Svante Pääbo (2018):
Die Gene der Neandertaler
Svante Pääbo gelang das wissenschaftliche Kunststück, aus vielen Jahrtausende alten Knochen von Neandertalern deren komplettes Genom zu rekonstruieren. Für die DNA-Analyse verwendete der schwedische Mediziner moderne Sequenziermaschinen. Damit und dank ausgefeilter Methoden konnten Pääbo und Kolleg:innen die alte DNA vervielfältigen und die Reihenfolge der enthaltenen Bausteine bestimmen. Vergleiche des Neandertaler Genoms mit den Erbanlagen heutiger Menschen ergaben, dass frühe moderne Menschen und Neandertaler vor rund 50 000 Jahren gemeinsamen Nachwuchs gezeugt hatten. Unsere Urahnen verließen zu der Zeit Afrika und wanderten in Europa und Asien ein. Dieser Genfluss stärkte vermutlich das Immunsystem und ermöglichte den frühen modernen Menschen, sich schneller an das kalte nördliche Klima anzupassen.
Die Gene der Neandertaler
Text: Claus-Peter Sesín
Fotos: Friedrun Reinhold
Lange hatten Wissenschaftler:innen geglaubt, es sei unmöglich, DNA aus den Knochen von Neandertalern zu gewinnen. Denn bevor Archäolog:innen die Gebeine ausgruben, hatten diese mindestens 30 000 Jahre lang in tieferen Schichten modriger Höhlen gesteckt – dort, wo die Urmenschen einst hausten und starben. Nach deren Tod waren Heerscharen von Bakterien, Pilzen und anderen Mikroben über die Knochen hergefallen. Dass hinreichend intakte ursprüngliche DNA übriggeblieben war, schien äußerst unwahrscheinlich.
Doch Svante Pääbo konnte die Skeptiker:innen eines Besseren belehren: 2010 veröffentlichte er in der Fachzeitschrift „Science“ eine wissenschaftliche Sensation: Seinem Team war es – allen Unkenrufen zum Trotz – gelungen, 60 Prozent des Neandertaler-Genoms zu entziffern. 2014 hatten Pääbo und Kolleg:innen sogar das gesamte archaische Genom kartiert. Es war das erste Mal, dass Wissenschaftler:innen die kompletten Erbanlagen eines ausgestorbenen Vertreters der Gattung Homo vorlegen konnten.
„Neandertaler sind die engsten Verwandten des Menschen“, sagt Pääbo. „Vergleiche ihres Erbguts mit dem heutiger Menschen sowie anderer Urmenschen und Schimpansen liefern exakte molekularbiologische Antworten auf Grundfragen unserer evolutionären Herkunft“. Dabei könnte künftig auch geklärt werden, welche Eigenschaften den modernen Menschen, der heute die Erde dominiert, zu einem solchen Erfolgsmodell gemacht haben.
Die Idee, die Genome vor Jahrtausenden verstorbener Menschen zu analysieren, kam dem heute 67-Jährigen bereits als Student. Pääbo studierte an der schwedischen Universität Uppsala zunächst einige Semester Ägyptologie und später Medizin. Als Doktorand – er promovierte in Immunologie – entzifferte er in heimlicher Nacht- und Wochenend-Arbeit die DNA einer 2400 Jahre alten ägyptischen Mumie. Mit Genehmigung seines Doktorvaters publizierte Pääbo die Ergebnisse 1985 im renommierten Fachblatt „Nature“ – und erlangte so schon früh fachlichen Ruhm als Pionier des neuen Forschungsgebiets Paläogenetik.
Paläogenetiker analysieren die Genome archaischer Menschen und Tiere und ziehen daraus Rückschlüsse auf den Verlauf der Evolution. Die traditioneller arbeitende Zunft der Paläoanthropologen erschließt die Menschheitsgeschichte durch Vermessung und Kategorisierung hominider Knochenfunde, was aber oft weniger eindeutige Ergebnisse liefert.
