Erin Schuman: Erinnerungen schaffen- Neue Erkenntnisse zur Kommunikation zwischen Hirnzellen
Die amerikanische Hirnforscherin Erin Schuman ist eine Pionierin der Neurobiologie. Schumans Forschungen haben das Verständnis dafür revolutioniert, wie Nervenzellen im Gehirn funktionieren. Sie entdeckte, dass und wie die Proteine – die entscheidenden Bausteine der Zellen – an den Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen hergestellt werden. Dieser von ihr aufgedeckte Mechanismus ist die Grundlage für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen, für die Speicherung von Erinnerungen und für die Entwicklung des Gehirns insgesamt. Aufbauend auf ihren Erkenntnissen will die Forscherin mit den Mitteln des Körber-Preises nun krankheitsbedingte Veränderungen der Proteine in den Neuronen untersuchen, um neue Behandlungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Erinnerungen schaffen – Neue Erkenntnisse zur Kommunikation zwischen Hirnzellen
Erinnerungen schaffen – Neue Erkenntnisse zur Kommunikation zwischen Hirnzellen
Text: Linda Geddes
Die US-amerikanische Hirnforscherin Erin Schuman ist eine Pionierin der Neurobiologie. Schumans Forschungen haben unser Verständnis davon revolutioniert, wie die Milliarden von Nervenzellen im menschlichen Gehirn die nötigen Proteine herstellen, um miteinander zu kommunizieren, Hirnfunktionen zu regulieren und Erinnerungen zu bilden. Aufbauend auf diesen Entdeckungen will die Körber-Preisträgerin nun krankheitsbedingte Veränderungen an den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen – den Synapsen – untersuchen. Dies könnte neue Wege zur Behandlung von Hirnkrankheiten wie dem Fragilen X-Syndrom und der Huntington-Krankheit eröffnen.
Die meisten Biologinnen und Biologen untersuchen „kleine runde Zellen“, sagt Erin Schuman. Im Vergleich dazu sind die erregbaren Zellen des Gehirns, die Neuronen, sehr viel komplexer. Neuronen haben zwar auch einen kugelförmigen Zellkörper, der ihre Chromosomen und verschiedene Organellen beherbergt, aber dieser macht nur zehn bis 20 Prozent ihres Volumens aus. Der Rest erstreckt sich in langen Verzweigungen, mit denen jedes Neuron Verbindungen mit etwa 10.000 anderen Neuronen bildet. Die Informationen, die über die Synapsen zwischen den Nervenzellen ausgetauscht werden, ermöglichen uns zu denken, zu fühlen, uns zu bewegen und die Welt um uns herum zu verstehen. „Jede Nervenzelle kann tausend oder mehr verschiedene Informationsströme unabhängig voneinander verarbeiten – eine erstaunliche Leistung!“, so die Direktorin am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Und dieser Informationsfluss hängt vollständig von Proteinen ab.
Abbildungen:
(1) Durch eine von Schumans Labor entwickelte Methode werden die Neuronen (grün) und ein neu produziertes Ribosomen-Protein (rot) sichtbar. Die Zellkerne im Zellkörper sind blau dargestellt.
(2) Das Mikroskop-Bild zeigt eine von Schumans Team entwickelte Microfluidics-Kammer, die mit Neuronen gefüllt ist. Die Zellkörper, sichtbar durch die hier weiß gefärbten Zellkerne,verbleiben im unteren Teil der Kammer. So können einzelne Teile der Nervenzellen – Axone (magenta) und Dendriten (cyan) – unabhängig vom Zellkörper untersucht werden.
(3) Mikroskopie-Bild aus dem Kleinhirn einer Maus.Durch eine spezielle Färbemethode werden Orte der Proteinsynthese (grün) sichtbar.
Proteine sind die Arbeitspferde unserer Zellen. Im Gehirn lassen sie die neuronalen Netze entstehen, durch die wir wahrnehmen, handeln, lernen oder uns erinnern können. Proteine ermöglichen, dass die Milliarden von Neuronen in unserem Gehirn miteinander kommunizieren und die Verbindungen zwischen einander im Laufe unseres Lebens verbessern, umgestalten und instand halten können. In der Hirnforschung wird dieser Prozess der Anpassung neuronaler Verbindungen „synaptische Plastizität“ genannt. Er ist die Grundlage für unsere Fähigkeit, uns anzupassen, aus Erfahrungen zu lernen und uns zu erinnern. Ein Verständnis dieses Prozesses kann uns letztlich helfen, uns selbst als Menschen besser zu verstehen.
