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Grenzen als Sortiermaschinen

Steffen Mau ist in den 1970er Jahren in einem Rostocker Neubauviertel aufgewachsen, das er später auch beforscht und beschrieben hat. Der Soziologe interessiert sich für soziale Ungleichheit, für transnationale Entwicklungen – und für Grenzen. Kirsten Pörschke sprach mit ihm zum Start des Geschichtswettbewerbs über den Wandel von Grenzen.

Steffen Mau
Steffen Mau Foto: Gesine Born/Stifterverband

Herr Mau, als die Mauer fiel, waren Sie 20 Jahre alt. Welche Grenze(n) haben Sie als Jugendlicher in der DDR erlebt?

Die innerdeutsche Grenze war ganz zentral. Ich gehörte zu denen, die am Brandenburger Tor von Ost nach West geguckt haben.
Dazu gab es Grenzen sozialer Natur. Bestimmte Dinge durften wir im öffentlichen Raum nicht machen. Sich zu versammeln oder öffentlich Partys zu feiern, wurde oft staatlich unterbunden.
Es gab aber auch eine unmittelbar relevante Grenze, weil die Wohnung meiner Familie nur vier oder fünf Kilometer von der Ostsee entfernt lag. Wenn ich im Sommer vom Paddeln in Mecklenburg nach Hause kam, wurde ich regelmäßig zuhause am Bahnhof von der Polizei angehalten und sogar festgenommen. Man hatte Angst, dass ich mit meinem Faltboot die Ostsee überquere. Die Ostsee galt damals als Grenzgebiet, wir durften uns nachts nicht am Strand aufhalten. So kam uns die Grenze immer wieder ins Bewusstsein.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ost und West heute beschreiben. Sind alle Grenzen verschwunden?

Es gibt immer noch Unterscheidungen, Grenzen im engeren Sinne aber nicht. Vielleicht passt hier eher das Sprichwort von der Mauer in den Köpfen. Mit Blick auf Mentalitäten und Traditionen finde ich Unterschiede aber gar nicht problematisch, auch Bayern unterscheidet sich vom Rest der Republik.
Im Ost-West-Vergleich gibt es aber auch andere Dinge, zum Beispiel die Frage nach Vermögensungleichheit, nach Arbeitsmarktchancen oder die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Hier sollte es keine harten Grenzen geben, keine zementierten Ungleichheiten. Die gibt es aber fortgesetzt. Ansonsten sind die beiden Gesellschaften meiner Ansicht nach intensiv und durchaus erfolgreich zusammengewachsen.

Illustration: Fine Heininger

Sie richten den Blick auch über Deutschland hinaus und haben untersucht, dass es heute weltweit mehr Grenzen gibt als 1990. Wie kann das sein?

Das ist tatsächlich eine überraschende Einsicht. Wir bringen die Zeit vor 1989 mit dem Eisernen Vorhang und der Berliner Mauer in Verbindung. Mit ihrem Fall ging für uns das Gefühl einher, dass jetzt die Zeit der Freiheit und der Grenzenlosigkeit beginnt. Dann kam die europäische Integration dazu. Und dann die Globalisierung. All diese Entwicklungen haben Grenzen durchlässiger gemacht. Wenn man sich das aber in globaler Hinsicht anschaut, ist das eigentlich eine optische Täuschung gewesen.

Während der Zeit des Kalten Krieges gab es ziemlich konstant 16 Mauergrenzen weltweit. Dann fiel die Berliner Mauer, weltweit sind aber gleichzeitig immer mehr von diesen Mauer- und Zaungrenzen entstanden. Zum Vergleich: In den 1980er Jahren waren fünf Prozent aller Landesgrenzen weltweit stark gesichert durch Stacheldraht, Zäune und militärische Bewachung. Heute sind es 20 Prozent, also 80 Grenzen weltweit. Man könnte also sagen, dass die Globalisierung Grenzöffnung und Grenzschließung gleichermaßen mit sich gebracht hat.

Hat Sie das auch persönlich überrascht?
Dass sich die Entwicklung so drastisch darstellt, hätte ich nicht geglaubt. Das liegt aber natürlich auch an meiner Perspektive. Als weißer Westeuropäer genieße ich viele Privilegien, was Mobilität betrifft. Wenn man wie ich Grenzen recht mühelos überschreiten oder überfliegen kann, verliert man manchmal das Gespür für die Einschränkungen, die anderen Menschen auferlegt werden. Für Menschen vom afrikanischen Kontinent ist es heute viel schwieriger geworden auf den europäischen Kontinent zu kommen als vor 40 oder 50 Jahren.

Inwiefern funktionieren Grenzen heute anders als früher?