„Neandertaler sind die engsten Verwandten des Menschen. Vergleiche ihres Erbguts mit dem heutiger Menschen sowie anderer Urmenschen und Schimpansen liefern exakte molekularbiologische Antworten auf Grundfragen unserer evolutionären Herkunft.“
Svante Pääbo
Als Postdoc arbeitete Pääbo im Team des Evolutionsbiologen Allan Wilson an der University of California in Berkeley. Ab 1990 leitete der Preisträger ein eigenes Labor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1997 wechselte Pääbo als einer von fünf Direktoren an das neu gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo er bis heute als Forscher tätig ist.
Bereits Mitte der 1990er Jahre gelang Pääbo in München ein wichtiger Teilerfolg: Sein Team entschlüsselte einen Teil der relativ kurzen Mitochondrien-DNA eines Neandertalers. Mitochondrien sind winzige „Kraftwerke“, die zu Hunderten in den Zellen schwimmen und diese mit Energie versorgen. Sie verfügen über eine eigene DNA, die sogenannte mt-DNA. Als Pääbo die Neandertaler-mtDNA mit der heutiger Menschen verglich, stellte er fest, dass sich beide deutlich unterscheiden. Damit konnte er molekularbiologisch – die von einigen klassischen Paläoanthropologen vertretene Lehrmeinung widerlegen, Neandertaler seien direkte Vorfahren moderner Menschen. Für die Analyse verwendete Pääbo eine Knochenprobe aus dem Oberarm jenes Ur-Neandertalers, der 1856 als erster im Neandertal bei Düsseldorf gefunden und als Besonderheit erkannt worden war. Dieser Fund begründete die klassische Paläoanthropologie.
Mitochondrien werden über die Eizelle nur von der Mutter vererbt. Daher eignet sich mt-DNA perfekt zum Rückverfolgen mütterlicher Stammbäume. Das Team von Allan Wilson aus Berkeley hat 1986 anhand von mtDNA-Mutationen herausgefunden, dass der Stammbaum aller heute lebenden Frauen auf eine gemeinsame „Ur-Eva“ zurückgeführt werden kann, die vor 100 000 bis 200 000 Jahren in Afrika gelebt hatte. Damit begründete Wilson die „Out-of-Africa“ Hypothese, die den Ursprung des modernen Menschen in Afrika verortet.
Vor etwa 130 000 Jahren begannen frühe moderne Menschen aus Afrika in Richtung Norden auszuwandern. Sie besiedelten nach und nach Europa und Asien und waren gleichsam die Vorhut der heutigen Weltbevölkerung. „Auswanderungswellen“ aus Afrika gab es in der Menschheitsgeschichte allerdings nicht nur einmal, sondern sogar häufig: Bereits vor 1,8 Millionen Jahren drang der Urmensch Homo ergaster, der bereits das Feuer beherrschte und Steinwerkzeuge benutzte, bis in den Kaukasus vor; ein Teil erreichte sogar Ostasien. Vor 1,2 Millionen Jahren schaffte es Homo erectus bis ins heutige Nordspanien. Und in der nächsten Welle, vor rund 600 000 Jahren, zog Homo heidelbergensis – benannt nach einem Knochenfund nahe Heidelberg – nach Europa. Homo heidelbergensis ist möglicherweise gemeinsamer Vorfahr von Neandertalern und modernen Menschen, deren Entwicklungslinien sich vor etwa 450 000 Jahren trennten.
Für seine Analysen der Neandertaler-mtDNA nutzte Pääbo die Mitte der 1980er Jahre erfundene Polymerase-Kettenreaktion, die mit Hilfe des Enzyms Polymerase DNA vermehrt, sowie vollautomatische Sequenziermaschinen. Mit solchen Geräten wurde ab 1990 in den USA auch das Humangenomprojekt begonnen. Die Maschinen waren damals allerdings noch so langsam, dass erst elf Jahre später, im Jahr 2001, das menschliche Genom komplett entziffert vorlag.