Schuman erforscht seit 30 Jahren, wie die Milliarden von Proteinen, die für die Aktivität der Nervenzellen so wichtig sind, hergestellt und in genau den richtigen Mengen zur richtigen Zeit an die richtige Synapse geliefert werden. „In einem einzigen Neuron brauchen wir alle 24 Stunden mindestens 300 Millionen neue Proteine – und das bereits, um nur den Status quo der Zelle zu erhalten“, sagt Schuman.
Zu Beginn ihrer Karriere galt die allgemeine Annahme, dass alle Proteine eines Neurons in dessen Zellkörper hergestellt und dann über die kabelartigen Axone und Dendriten – die Verbindungsstränge, über die Neuronen mit ihren Nachbarzellen verbunden sind – zu den rund 10.000 Synapsen transportiert werden. Mithilfe beharrlicher Forschung und innovativen Methoden haben Schuman und ihr Team diese Auffassung auf den Kopf gestellt.
„Durch Schumans Pionierarbeit wissen wir heute, dass Proteine, die in lokaler Nähe zu den Synapsen gebildet werden, für die Kommunikation der Neuronen während der Gedächtnisbildung ausreichen“, sagt Edvard Moser, Vorsitzender des Search Committee für die Sektion Life Sciences des Körber-Preises.
„Damit hat Schuman eines der Kernprobleme der Hirnforschung gelöst und die lokale Proteinsynthese als Mechanismus für die Entstehung von Erinnerungen etabliert. Dieser Mechanismus erklärt nicht nur, wie synaptische Plastizität bei gesunden Menschen funktioniert, sondern weist auch auf Abläufe in den Synapsen hin, die möglicherweise bei bestimmten Hirnkrankheiten – den Synaptopathologien – gestört sind.“
Mit Hilfe des Körber-Preisgeldes will Schuman nun einige der von ihr und ihrem Team entwickelten Methoden nutzen, um krankhafte Veränderungen der Synapsen zu untersuchen und so die Grundlage für neue Behandlungsansätze zu legen.
„Jede Nervenzelle kann tausend oder mehr verschiedene Informationsströme unabhängig voneinander verarbeiten eine erstaunliche Leistung.“
Erin Schuman
Hungrig nach Wissen
Schuman interessiert sich schon lange dafür, wie das Gehirn Erinnerungen erzeugt. Die 1963 in San Gabriel, Kalifornien, geborene Wissenschaftlerin begeisterte sich für viele Hobbys und verfolgte in ihrer Kindheit Interessen, die vom Malen über Softball bis hin zu Tanzen und Lesen reichten. „In der Schule war ich ganz versessen aufs Lernen, und als ich älter wurde, begann ich selbst darüber nachzudenken, wie all die Dinge, die ich aufnahm, gespeichert wurden und wie sie dann verwendet werden konnten“, sagt sie. „Die Frage, was die Grundlage für die Informationsspeicherung und das Erinnerungsvermögen des Gehirns bildet, hat mich fasziniert.“
Obwohl sie ihr Studium an der University of Southern California mit der Absicht begann, Ärztin zu werden, wandte sie sich immer mehr den Psychologiekursen zu, die während ihres vormedizinischen Studiums angeboten wurden. Als Schumans Tutor ihr Interesse bemerkte, empfahl er ihr wissenschaftliche Arbeiten über das Gedächtnis zu lesen. In der Vergangenheit betrachtete die Psychologie das Gehirn als eine Art Blackbox und beschäftigten sich eher mit den verhaltensbasierten Merkmalen des Gedächtnisses. Doch Schuman wollte immer mehr darüber wissen, was in dieser Blackbox vor sich geht, wenn wir Informationen speichern.
Sie schloss die Universität mit einem BA in Psychologie ab, nachdem sie zunächst eine Studie über das Lernen und das Gedächtnis bei menschlichen Zwillingen durchgeführt hatte. Dazu fuhr sie durch Südkalifornien und testete junge Zwillinge bei ihnen zuhause, eine Erfahrung, die Schuman als „unglaublich chaotisch und ein bisschen seltsam“ beschreibt. „Wenn man ein Experiment entwerfen wollte, um Leute von der Forschung am Menschen abzuschrecken, dann wäre es genau das“, sagt sie.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre Pläne, Medizin zu studieren, aufgegeben, und da sie von der Forschung am Menschen abgeschreckt worden war, begann sie an der Princeton University eine Doktorarbeit in Neurowissenschaften. Dabei brachte sie Meeresschnecken bei, einen Reiz, der sie normalerweise anzieht, nämlich Licht, mit dem unangenehmen Gefühl zu verbinden, mit hoher Geschwindigkeit auf einer Drehscheibe gedreht zu werden. Anschließend untersuchte Schuman ihre Gehirne, um die molekularen Veränderungen zu verstehen, die dieses Lernerlebnis ausgelöst hatte.
