, Magen, Bauchspeicheldrüse, Nieren, weibliche Brüste und männliche Vorsteherdrüsen (Prostata) – haben den Lgr5-Rezeptor.

2009 gelang Clevers eine weitere Sensation: Gemeinsam mit seinem japanischen Postdoc Toshiro Sato erzeugte er aus einer einzelnen Darm-Stammzelle ein Darm-Organoid, das viele Monate in der Petrischale überlebte. Als Zutaten benötigte das Team einen Cocktail aus mehreren Wachstumsfaktoren sowie eine gelartige Eiweißmatrix, die als Stützgerüst die dreidimensionale Ausbreitung des Organoids ermöglicht. Zuvor hatten Forscher bei solchen Zuchtexperimenten nur zweidimensional gearbeitet.

An Labormäusen konnte der Preisträger bereits nachweisen, dass reimplantierte Leber-Organoide tatsächlich Leberfunktionen übernehmen können. Dies zeigt deren prinzipielle Eignung als Ersatzorgan. Spenderlebern könnten daher eines fernen Tages überflüssig werden. Die Lebertherapie der Zukunft könnte so aussehen, dass einem Patienten die aus seinen eigenen Leber-Stammzellen gezüchteten und gentechnisch reparierten Leber-Organoide ins Blut oder direkt in die Leber eingespritzt werden und dann sukzessive die kranke Leber ersetzen.

Diese Plastikröhrchen enthalten winzige Mengen teurer Reagenzien.
Diese Plastikröhrchen enthalten winzige Mengen teurer Reagenzien.

Leber-Organoide haben gegenüber Spenderlebern den enormen Vorteil, dass sie aus körpereigenen Stammzellen hergestellt werden. Daher tritt nach Implantation der Organoide keine immunologische Abstoßungsreaktion auf. Clevers konnte dies in seinen Mausversuchen bereits experimentell bestätigen. Wer hingegen eine fremde Spenderleber erhält, muss zeitlebens immunsuppressive Medikamente einnehmen, die zwar einer Abstoßung vorbeugen, zugleich aber das eigene Immunsystem schwächen und damit die Krankheitsanfälligkeit, etwa für Infektionskrankheiten, erhöhen. In den USA geht jeder achte Tod auf versagende Lebern oder Spenderlebern zurück.

Mit den Mitteln des Körber-Preises will Hans Clevers auch erste Schritte in Richtung Gentherapie unternehmen. Ein vor vier Jahren entwickeltes Verfahren namens CRISPR/ Cas9 ermöglicht, Defekte in der Erbsubstanz DNA präzise zu reparieren. Damit können sogar einzelne Nukleotide (Buchstaben) auf der DNA „editiert“ werden. Bereits 2013 gelang es Clevers, Darm-Stammzellen von Patienten, die an der monogenen Erbkrankheit Mukoviszidose leiden, mit dem CRISPR/Cas9-Verfahren von diesem Gendefekt zu befreien. Aus den korrigierten Stammzellen erzeugte Darm-Organoide zeigten bei In-vitro-Tests, dass sie von Mukoviszidose geheilt waren. Es handelte sich allerdings nur um eine Machbarkeits-Studie; Transplantationen von Organoiden in Patienten wurden nicht durchgeführt.

Diesen Schritt will Hans Clevers erst in Zukunft bei Patienten wagen, die an zwei seltenen monogenen Erbschäden in der Leber leiden – Tyrosinämie Typ I und Alpha1-Antitrypsin-Mangel. Bei diesen Patienten sollen die mittels CRISPR/Cas9 vom Gendefekt befreiten Leber-Organoide nach ausgiebigen Sicherheitstests, die eine DNA-Analyse des gesamten reparierten Genoms umfassen, auch tatsächlich reimplantiert werden. Clevers und Kollegen hoffen, dass die eingebrachten reparierten Zellen nach und nach die erbdefekten ersetzen und die Patienten auf diese Weise nachhaltig von ihren Malaisen kuriert werden. Bei Erfolg wäre es die erste mit kultivierten adulten Stammzellen durchgeführte Gentherapie beim Menschen.