Nach der Jahrtausendwende durchlief die DNA-Sequenzierung eine technische Revolution. Die Maschinen wurden immer schneller und kostengünstiger. 2004 konnte Pääbos Team wagen, sich nun auch die komplette DNA in den Zellkernen der Neandertaler vorzunehmen. Diese Zellkern-DNA besteht, wie bei heutigen Menschen, aus drei Milliarden Basenpaaren, die mtDNA hingegen nur aus 16 500.
Die Sequenziertechnik war freilich nicht die einzige Hürde, die Pääbo zu meistern hatte. Die Forscher:innen des Humangenomprojekts hatten den relativen „Luxus“, die DNA heute lebender Menschen sequenzieren zu können – Material, das in Hülle und Fülle intakt vorhanden ist. Pääbo hingegen musste die DNA aus alten Knochen extrahieren, die er von Museumskuratoren und Archäologen erhalten hatte. Und dabei bestätigten sich viele Zweifel der Skeptiker:innen: Bei ihren Analysen stellten Pääbo und sein Team fest, dass bis zu 99,9 Prozent der DNA in den Neandertaler-Knochen von Mikroben stammt, die die Knochen nach dem Tod befallen und zersetzt hatten. Außerdem ist die spärlich verbliebene originale Neandertaler-DNA in viele kurze und teils biochemisch veränderte Bruchstücke zerfallen, die das Team nun wie ein gigantisches Puzzle zum Gesamtgenom zusammensetzen musste.
Ungeachtet der vielen Komplikationen war Svante Pääbo fest entschlossen, das Ziel zu erreichen. Sein Team ersann in den wöchentlichen Konferenzen immer neue Lösungen für die zahlreichen sich auftuenden Probleme. Als besonders schwierig erwies sich, die Neandertaler-DNA von Verunreinigungen mit heutiger menschlicher DNA zu trennen, die etwa von Teammitglieder:innen, Archäolog:innen oder Museumskurator:innen stammte. Vor allem in der Anfangszeit war es Pääbo und anderen Paläogenetikern häufig passiert, dass sie bei ihren DNA-Analysen keine alte DNA, sondern versehentlich ihre eigene oder die von Kolleg:innen vervielfältigten, die die Proben kontaminiert hatte. Was am Tatort von Verbrechen hilft, den Täter zu überführen, verdarb den Paläogenetiker:innen die Arbeit. Auch einige der verwendeten Chemikalien enthielten DNA-Spuren heutiger Menschen.
Als Abhilfe begann Pääbo schon früh damit, nur noch unter Reinraum-Bedingungen zu arbeiten, die den peniblen Anforderungen in der Chip-Industrie entsprechen. So verfügt das 1997 eröffnete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Keller über Reinräume, die exakt nach Pääbos Vorstellungen gestaltet sind und Verunreinigungen minimieren. Die Labors dürfen nur in Schutzkleidung und mit Mundvisier betreten werden, die Luft ist gefiltert, und nachts werden die Labors mit UV-Licht bestrahlt, um etwaige Fremd-DNA, etwa aus Hausstaub, zu zerstören. Außerdem werden die Laborräume regelmäßig mit Chlorbleiche ausgewischt. „Ich hatte, was Verunreinigungen betrifft, eine regelrechte Paranoia entwickelt“, sagt Pääbo. Doch am Ende hat sich seine Akribie ausgezahlt.
„Wir müssen den Original-DNA-Gehalt auf 20 Prozent anreichern. Durch diese Anreicherung wurde die Sequenzierung überhaupt erst ökonomisch erschwinglich.“
Svante Pääbo
Um Kontaminationen vorzubeugen, entnimmt das Pääbo-Team die DNA aus dem Innern der Knochen. Dazu werden die Knochen sorgfältig mit einem Zahnarztbohrer angebohrt. Um sicherzugehen, dass keine Fremd-DNA vermehrt wird, führen die Forscher außerdem regelmäßig Leer-Extrakte durch, bei denen überhaupt kein Material von Neandertalern in die Reagenzien gegeben wird. Wenn bei solchen Kontrolltests dennoch DNA nachgewiesen wird, kann sie nur von Verunreinigungen stammen.