Begeistert von dieser Forschung beschloss Schuman, ihre neurowissenschaftliche Laufbahn fortzusetzen, und wechselte an die Stanford University, um eine damals hochmoderne Technik zur Untersuchung von Gehirnzellen zu erlernen: Sie hielt dünne Scheiben von Nagetiergehirngewebe am Leben und setzte winzige Elektroden ein, um Veränderungen in der Aktivität einzelner Neuronen zu messen, sobald diese verschiedenen Stimulationsmustern ausgesetzt waren. Dann begann sie, mit dieser Technik die molekularen Vorgänge an den Synapsen zu untersuchen, die während des Lernens ablaufen.
Lokale Proteinsynthese
1993 hatte Schuman eine Assistenzprofessur am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena erhalten und mit dem Aufbau ihres eigenen Labors begonnen. Zusammen mit ihrer ersten Doktorandin, Hyejin Kang, begann sie zu untersuchen, ob einige derselben Moleküle, die Neuronen und ihre Verbindungen während der Entwicklung formen, auch an der Gestaltung und Stärkung von Synapsen bei Erwachsenen beteiligt sein könnten.
Eine wichtige Entdeckung bestand darin, dass ein Wachstumsfaktor, der als neurotropher Faktor des Gehirns (brain-derived neurotrophic factor oder BDNF) bekannt ist und für die Aufrechterhaltung von Verbindungen im sich entwickelnden Gehirn benötigt wird, auch als synapsenverstärkendes Molekül dienen kann, wenn er auf adulte Hirnschnitte angewendet wird. Um jedoch die Schaltkreise zu stärken – bzw. Plastizität herzustellen –, benötigten die Synapsen sofort neu synthetisierte Proteine.
Proteine werden in winzigen zelleigenen Produktionsstätten, den Ribosomen, hergestellt, wobei molekulare Fotokopien von proteinkodierenden Genen, so genannte Boten-RNA (Messenger RNA, kurz mRNA), als Vorlagen dienen. Diese Vorlagen werden im Zellkern erstellt, wo die Chromosomen aufbewahrt werden, und werden dann in der Regel innerhalb des Zellkörpers zu nahegelegenen Ribosomen transportiert, um Proteine zu produzieren.
Schumans Entdeckung kam überraschend, weil die Zellkörper der Neuronen zu weit von den Synapsen entfernt waren, um neue Proteine so schnell dorthin transportieren zu können. „Das deutete darauf hin, dass die Quelle der Proteinsynthese nicht im Zellkörper, sondern lokal, in der Nähe der Synapsen, lag“, sagt sie.
So unerwartet das Ergebnis auch war, war es nicht das erste Mal, dass jemand das Dogma in Frage stellte, dass alle Proteine in den Zellkörpern von Neuronen hergestellt werden. In den frühen 1980er Jahren hatten Oswald Steward und William Levy von der University of Virginia in Charlottesville elektronenmikroskopische Aufnahmen veröffentlicht, die Ribosomen in der Nähe der Synapsen bestimmter Arten von Neuronen zeigten.
In weiteren Studien wurden zwar einige mRNA-Moleküle in der Nähe von Synapsen nachgewiesen, diese Beobachtungen hatten sich jedoch nicht durchsetzen können. “Noch Anfang der 1990er Jahre war man der Ansicht, dass nur wenige mRNAs zur lokalen Proteinsynthese in die Dendriten transportiert werden und dass die meisten Proteinbestandteile der Synapsen im Zellkörper synthetisiert und transportiert werden“, sagt Steward, der heute Direktor des Reeve-Irvine Research Center in Irvine, Kalifornien, ist.
Schumans Entdeckung kam überraschend, weil die Zellkörper der Neuronen zu weit von den Synapsen entfernt waren, um neue Proteine so schnell dorthin transportieren zu können. Das deutete darauf hin, dass die Quelle der Proteinsynthese nicht im Zellkörper, sondern lokal, in der Nähe der Synapsen, lag.