Organoide lassen sich nicht nur nach der Clevers-Methode, also aus adulten Stammzellen, züchten, sondern auch aus sogenannten pluripotenten Stammzellen. Das Wörtchen pluripotent bedeutet, dass sich diese Stammzellen durch Differenzierung zu jeder im Körper vorkommenden Zelle entwickeln können. Zu den pluripotenten Stammzellen zählen die embryonalen Stammzellen. Mit einem neuartigen Verfahren können pluripotente Stammzellen aber auch aus normalen adulten Körperzellen, etwa Hautzellen, erzeugt werden. Dazu werden die adulten Zellen einfach in ein embryonales Stadium zurückprogrammiert. Ergebnis dieser Reprogrammierung sind sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen).

Für die Züchtung von Organoiden für Transplantationszwecke sind iPS-Zellen allerdings weniger gut geeignet, weil iPS-Organoide bislang zur Tumorbildung neigen. „Das ist vermutlich eine Folge der starken Zellmanipulationen, die für die Erzeugung der iPS-Zellen vorgenommen werden müssen“, kommentiert Hans Clevers. „Hingegen entstehen in Organoiden aus adulten Stammzellen, wie DNA-Sequenzierungen ergeben haben, nur sehr selten Mutationen.“

Adulte Stammzellen seien zwar weniger vielseitig als iPS-Zellen. „Doch dafür können sie das, wofür sie von Natur aus geschaffen sind, die Wiederherstellung beschädigten Gewebes in ihrer Umgebung, praktisch perfekt“, sagt der Preisträger. Hinzu kommt, dass sich adulte Stammzellen bereits in fertigem Zustand aus entnommenem Körpergewebe isolieren lassen, während die Erzeugung von iPS-Zellen bis zu mehrere Monate dauern kann. Oft haben sich erst dann hinreichend viele iPS-Zellen in den Proben gebildet.

Hans Clevers im Zebrafisch-Aquarium des Hubrecht-Instituts: "Genetische Experimente führen wir nicht nur an Mäusen durch, sondern auch an Fischen. Fische sind Wirbeltiere und haben – wie Menschen – Magen, Darm, Leber und Bauchspeicheldrüse."
Hans Clevers im Zebrafisch-Aquarium des Hubrecht-Instituts: "Genetische Experimente führen wir nicht nur an Mäusen durch, sondern auch an Fischen. Fische sind Wirbeltiere und haben – wie Menschen – Magen, Darm, Leber und Bauchspeicheldrüse."

IPS-Zellen galten nach ihrer Entdeckung zunächst als das Nonplusultra der Stammzellenforschung. Doch nachdem Clevers 2009 sein Verfahren zur unbegrenzten Vermehrung adulter Stammzellen in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht hatte, rückte das Verfahren wieder stärker in den Fokus der Forscher, und um die iPS-Zellen wurde es ruhiger. Viele von Clevers’ Kollegen pickten sich in Utrecht ein sie speziell interessierendes Organsystem heraus, um die Forschung anschließend in eigener Regie fortzusetzen, häufig im Ausland.

So baut etwa Sina Bartfeld, zuvor Mitglied im Clevers-Team, heute am Institut für Molekulare Infektionsbiologie in Würzburg eine Arbeitsgruppe zur Züchtung von Mini-Mägen auf. An diesen will die Biologin unter anderem die Entstehung von Magengeschwüren studieren. „Bis Mini-Mägen aus adulten Stammzellen entstehen, dauert es lediglich zwei Wochen“, schwärmt Bartfeld. „Das Faszinierende ist, dass sich die Magen-Organoide selbständig organisieren und weiter wachsen. Die von Hans Clevers entwickelte Kulturtechnik ist eine unerschöpfliche Quelle von humanen Zellen eines bestimmten Gewebes“. Vorteilhaft sei weiterhin, dass man die adulten Stammzellen nicht verändern müsse. „Man kann sie in dem Zustand verwenden, in dem man sie entnommen hat“, so Bartfeld. Außerdem ist die Kulturtechnik einfach zu erlernen, und die Mini-Organe sind leicht zu handhaben, da man sie problemlos einfrieren, auftauen und verschicken kann.