Ein weiteres Problem ist der teils extrem niedrige Gehalt an Original-DNA in den Neandertaler-Gebeinen. Der paläogenetisch ergiebigste Knochen namens Vi80 stammt von einem Neandertaler, dessen Überreste Archäologen in der kroatischen Vindija-Höhle ausgegraben haben. Vi80 enthält immerhin noch vier Prozent originale Neandertaler-DNA. Um noch mehr solcher qualitativ hochwertigen Knochen zu erhalten, besuchte Pääbo das Institut für Paläontologieund Geologie in Zagreb. Dort fand er eine Kiste mit weiteren, stark beschädigten Neandertaler-Gebeinen aus der Vindija-Höhle. Einige dieser Knochen waren absichtlich zerschlagen und trugen Schabspuren von Steinwerkzeugen an den Oberflächen – Indizien für Kannibalismus: „Die Neandertaler in der Höhle von Vindija hatten vermutlich das Pech, auf hungrige Nachbarn zu treffen“. Dies dürfte auch die Ursache für den ungewöhnlich hohen Gehalt an Original-DNA sein: Da diese Knochen schon kurz nach dem Tod vom Fleisch gelöst wurden, trockneten sie schneller, und es konnten sich nicht so viele zersetzende Mikroben einnisten.
Vier Prozent originale Neandertaler-DNA war bereits eine passable Ausgangsbasis, reichte aber zum Arbeiten noch nicht aus: „Wir müssen den Original-DNA-Gehalt auf 20 Prozent anreichern“, sagt Svante Pääbo. Dazu nutzt sein Team verschiedene Tricks, unter anderem molekulare Scheren, die bevorzugt mikrobielles Genmaterial von Pilzen und Bakterien zerschneiden. „Durch diese Anreicherung wurde die Sequenzierung überhaupt erst ökonomisch erschwinglich“, fügt der Schwede hinzu. Zu Beginn des Projektes schickte das Pääbo-Team seine DNA-Extrakte zur Sequenzierung an eine US-Firma, die dafür hohe Gebühren in Rechnung stellte. Und je niedriger der Gehalt an Original-DNA, desto mehr teure Maschinenläufe waren erforderlich. Später wechselte Pääbo auf deutlich schnellere Sequenzierer.
Außerdem weist die DNA unserer vor vielen Jahrtausenden verstorbenen Urahnen typische molekularbiologische Veränderungen auf, die als eine Art Markierung dabei helfen können, sie von DNA moderner Menschen aus Kontaminationen zu unterscheiden: Normalerweise besteht DNA aus den vier Nukleotid-Bausteinen Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T). Pääbo und sein Team fanden jedoch heraus, dass in Bruchstücken alter Neandertaler-DNA das Cytosin infolge biochemischen Verfalls (Verlust einer Aminogruppe) teils durch Uracil (U) ersetzt ist. Uracil ist ein Baustein, der normalerweise nur in RNA vorkommt. Die Polymerase-Kettenreaktion, mit der die Forscher:innen die alte DNA vervielfältigen, vermehrt diese U-Stellen als T-Stellen. Die Folge war, dass dort, wo in der originalen Neandertaler-DNA vor deren Verfall einst ein C stand, das Pääbo-Team nach der Vermehrung nun fälschlicherweise ein T erhielt.
Diese störenden Übersetzungsfehler muss das Team im Computer mit komplizierten Algorithmen statistisch bereinigen. Die Fehler haben aber zugleich den Vorteil, klar aufzuzeigen, dass der fragliche DNA-Abschnitt tatsächlich von einem Neandertaler stammt und nicht von heutigen Menschen, in deren DNA solche CT-Substitutionen nicht auftreten. „Anhand solcher biochemischen Veränderungen können wir mit Hilfe statistischer Computeranalysen bei einem 50 Basenpaare langen DNA-Stück sicher entscheiden, ob es von einem Neandertaler, einem modernen Menschen oder einem Bakterium stammt“, sagt Pääbo.