Allerdings erwies sich die Annahme, dass Proteine vom Zellkörper zu den Synapsen transportiert werden, wenn man sie braucht, als problematisch. „Wenn Proteine tatsächlich im Zellkörper produziert und dann zu den Synapsen transportiert würden, hätte das Gehirn ein riesiges Koordinationsproblem, weil neue Proteine genau zu den zu modifizierenden Synapsen geleitet werden müssten, ohne die vielen Tausend Synapsen derselben Zelle zu berücksichtigen, die nicht an der Lernerfahrung beteiligt sind“, sagt Moser. „Bei Hunderttausenden von Proteinen, die pro Minute in einer Zelle entstehen, wäre der erforderliche Aufwand für das Sortieren und Transportieren astronomisch hoch.“
Schumans Forschungen trugen entscheidend dazu bei, dieses Dogma zu widerlegen. Im Jahr 1996 veröffentlichten sie und Kang eine Arbeit in Science, einer der renommiertesten Forschungszeitschriften der Welt. Darin zeigten sie, dass synaptische Plastizität – ein Prozess, der von neu synthetisierten Proteinen abhängt – auch dann auftreten kann, wenn eine Synapse physisch von ihrem Zellkörper getrennt ist.
Die Entdeckung überraschte fast alle. „Als ich diese Daten erstmals vorgestellt habe, nannten nicht wenige meiner Kollegen die Idee verrückt“, sagt Schuman.
In den darauffolgenden Jahren bestätigten sie und andere diese Erkenntnisse und vertieften sie. Heute ist die Annahme der lokalen Proteinsynthese unter Neurowissenschaftlern weit verbreitet. „Die Arbeit aus dem Jahr 1996 eröffnete einen völlig neuen Untersuchungsbereich zur Bedeutung der lokalen Translation für die neuronalen Funktionen“, sagt Christine Holt, emeritierte Professorin für Entwicklungsneurowissenschaften an der Universität Cambridge, UK. „Sie war somit eine der wichtigsten Triebfedern für die umfassende Erforschung der lokalen Translation in der Entwicklung und Plastizität, die in letzter Zeit stattgefunden hat.“
Abbildung:
FUNCAT und BONCAT sind revolutionäre Methoden, entwickelt von Schuman und ihrem Team. Sie verwenden künstliche Aminosäuren wie das sogenannte NAA, um Proteine in Neuronen sichtbar zu machen.
Sehen heißt glauben
Ein wichtiger Schritt bestand darin, eine Möglichkeit zu finden, die Proteinsynthese in den verzweigten Dendriten der Neuronen direkt sichtbar zu machen. „Ich war überzeugt, dass wir uns und andere davon überzeugen könnten, dass Proteine lokal hergestellt werden können, wenn wir sehen könnten, wie dort neue Proteine entstehen“, sagt Schuman.
Die bisherigen bildgebenden Verfahren waren zu langsam und zu arbeitsintensiv, um die Proteinsynthese in Echtzeit zu dokumentieren, und es war auch sehr schwierig zu erkennen, welche Proteine hergestellt worden waren. Also machten sich Schuman und ihre Kollegen daran, andere Methoden zu entwickeln, um neu synthetisierte Proteine zu identifizieren und zu visualisieren.
In einem ihrer ersten Experimente verwendeten sie das Gen für das grün fluoreszierende Protein – ein Protein, das bei ultraviolettem Licht grün leuchtet – und schickten seine mRNA zu den Dendriten. Dieses Konstrukt mit einem „lokalen Synthese-Reporter“ wurde in Rattenneuronen eingeschleust, so dass sein Standort sofort sichtbar wurde, sobald die Zellen mit der Produktion des Proteins begannen. Auf diese Weise identifizierte Schumans Team die Dendriten als den Ort dieser Proteinsynthese, nahe der Stelle, an dem es an den Synapsen benötigt wird.
Schuman und ihr Kollege David Tirrell haben auch eine völlig neue Technik entwickelt, das so genannte bioorthogonale nicht-kanonische Aminosäure-Tagging (bio-orthogonal non-canonical amino acid tagging oder BONCAT), mit dem neu synthetisierte Proteine in Neuronen, aber auch in allen anderen Zellen, Geweben oder Organen markiert oder sichtbar gemacht werden können. Die Technik findet zunehmend auch außerhalb der Neurowissenschaften Anwendung – unter anderem in der Mikrobiologie, wo sie eingesetzt wird, um die Aktivität von Bakterien im Boden und anderen Umweltproben zu untersuchen.