Die Möglichkeit, Organoide einzufrieren, nutzt Clevers auch selbst. 2015 begann er mit dem Aufbau einer umfassenden Organoid-Biobank, in die tiefgekühlt in flüssigem Stickstoff Darm-Organoide von Darmkrebspatienten sowie von gesunden Patienten für Forschungszwecke eingelagert werden. Parallel dazu werden die Genom-Daten der jeweiligen Stammzellen-Spender in einer Datenbank gespeichert. Die Organoide und die zugehörigen Gen-Informationen stehen Forschergruppen aus aller Welt zur Verfügung.

  • Organoide werden in sterilen Werkbänken (1) gezüchtet. Filter im Luftstrom verhindern, dass Bakterien eindringen. Zum guten Gedeihen benötigen Organoide eine Temperatur von 37 Grad Celsius, die ein Kontrollfeld (2) anzeigt. Das Wasserbad (3) hält auch die benötigten Reagenzien auf dieser Temperatur. Das Foto (4) zeigt kultivierte Tumorzellen unter dem Mikroskop.
    Organoide werden in sterilen Werkbänken (1) gezüchtet. Filter im Luftstrom verhindern, dass Bakterien eindringen. Zum guten Gedeihen benötigen Organoide eine Temperatur von 37 Grad Celsius, die ein Kontrollfeld (2) anzeigt. Das Wasserbad (3) hält auch die benötigten Reagenzien auf dieser Temperatur. Das Foto (4) zeigt kultivierte Tumorzellen unter dem Mikroskop.

Hans Clevers und Kollegen arbeiten unter anderem mit Medizinern des Niederländischen Krebs-Instituts in Amsterdam zusammen. Aus Tumorgewebe von Darmkrebs-Patienten, die dort Chemotherapie erhalten, hat das Clevers-Team Organoide gezüchtet. Ziel ist, Prognosen für den faktischen Heilungsverlauf zu erstellen. „Die Onkologen behandeln ihre Patienten so, wie sie es immer tun“, sagt Clevers. „Wir wollen parallel dazu mit Laborversuchen an den Organoiden überprüfen, ob wir das Therapieergebnis hätten vorhersagen können“. Weiterhin unternimmt das Clevers-Team eine Studie an Patienten, die an Darmkrebs in fortgeschrittenem Stadium leiden. „Für solche Patienten gibt es keine Standardheilmethode“, sagt der Forscher. „Wir erzeugen aus deren Tumorzellen Organoide und testen an diesen unterschiedliche Medikamente. Anschließend teilen wir den Ärzten mit, welches Medikament am besten gewirkt hat“. Das Ergebnis liegt relativ schnell vor, oft innerhalb weniger Wochen.

Im Rahmen seiner Grundlagenforschung hat sich Clevers vor allem mit den Mechanismen befasst, die zur Teilung von Stammzellen führen. Eine wichtige Rolle spielen dabei auf den Zellmembranen sitzende Transmembran-Rezeptoren. Sie heißen so, weil ein Teil von ihnen wie eine Antenne nach außen ragt, während ihre Wurzel ins Zellinnere zeigt. An die äußere Antenne können sich nur ganz bestimmte extrazelluläre Botenstoffe binden, die wie ein Schlüssel in das Schloss der Antenne passen. Dieses Schlüssel-SchlossPrinzip verhindert gleichsam Fehlalarme. Bindet sich ein solcher Botenstoff an die Antenne, schüttet die Wurzel des Rezeptors im Zellinnern sekundäre Botenstoffe aus, die oft über mehrere Stufen spezifische Reaktionen auslösen, beispielsweise die Zellteilung. Fachsprachlich wird diese Reaktionskette als Signalkaskade bezeichnet.

Die Teilung einer Stammzelle ist ein hochkomplexer Vorgang. Denn dafür sind mehrere externe Botenstoffe gleichzeitig erforderlich, die an unterschiedliche Rezeptoren andocken. Einer dieser Botenstoffe ist der Wachstumsfaktor R-Spondin, der an den von Clevers entdeckten Lgr5- Rezeptor bindet. Diese Bindung verstärkt den sogenannten Wnt-Signalweg, den Hans Clevers im Detail erforscht hat.

Im Keller des Hubrecht-Instituts untersuchen Hans Clevers und einer seiner Kollegen die mikroskopische Struktur von Organoiden.
Im Keller des Hubrecht-Instituts untersuchen Hans Clevers und einer seiner Kollegen die mikroskopische Struktur von Organoiden.