Doch nicht nur technische Probleme stressten Pääbo und Kolleg:innen, sondern auch die ihnen im Nacken sitzende wissenschaftliche Konkurrenz. Pääbo hatte ab 2005 mit dem Genetiker Edward M. Rubin vom amerikanischen Lawrence Berkeley National Laboratory zusammengearbeitet, der einen anderen Ansatz verfolgte. Dessen Team vermehrte die Neandertaler-DNA wie in der Zeit vor Einführung der Sequenziermaschinen herkömmlich mit Bakterienhilfe. Da sich dieser Ansatz jedoch als zu zeit- und materialaufwendig erwies, kündigte Pääbo die Zusammenarbeit 2006 auf. Rubin und Kollegen machten daraufhin allein weiter und wurden in der Folgezeit zur Konkurrenz – auch bei der Beschaffung der raren NeandertalerKnochen. Pääbo: „Mein größter Albtraum war, dass nach all den Mühen, die wir auf uns genommen hatten, eine andere Gruppe kurz vor uns das Neandertaler-Genom veröffentlicht“.
2010 hatte das Pääbo-Team 60 Prozent des Neandertaler-Genoms entziffert und entschloss sich auch angesichts der Konkurrenz, bereits diesen Zwischenbefund im renommierten Fachblatt „Science“ zu publizieren. 2014 schließlich konnte es das gesamte Neandertaler-Genom kartiert vorlegen.
Nun begann der interessanteste Teil der Arbeit, der Vergleich des Neandertaler-Erbguts mit dem heutiger Menschen. Der DNA-Vergleich verriet, dass es einen Genfluss vom Neandertaler zum frühen modernen Menschen gegeben hatte. Beide Gruppen trafen sich vor etwa 50 000 Jahren und zeugten gemeinsamen Nachwuchs – vermutlich im Nahen Osten. Infolge dieser Vermischung finden sich im Genom heutiger nichtafrikanischer Menschen etwa 1,5 bis 2,1 Prozent Neandertaler-Gene. Dieser Genfluss war für die aus Afrika kommenden frühen modernen Menschen zumindest teilweise vorteilhaft: Neandertaler hatten bereits seit vielen Jahrtausenden in Europa gelebt und waren gut an das nördliche Klima und hiesige Krankheiten angepasst. Die übernommenen Gene stärkten vermutlich die Immunabwehr des modernen Menschen. Auf der Negativseite des Neandertaler-Erbes steht womöglich eine höhere Neigung zu Allergien sowie zu Suchtkrankheiten.
„Wir haben insgesamt etwa 30 000 Positionen gefunden, in denen sich die Genome von Neandertalern von denen fast aller modernen Menschen unterscheiden“, sagt Pääbo. „Sie könnten beantworten helfen, was moderne Menschen, zumindest im genetischen Sinne, modern macht“. In diesen Genom-Regionen steckt höchstwahrscheinlich auch der Schlüssel zu den überragenden kognitiven Fähigkeiten heutiger Menschen.
Neandertaler haben sich rückblickend nicht durch eine hohe Kreativität ausgezeichnet, obwohl sie ein Gehirn hatten, das etwa hundert Kubikzentimeter größer ist als das heutiger Menschen und Gehirnvolumen zumindest von manchen Paläoanthropologen als Referenz für kognitives Potenzial betrachtet wird. Als die Neandertaler vor etwa 39 000 Jahren ausstarben, nutzten sie immer noch ähnliche Steinwerkzeuge wie in ihrer Frühzeit vor 400 000 Jahren. Auch Bootsbau und Fahrten über Wasser blieben ihnen fremd. Im Gegensatz dazu hat sich der moderne Mensch in nur 50 000 Jahren zum Herrscher über Erde und Natur entwickelt und die heutige Kultur und Hochtechnologie hervorgebracht. Womöglich liegt die Antwort für dieses unterschiedliche Innovationstempo in jenen 30 000 Genom-Unterschieden.