Bei BONCAT fügt man den Aminosäuren, den Bausteinen der Proteine, winzige chemische Markierungen („tags“) hinzu. Bringt man diese künstlichen Aminosäuren in Neuronen ein, werden sie in neu gebildete Proteine eingebaut, die dann mit einem fluoreszierenden Farbstoff oder einer anderen Markierung versehen werden können.
„Ich erinnere mich, wie ich über Dr. Schumans neue Methode las und mir dachte, dass sie eine außergewöhnlich kreative Wissenschaftlerin ist, und dieser Eindruck hat sich im Laufe der Jahre bestätigt“, sagt Michael Greenberg, Professor für Neurobiologie an der Harvard Medical School in Boston.
Diese Methoden lieferten den visuellen Beweis, der nötig war, um andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon zu überzeugen, dass die Proteinsynthese routinemäßig in der Nähe der Synapsen von Neuronen und nicht nur in deren Zellkörpern stattfindet. „Sehen heißt glauben“, sagt Steward.
Mit BONCAT können die markierten Proteine auch aus den Zellen entnommen und mit einer Technik namens Massenspektroskopie analysiert werden. „Dies hat die Tür zur Identifizierung der neu synthetisierten Proteine geöffnet, so dass man beginnen kann zu fragen, welche Proteine vermehrt oder vermindert werden, wenn Tiere etwas lernen“, sagt Schuman.
Entschlüsselung der Proteinsprache der Neuronen
Im Jahr 2008 wechselte Schuman an das Max-Planck-Institut in Frankfurt am Main, wo sie daran arbeitete, alle mRNAs zu identifizieren, die in Dendriten vorkommen, und herauszufinden, wie viele Arten von Proteinen in der Nähe der Synapsen synthetisiert werden.
Zu diesem Zweck isolierte ihr Team mRNA-Moleküle aus Dendriten und Axonen und setzte eine Technologie namens RNA-Sequenzierung ein, um diese genetischen Fotokopien zu lesen und aufzuzeigen, für welche Proteine sie kodieren. Außerdem entwickelten sie fluoreszierende „Barcodes“, die sich an bestimmte mRNA-Moleküle binden, so dass jeder Typ sichtbar gemacht und gezählt werden konnte.
„Anstelle der 10-20 mRNAs, die zuvor erkannt worden waren, zeigten Schumans Arbeiten, dass Tausende von mRNAs in Dendriten in Mengen von mehr als drei Größenordnungen nachgewiesen werden konnten“, sagt Steward. „Dies war eine echte Revolution in unserem Verständnis: Anstatt auf einige wenige kritische Proteine beschränkt zu sein, konnten die meisten oder vielleicht alle Proteinkomponenten der Synapsen vor Ort synthetisiert werden.“
„Zusammengenommen deuten diese Daten darauf hin, dass die lokale Translation nicht nur ein Mechanismus ist, um während des Lernens neue Proteine zu synthetisieren, sondern ein allgemeinerer Mechanismus, der dazu dient, Synapsen effizient aufzubauen“, sagt Greenberg. Passend dazu hat Schuman in einer neueren Arbeit gezeigt, dass jede Art von Synapse ihr eigenes Repertoire an lokalisierten mRNAs hat. Das bedeutet, dass sich die lokale Proteinsynthese so entwickelt hat, dass sie den Bedürfnissen der einzelnen Synapsenarten entspricht.
Sie vergleicht dies mit der dezentralen Stromerzeugung, die immer häufiger eingesetzt wird, um flexiblere und widerstandsfähigere Energienetze aufzubauen, und zwar indem man Technologien wie Solarpaneele, Windturbinen und Speichersysteme in der Nähe des Ortes aufstellt, an dem der Strom wahrscheinlich verbraucht wird. Indem mRNAs und die Ribosomen, die Produzenten der Proteine, an den Endpunkten der Neuronen platziert werden, können diese auf lokale Anforderungen reagieren und die Verbindungen zwischen den Neuronen stabil halten. Dies ermöglicht auch eine schnelle Anpassung der Synapsen an externe Ereignisse.
„Noch Anfang der 1990er Jahre war man der Ansicht,
dass nur wenige mRNAs zur lokalen Proteinsynthese
in die Dendriten transportiert werden und dass die
meisten Proteinbestandteile der Synapsen im Zellkörper
synthetisiert und transportiert werden.“
Oswald Steward
Synaptische Fehlfunktionen bei Krankheiten
Trotz der großen Fortschritte, die gemacht wurden, gibt es noch viel über dieses System zu lernen. Eine Frage lautet, inwieweit eine gestörte Proteinsynthese bei verschiedenen Erkrankungen und Störungen des Gehirns eine Rolle spielen könnte.