Wnt ist ebenfalls ein Wachstumsfaktor. Am Ende des Wnt-Signalwegs steht ein Protein namens Beta-Catenin. Dieser Stoff wird in Stammzellen zwar ständig produziert, jedoch gleichzeitig durch andere Proteine abgebaut, so dass er normalerweise nicht aktiv werden kann. Dies ändert sich, sobald der Wachstumsfaktor Wnt an seinen Rezeptor andockt. Dann kommt im Zellinnern die Wnt-Signalkaskade in Gang, die den Abbau von Beta-Catenin hemmt. Dadurch steigt die Konzentration dieses Proteins in der Zelle stark an. Folge: Beta-Catenin dringt nun auch in den Zellkern und bindet an sogenannte Transkriptionsfaktoren, die das Auslesen der Erbsubstanz DNA auslösen. Die Gene, die auf dem Wnt-Signalweg aktiviert werden, bestimmen gemeinsam mit anderen, ob eine Stammzelle eine Stammzelle bleibt, sich weiter teilt oder zu einem anderen Zelltyp differenziert.

Ein zentraler Baustein des Wnt-Signalweges ist das Tumorsuppressor-Protein APC (Adenomatous Polyposis Coli). Dieses „Wächterprotein“ verhindert eine unkontrollierte Zellteilung – und spielt auch in Tumorzellen eine wichtige Rolle: Clevers und Kollegen haben festgestellt, dass in fast allen malignen Darm-Stammzellen von Darmkrebs-Patienten das APC-Gen mutiert ist. Durch diesen Defekt kann das APC-Protein seine Wächterfunktion nicht mehr erfüllen – was die für Krebs typische unkontrollierte Zellteilung zur Folge hat. „Das ist so, als würde die Darm-Stammzelle dauerhaft ein Wnt-Signal zur Teilung erhalten“, erklärt der Preisträger.

Hier leuchten einzelne Darm-Stammzellen und deren Tochterzellen in jeweils anderen Farben. Um dies zu erreichen, haben die Forscher in die Maus-Gene unterschiedliche fluoreszierende Proteine eingeschleust.
Hier leuchten einzelne Darm-Stammzellen und deren Tochterzellen in jeweils anderen Farben. Um dies zu erreichen, haben die Forscher in die Maus-Gene unterschiedliche fluoreszierende Proteine eingeschleust.

Hans Clevers ist für seine bahnbrechenden Entdeckungen bereits mit vielen hochkarätigen Forschungspreisen geehrt worden. Als er 2013 den renommierten „Breakthrough Award“ erhielt, lud er im Rahmen der Feierlichkeiten zu einem Symposium ein, auf dem die Wissenschaftler noch einmal ihre bisherige Forschungsarbeit im Clevers-Team Revue passieren ließen.

Dabei machte der Preisträger eine aufschlussreiche Erfahrung. „Aus meiner eigenen Erinnerung schien die Arbeit unseres Labors eine einzige Erfolgsgeschichte gewesen zu sein. Alles schien sich rückblickend in gerader Linie entwickelt zu haben. Doch als ich nun auf dem Symposium noch einmal die Forschungsberichte meiner Kollegen hörte, wurde mir klar: In Wirklichkeit war unser Labor eine endlose Folge von Fehlern und Irrtümern. Was wir wirklich gut gemacht hatten, war, etwas Vielversprechendes spontan auszuprobieren, zugleich aber rechtzeitig damit aufzuhören, wenn wir bemerkten, dass es nicht zum Ziel führte, und stattdessen etwas anderes zu beginnen. In den seltenen Momenten, in denen wir den Eindruck hatten, auf eine wissenschaftliche Goldader gestoßen zu sein, waren wir bereit, dafür das gesamte Labor umzubauen. Wir haben einfach viele Dinge ausprobiert, und nur die etwa zehn Prozent, die gelungen waren, hatten im Rückblick meine Erinnerung verklärt.“

„In der Molekularbiologie können wir endlos forschen, es gibt Milliarden Effekte zu entdecken. Für ein Problem existieren oft viele unterschiedliche Lösungen. Die Evolution hat sich jedoch nur eine davon herausgepickt, und es wäre arrogant zu glauben, wir könnten dies in unserem Geist rekonstruieren.“