2012 gelang Pääbo eine weitere Sensation: Sein Team entschlüsselte das komplette Genom einer anderen Frühmenschenform, die vor etwa 45 000 Jahren in der Denisova-Höhle im westsibirischen Altai-Gebirge gelebt hatte. Für die Gen-Analyse stand den Forschern nur ein kleiner Fingerknochen zur Verfügung, der allerdings sehr gut erhalten war und einen ungewöhnlich hohen Anteil an Original-DNA enthielt. Ergebnis: Der Denisova-Mensch war entfernt mit dem Neandertaler verwandt. Seine Gene steuerten bis zu fünf Prozent zum Genom heutiger Bewohner ostasiatischer Inseln bei. Denisova-DNA findet sich auch zu 0,2 Prozent im Genom der Uramerikaner.
2017 und 2018 analysierten Pääbo und Kollegen besonders gut erhaltene Knochen weiterer Neandertaler aus Belgien, Frankreich, Kroatien und dem Kaukasus, die dort vor 39 000 bis 47 000 Jahren gelebt hatten. Deren Genome ähnelten mehr dem der „europäischen“ Neandertaler, die sich mit dem modernen Menschen vermischt hatten, als dem des Denisova-Menschen. Moderne menschliche DNA fand das Team in diesen Neandertaler-Genomen jedoch nicht: „Es könnte sein“, vermutet Pääbo, „dass DNA größtenteils nur in eine Richtung abgegeben wurde, vom Neandertaler zum modernen Menschen“.
Ziel der Forscher:innen ist, künftig auch sehr kurze DNA-Schnipsel aus nur 20 bis 25 Basenpaaren untersuchen zu können. Damit rücken auch sehr alte oder in warmem Klima besonders stark verwitterte Hominiden-Knochen in ihr Visier, deren DNA infolge natürlichen Abbaus und Zerfalls fast nur noch aus kurzen Bruchstücken besteht. Pääbo hofft, damit unter anderem das Rätsel der Hobbits lösen zu können. Dieser auch Homo floresiensis genannte zwergenhafte Frühmensch – er wurde nur etwa einen Meter groß – lebte bis vor 50000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores. Die DNA der 2003 in einer Höhle entdeckten Hobbit-Knochen ist allerdings wegen des feuchtheißen Klimas besonders stark angegriffen. Unklar ist bislang, von welcher Homo-Art die Hobbits abstammen und ob sie wie die Zwergelefanten auf der gleichen Insel evolutionär eine „Verzwergung“ durchlaufen haben, die ihnen höhere Überlebenschancen bei knappem Nahrungsangebot gab.
Dank der Jagd auf immer kürzere DNA-Abschnitte ist es Pääbos Team kürzlich sogar gelungen, aus 430 000 Jahre alten Hominiden-Knochen, die in der Höhle Sima de los Huesos im heutigen Norden Spaniens gefunden wurden, mt-DNA zu extrahieren. Einige klassische Paläoanthropologen hatten diese Knochen aufgrund ihrer anatomischen Merkmale bislang für Überreste von Homo heidelbergensis gehalten. Pääbo indes konnte nachweisen, dass die Gebeine aus der Sima de los Huesos höchstwahrscheinlich von frühen Neandertalern stammen.