„In den letzten 15 bis 20 Jahren ist klar geworden, dass viele Krankheiten letztlich auf eine synaptische Fehlfunktion zurückzuführen sind“, sagt Schuman. Entweder gibt es ein Problem in den Schaltkreisen des Gehirns, wenn diese zum ersten Mal aufgebaut werden, etwa bei Entwicklungsstörungen wie Autismus-Spektrum-Störungen oder dem Fragilen-X-Syndrom (eine genetische Störung, die das Verhalten und die Lernfähigkeit eines Menschen beeinträchtigt), oder der Verlust von Neuronen und Synapsen führt zu gestörten Gehirnschaltkreisen, etwa bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit.
„Zahlreiche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die synaptische Funktion bei Krankheiten beeinträchtigt wird, und es gibt gute Belege dafür, dass das lokale Proteom – die Gesamtheit der Proteine an jeder Synapse – durch eine gestörte lokale Proteinsynthese beeinträchtigt wird“, sagt Holt.
Während bei früheren Bemühungen, diese Vorgänge auf molekularer Ebene zu verstehen, Proteine aus homogenisiertem Hirngewebe oder ganzen Einzelzellen sequenziert wurden, plant Schuman, einen Teil der Mittel ihres Körber-Preises für Experimente zu verwenden, in denen analysiert wird, welche Proteine und mRNAs in den Synapsen von Mausmodellen des Fragilen X-Syndroms, des Rett-Syndroms und der Huntington-Krankheit zu finden sind.
In den vergangenen fünf Jahren hat ihr Team Methoden entwickelt, um die mRNAs und Proteine, die nur an Synapsen vorkommen, isoliert zu charakterisieren und genau zu bestimmen, von welchen Zelltypen sie abstammen.
„Das ermöglicht es uns, genau zu untersuchen, was an der Synapse in den verschiedenen Krankheitszuständen falsch läuft. Wir können nicht nur danach suchen, ob diese mRNA-Proteinmodule vorhanden sind oder ob sie fehlen, sondern wir können sie auch zählen, um zu verstehen, wie sie bei Krankheiten zusammenwirken bzw. nicht zusammenwirken“, sagt Schuman. „Diese Daten werden sowohl für Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler im Bereich der Grundlagenforschung als auch der translationalen Neurowissenschaft und hoffentlich auch für die klinische Forschung von großem Nutzen sein, da sie die Ausgangsbasis für molekulare Verfahren bilden, die im Erfolgsfall zu potenziellen Behandlungsstrategien für den Menschen weiterentwickelt werden könnten.“
Inspiration für den wissenschaftlichen Nachwuchs
Neben ihren zahlreichen Beiträgen zur wissenschaftlichen Forschung hat sich Schuman intensiv dafür eingesetzt, Frauen und Jugendliche für die Wissenschaft zu begeistern. Dazu zählen die Entwicklung eines Sommer-Forschungsprogramms für Schülerinnen und Schüler und die Einladung zu Seminaren des Instituts, die mit einer einführenden Vorlesung in das Thema einhergehen. Schuman plant, die Fördermittel des Körber-Preises dafür einzusetzen, diese Vermittlungsaktivitäten weiter auszubauen.
Ein Thema, das ihr sehr am Herzen liegt, ist es, die Chancen für Schülerinnen und Schülern aus unterrepräsentierten Gruppen, einschließlich derer aus Familien mit einem Migrationshintergrund, zu verbessern. Bereits existierende Praktika und Forschungsaufenthalte ziehen in der Regel Bewerbende aus sozial begünstigten Schulen und Elternhäusern an, doch diese Programme sind möglicherweise nicht im Blickfeld von vielversprechenden Schülerinnen und Schülern aus weniger gut situierten Verhältnissen. Selbst wenn sie solche Programme kennen, „können sich viele dieser Jugendlichen den Luxus eines Sommerpraktikums nicht leisten, da es in der Regel unbezahlt ist“, sagt Schuman.