Hans Clevers

Dementsprechend hält Clevers Wissenschaft inzwischen für eine Kunst. Der klassische, auf Hypothesen basierende Ansatz sei verfehlt. „Wir gehen in unserem Team zwar einerseits sehr systematisch vor, unsere Arbeit basiert auf reproduzierbaren quantitativen Systemen. Doch dann fügen wir diesen Systemen auch rein experimentell etwas Neues hinzu und sehen uns unvoreingenommen an, was passiert. Das ist psychologisch schwierig, denn unsere Gehirne stellen gern kausale Beziehungen her – und zwar auch dann, wenn diese falsch sind. Deshalb empfehle ich meinem Team stets, den Geist offen zu halten. Wir müssen Beobachtungen machen, ohne gleich Vermutungen anzustellen, was da wohl vor sich gehe.“

Alles andere sei auch mit Blick auf die Evolution eine Anmaßung: „In der Molekularbiologie können wir endlos forschen, es gibt Milliarden Effekte zu entdecken. Für ein Problem existieren oft viele unterschiedliche Lösungen. Die Evolution hat sich jedoch nur eine davon herausgepickt, und es wäre arrogant zu glauben, wir könnten dies in unserem Geist rekonstruieren.“

Der Körber-Preisträger 2016

Hans Clevers, 1957 in der niederländischen Stadt Eindhoven geboren, richtete bereits als Schüler im Dachstuhl des Hauses seiner Eltern ein provisorisches Chemielabor ein: „Ich fand es toll, die unterschiedlichen Stoffe zusammenzumixen. Von meinem Chemielehrer lernte ich, wie viel Spaß es macht, in einem Labor zu arbeiten.“

Er studierte Biologie und Medizin und promovierte 1985 an der Universität Utrecht in Immunologie. In der Folgezeit schwankte Hans Clevers lange, ob er eine Karriere als Arzt oder als Forscher anstreben sollte: „Die Tätigkeit als Arzt wird täglich sozial belohnt, man erhält viel positives Feedback von den Patienten. Forschung hingegen verspricht die Entdeckung von Neuland, was für mich einen mindestens ebenso großen Reiz hat.“

Als Postdoc am Bostoner Dana-Farber Cancer Institute entschied sich Clevers endgültig für eine Karriere als Wissenschaftler. Nach Holland zurückgekehrt, nahm er an der Universität Utrecht eine Professorenstelle an. Von 1991 bis 2002 lehrte er Immunologie, ab 2002 Molekulargenetik. Parallel dazu war er von 2012 bis 2015 Präsident der Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2015 leitet Clevers die Forschungsabteilung des Utrechter Princess Máxima Center – einer neuen Klinik zur Behandlung krebskranker Kinder.

Zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Errungenschaften Hans Clevers’ zählt die Entwicklung eines Verfahrens zur unbegrenzten Vermehrung adulter Stammzellen. Inzwischen erzeugen Forscher weltweit nach seiner Methode Mini-Organe (Organoide), die eines Tages Spenderorgane überflüssig machen könnten und sich für neuartige Gentherapien eignen.

Wissenschaft betrachtet der bereits vielfach ausgezeichnete Clevers als eine willkommene Herausforderung. „Forschung kann frustrierend sein, weil man zu 90 Prozent der Zeit Misserfolge hat. Ideen erweisen sich als falsch, Experimente scheitern. Man muss eine Persönlichkeit haben, der es reicht, wenige Male pro Jahr wirklich phantastische Momente zu erleben.“

In seiner Freizeit spielt der Niederländer Hockey, fährt Ski und hat bereits mehrmals den New Yorker Marathon absolviert. Und was wäre er am liebsten geworden, wenn es mit der Wissenschaftskarriere nicht geklappt hätte? „Ich wäre dann vermutlich Schriftsteller geworden. Der Job ist noch stärker von Konkurrenz geprägt als der eines Forschers, zugleich aber sehr kreativ – für mich die perfekte Mischung.“

Preisverleihung 2016

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Körber-Preisträger Hans Clevers im Gespräch mit Ranga Yogeshwar

Fotos von der Verleihung des Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2016 an Hans Clevers im Hamburger Rathaus. Die Fotos können im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über den Körber-Preis mit dem angegebenen Fotocredit Körber-Stiftung/David Aussenhofer honorarfrei veröffentlicht werden.

Ersatzorgane aus der Petrischale

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