Svante Pääbo verdankt seinen frühen wissenschaftlichen Ruhm einem wissenschaftlichen Irrtum: Die vermeintliche DNA aus der ägyptischen Mumie, die er 1985 vervielfältigtzu haben glaubte, stammte in Wirklichkeit von Bakterien aus den Immunsystem-Versuchen für seine Doktorarbeit, die die MumienProben kontaminiert hatten. Dies wurde Pääbo später klar, als er mehr Erfahrungen mit Extraktionen alter DNA gesammelt hatte: Die von ihm 1985 isolierten DNA-Fragmente waren mit 150 Basenpaaren zu lang für eine 2400 Jahre alte Mumie aus dem heißen Ägypten. Zur Zeit der Veröffentlichung war weder ihm noch den wissenschaftlichen Gutachter:innen von „Nature“ die Verunreinigungsproblematik bewusst.
Dem Renommee Svante Pääbos als Pionier der Paläogenetik – er wurde bereits mit zahlreichen wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet – tat dies freilich keinen Abbruch: „Dies ist oft der typische Gang der Wissenschaft, die neue Forschungsfelder nach der Versuch-Irrtum-Methode erschließt“, sagt der schwedische Mediziner. Entscheidend war, dass die ihm schon als Student vorschwebende Vision, das Erbgut ausgestorbener Homo-Arten zu entziffern, letztlich perfekt aufgegangen ist. Und ohne die fehlerhafte Mumien-Meldung hätte ihm vielleicht die nötige Anfangs-Euphorie für den Aufbruch zu neuen wissenschaftlichen Ufern gefehlt.
Der Körber-Preisträger 2018
Svante Pääbo wurde 1955 als Sohn des schwedischen Biochemikers und Nobelpreisträgers Sune Bergström in Stockholm geboren. Seine Mutter, bei der Pääbo aufwuchs, unternahm mit dem 13-Jährigen eine ausgedehnte Reise nach Ägypten. „Die Frühgeschichte Ägyptens hat mich schon immer fasziniert. Ich war beeindruckt von den Pyramiden, Pharaonen und Mumien“.
Nach dem Abitur studierte Pääbo an der Universität Uppsala zunächst Ägyptologie, brach das Studium jedoch nach einigen Semestern ab, weil ihm in diesem Fachgebiet „alles zu langsam voranging“. Er wünschte sich mehr Spannung und begann auf Anregung seines Vaters ein Medizinstudium. Doch die Faszination für ägyptische Mumien ließ ihn nicht los. Als Doktorand, er promovierte in Immunologie, suchte er in heimlicher Nachtarbeit nach DNA in altägyptischen Mumien und wurde fündig. Damit legte er den Grundstein zur neuen Forschungsrichtung Paläogenetik.
Nach seiner Zeit als Postdoc an der University of California in Berkeley folgte Pääbo 1990 einem Ruf an das Zoologische Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 1997 leitet Svante Pääbo als einer von fünf Direktoren das im gleichen Jahr gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
In München gelang es Pääbo, Teile der Mitochondrien-DNA eines Neandertalers zu extrahieren. 2010 legte seine Leipziger Forschungs-Gruppe die erste Version des Genoms eines Neandertalers vor. 2014 war es komplett kartiert. Vergleiche ergaben, dass heutige Menschen in Europa und Asien Teile des Neandertaler-Genoms in sich tragen.
Seine wenige freie Zeit verbringt Svante Pääbo am liebsten mit seinen beiden Kindern und sagt: „Das füllt mich schon fast vollständig aus in diesen Tagen“.
Svante Pääbo wurde bereits mit zahlreichen hochrangigen Wissenschaftspreisen ausgezeichnet. Mit den Mitteln des Körber-Preises will er seine Methoden weiter verfeinern und künftig noch kürzere und ältere DNA-Schnipsel von Urmenschen untersuchen. „Wir hoffen, damit über 500 000 Jahre alte DNA von Vorfahren der Neandertaler und anderen ausgestorbenen Menschenformen analysieren zu können“.
Preisverleihung 2018
Fotos von der Verleihung des Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2018 an Svante Pääbo im Hamburger Rathaus. Die Fotos können im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über den Körber-Preis mit dem angegebenen Fotocredit Körber-Stiftung/ David Aussenhofer honorarfrei veröffentlicht werden.