Eines ihrer Vorhaben ist es daher, im Sommer ein intensives „Bootcamp“ zu organisieren, in dem die besten Schülerinnen und Schüler aus unterrepräsentierten Gruppen praktische Forschungserfahrung sammeln können – inklusive eines Stipendiums zur Sicherung ihrer Lebenshaltungskosten. Erfolgreiche Kandidatinnen und Kandidaten werden auch während des Schuljahres betreut und kontaktiert, um ihnen dann, falls gewünscht, bei den nächsten Karriereschritten und der Bewerbung an einer Universität zu helfen. „Ich denke, dass die Zusammenarbeit mit Lehrkräften für die Naturwissenschaften an benachteiligten Schulen und der Versuch, einige dieser begabten Kinder zu fördern, eine entscheidende Rolle spielen könnten“, sagt Schuman.
Demut angesichts der Komplexität
Während ihrer gesamten beruflichen Laufbahn hat Schuman versucht, das Geheimnis zu lüften, wie Neuronen diese unglaublichen Leistungen vollbringen. Obwohl sie dazu beigetragen hat, einen wichtigen Teil des Rätsels zu lösen, wird wahrscheinlich erst die nächste Generation von Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern – mit Ausdauer und durch die Entwicklung neuer Techniken – weitere Fragen klären, z. B. wie die Konstellation der Proteine an den Synapsen dauerhafte Erinnerungen erzeugen kann, wo doch jedes Protein nur wenige Tage lang Bestand hat.
Wenn Schuman heute das Bild eines Neurons betrachtet, mit seinen baumartigen Verästelungen, die sich in immer winzigere Ausläufer verzweigen und mit einer Vielzahl ebenso komplexer Zellen verbunden sind, empfindet sie Demut angesichts der Leistungen von etwas so Kleinem. „Wenn ich dieses Bild eines Neurons anderen Menschen zeige, nenne ich es meine Muse“, sagt sie. „Es ist, als würde man ein faszinierendes Gemälde betrachten: Man entdeckt so viele Dinge, die einer Erklärung bedürfen.“
Die Körber-Preisträgerin 2024
Die Preisträgerin
Die Neurobiologin Erin Schuman ist Direktorin am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Die Kalifornierin wurde 1963 als ältestes von drei Kindern geboren und von ihrer Mutter, einer katholischen Lehrerin, und ihren Großeltern aufgezogen.
Als Kind war Schuman eine begeisterte Schülerin und liebte das Lesen. „Ich war vom Lernen wie besessen“, erinnert sich Schuman. Sie erwarb einen Bachelor in Psychologie an der University of Southern California und promovierte anschließend in Neurowissenschaften an der Princeton University. 1990 wechselte sie als Postdoktorandin an die Stanford University, bevor sie 1993 eine Assistenzprofessur und 2004 eine Professur am California Institute of Technology erhielt. Von 1997 bis 2009 war sie Teil des Howard Hughes Medical Institute. 2009 zog sie mit ihrem Ehemann Gilles Laurent, der ebenfalls Hirnforscher ist, und ihren drei Töchtern nach Frankfurt, um zwei neue Abteilungen am Max-Planck-Institut für Hirnforschung aufzubauen.
Schuman wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft und der weltweit größte Forschungspreis in den Neurowissenschaften, der Brain Prize. Sie ist Mitglied angesehener Akademien wie der amerikanischen National Academy of Sciences, der American Academy of Arts and Sciences und der britischen Royal Society.
Schuman setzt sich leidenschaftlich dafür ein, junge Menschen an die Forschung heranzuführen und den Frauenanteil in der Wissenschaft zu erhöhen. Kurz nach ihrem Umzug nach Frankfurt startete sie eine erfolgreiche Initiative, um den Anteil der Direktorinnen in der Biomedizinischen Sektion der Max-Planck-Gesellschaft bis 2020 auf zwanzig Prozent zu erhöhen – mit dem Ziel, bis 2030 einen Frauenanteil von dreißig Prozent zu erreichen. Hierfür wurde sie mit dem EMBO Women in Science Award und dem ALBA-FKNE Diversity Prize ausgezeichnet.