Früher waren Grenzen relativ beweglich. Wenn man historische Landkarten von Europa in Zehnjahresabschnitten aufeinanderlegt, sieht man gut, dass sich Grenzen bis zum Zweiten Weltkrieg immer wieder verschoben haben. Eine Stadt wie Lviv oder Lemberg war mal österreichisch-ungarisch, polnisch, sowjetisch, dann ukrainisch. Seit dem Zweiten Weltkrieg
sind Grenzen relativ fix. Sie bewegen sich kaum noch. Stattdessen ist viel entscheidender geworden, wie sie organisiert werden mit Blick darauf, welche Mobilität sie zulassen.

Ich nenne Grenzen Sortiermaschinen. Denn selbst Mauergrenzen sind heute durchlässig. Sie werden zum Teil täglich von zehntausenden Leuten passiert, aber: nur von denjenigen, die gewünscht sind. Einige Leute können mühelos passieren, andere werden aufgehalten und zurückgewiesen.

Welche Grenze würden Sie gerne abschaffen?

Ich finde die Entwicklung der europäischen Außengrenzen sehr bedenklich. Es ist tragisch, dass weit über 1.000 Menschen jedes Jahr im Mittelmeer aufgrund der europäischen Abschottungspolitik ertrinken. Und dass wir unsere Außengrenzen damit auf eine Art immer weiter verschieben. Ich sehe die Notwendigkeit, Migration zu steuern und zu regulieren. Ich bin auch kein Anhänger von komplett offenen Grenzen. Ich wünsche mir aber eine humane Form der Organisation und Grenzregulierung, die mit den europäischen Grundwerten vereinbar ist.

Wie steht es um soziale Grenzen?

Im Englischen haben wir zwei Begriffe für Grenzen: border und boundary. Border wird als territoriale, staatliche Grenze verstanden, boundaries ergeben sich im sozialen Miteinander, als soziale, kulturelle und symbolische Grenze. Im Deutschen haben wir diese Unterscheidung nicht. Das macht es ein bisschen komplizierter.

Natürlich gibt es auch Grenzen, die sich im sozialen Miteinander ergeben. Mehr noch: Die gesamte Gesellschaft organisiert sich im Inneren über Grenzen, über Zugehörigkeiten, Identitäten und Mitgliedschaften. Die können sich dann auch wieder räumlich ausdrücken. So gibt es zum Beispiel verschiedene Wohnlagen, in die man zieht oder eben nicht. Es gibt Regionen, in denen sich bestimmte Minderheiten nachts nicht frei und sicher auf der Straße bewegen können.

Von Grenzen würde ich dann sprechen, wenn bestimmte Menschen keinen ungehinderten Zugang zu etwas haben, wenn ihnen systematisch Möglichkeiten verwehrt werden, die andere besitzen. Grenzen erzeugen damit Ungleichheit.

Gibt es auch Grenzen, die wichtig sind fürs gesellschaftliche Zusammenleben?

Bislang organisieren sich Gesellschaften territorial, da gehören Grenzen notwendigerweise mit dazu. Wir brauchen Grenzen, wir brauchen aber auch Offenheit. Es ist ein Klassiker der Soziologie, dass Grenzen nicht nur Türen, sondern auch Brücken sind. Sie schotten nicht nur ab, sie schaffen auch Verbindungen. Diese Übergänge zu gestalten, ist ein Kernthema für politische Auseinandersetzungen.

Der amerikanische Soziologe Robert Putnam hat die These aufgestellt, dass immer weniger Leute in Vereinen bowlen. Sie bowlen allein. In Vereinen und anderen Freizeitorganisationen üben Menschen aber den Austausch mit anderen, sie kommen mit anderen gesellschaftlichen Milieus und Gruppen zusammen, das stärkt Kooperationsbereitschaft und gesellschaftliches Vertrauen. Eigentlich wäre es wichtig, dass Leute unterschiedlicher Berufsgruppen, Religionen und Ethnien miteinander bowlen. Das ist viel wertvoller als ein geschlossener Club, wo Leute mit den gleichen Haltungen und sozialen Merkmalen unter sich bleiben.

Illustration: Fine Heininger

Wo begegnen Kinder und Jugendliche heute Grenzen?

Territoriale Grenzen sind immer noch hoch relevant. Wenn eine Klasse mit vielen Migrantinnen und Migranten eine Klassenfahrt macht, dann haben Kinder ohne europäischen Pass vielleicht größere Schwierigkeiten, in ein anderes Land einzureisen als andere. Aber auch Ungleichbehandlung können Kinder erleben: Wer wird anerkannt und wer nicht – auch das ist eine Art von Grenzziehung.

Wie finden Sie das neue Thema des Geschichtswettbewerbs?

Grenzen sind ein spannender Sachverhalt. Wo verlaufen sie? Wie sind sie organisiert? Wie wirken sie? Sich mit Grenzen zu beschäftigen, ist eine Möglichkeit, sich selber zu sensibilisieren dafür, dass Grenzen nicht naturgegeben sind, sondern historisch und sozial sehr variabel. Sie verändern sich: Grenze ist nicht gleich Grenze.

Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Essay „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ erschien 2021.

Das Gespräch führte Kirsten Pörschke.