Gemeinsam mit ihrem Ehemann Gilles Laurent und ihrem Kollegen Moritz Helmstaedter hat sich Schuman für die Aufarbeitung der Verbrechen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung – des Vorgängers des heutigen Max-Planck-Instituts – im Nationalsozialismus eingesetzt. Während dieser Zeit wurden hunderte Patienten ermordet, um ihre Gehirne zu untersuchen. „Dieses dunkle Kapitel wurde bis dahin nicht transparent genug und ohne Anerkennung der Opfer behandelt“, sagt Schuman. „Auf unserer Initiative hin wurde eine Kommission gebildet, die alle derartigen Verbrechen in der Max-Planck-Gesellschaft aufarbeiten soll. So kann den Opfern Respekt gezollt und sichergestellt werden, dass sich solche Taten niemals wiederholen.“
Edvard Moser über den Körber-Preis
„Erin Schuman hat entscheidend zum Verständnis einer der grundlegenden logistischen Herausforderungen in der neuronalen Zellbiologie beigetragen.“
Edvard Moser
Professor Moser, Sie sind Vorsitzender des Search Committees Life Sciences und selbst renommierter Neurobiologe und Nobelpreisträger. Was zeichnet Erin Schumans Forschung aus?
Erin Schuman hat entscheidend zum Verständnis einer der grundlegenden logistischen Herausforderungen in der neuronalen Zellbiologie beigetragen: wie die Intensität der synaptischen Übertragung durch die ständig ablaufende Proteinsynthese gehalten und reguliert wird. Schumans Pionierarbeit hat den Nachweis erbracht, dass Proteine, die lokal oder in der Nähe von Synapsen gebildet werden, ausreichen, um die synaptische Kommunikation während der Gedächtnisbildung aufrechtzuerhalten und zu verändern. Im Laufe der Jahre und dank der bahnbrechenden Methoden, die von Schuman und ihrem Team entwickelt wurden, ist klar geworden, dass die Anzahl an lokal synthetisierten Proteinen in die Zehntausende geht. Schuman hat mehrere Tausend davon identifiziert. Ihre Arbeit hat eines der Hauptprobleme der Neurowissenschaften gelöst und die lokale Proteinsynthese als einen grundlegenden zellulären Mechanismus bei der Entstehung von Erinnerungen etabliert.
Sie haben vor genau zehn Jahren, im Jahr 2014, den Körber-Preis erhalten. Welche Bedeutung hatte dieser Preis für Sie persönlich und beruflich?
Der Preis kam in einem Jahr, in dem unsere Arbeit durch zahlreiche Auszeichnungen gewürdigt wurde, darunter der Nobelpreis einige Monate später. Diese Reihe von Preisen hat die Aufmerksamkeit auf die Erforschung neuronaler Systeme des Gehirns gelenkt und sie zum Lehrbuchwissen gemacht. Sie haben die Bedeutung mechanistisch orientierten Grundlagenforschung in den Neurowissenschaften unterstrichen und gezeigt, dass es möglich ist, sogar für unsere komplexesten kognitiven Funktionen die neuronalen Bausteine zu identifizieren. Diese Erkenntnis war wichtig, sowohl für mich persönlich als für das ganze Feld der Neurowissenschaften. Der Körber-Preis hat dazu entscheidend beigetragen. Durch gut vorbereitete Medieninterviews und Pressekoordination half er, das Thema weiter bekanntzumachen, und die Verleihung des Preises hat mir von Anfang bis Ende Freude bereitet. Ich hatte das Gefühl, dass man unsere Arbeit versteht und schätzt. Außerdem konnten wir mit dem Preisgeld einige unserer ehrgeizigsten und mutigsten Ideen verwirklichen.
Ziel des Körber-Preises ist es, die Rolle Europas als Hub für Forschungsexzellenz zu stärken. Welche Maßnahmen halten Sie für besonders wirksam, wenn es darum geht, die europäische Forschungslandschaft zu fördern?
Wissenschaftspreise wie der Körber-Preis sind wichtig, um europäische Spitzenforschung einer breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen – also denjenigen, die letztlich dafür bezahlen. Sie zeigen, welche Ergebnisse durch langfristige Investitionen in die Grundlagenforschung erzielt werden können und, dass Europa Forschungsgruppen auf höchstem Niveau zu bieten hat. Es ist wichtig, von Zeit zu Zeit an diese Tatsache erinnert zu werden, um Investitionen in die Grundlagenforschung zu rechtfertigen, die der Ausgangspunkt für viele weitere Forschungsarbeiten und Innovationen sind. Aber Auszeichnungen reichen natürlich nicht aus, um Spitzenleistungen in der europäischen Forschung zu fördern. Dazu bedarf es regelmäßiger und stabiler Investitionen in die Grundlagenforschung mit einer langfristigen Perspektive. Das wichtigste Instrument hierfür ist der Europäische Forschungsrat. Dessen Etat zu erhöhen und ihn stabil und vorhersehbar zu halten, ist eine der besten Investitionen, die Europa in die eigene Zukunft tätigen kann.