spurensuchen 2024

Bis hierhin und nicht weiter!? Grenzen in der Geschichte

Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten geht in die 29. Runde! „Bis hierhin und nicht weiter!? Grenzen in der Geschichte“ ist das neue Thema, zu dem Kinder und Jugendliche in Deutschland in der Regional- und Familiengeschichte auf Spurensuche gehen.

Grenzen sind viel mehr als Linien und Grenzen, die Länder und Menschen voneinander trennen. Grenzen können durchlässig sein und sind wiederholt in Bewegung, weil Menschen sie verschieben, auch gewaltsam. Das Einreißen von Grenzen, wie etwa beim Mauerfall 1989, markiert Wendepunkte in der Geschichte, die sich noch Jahrzehnte später auswirken. Und auf dem Papier trennen Grenzen Kulturen und Identitäten voneinander, die in der Realität oft miteinander verbunden sind. Manche Grenzen wiederum sind unsichtbar, aber deutlich spürbar für die Menschen, die von sozialen Ungleichheiten und Vorurteilen betroffen sind. In diesem Magazin stellen wir das neue Wettbewerbsthema vor und geben Themenbeispiele, die zeigen, wie spannend es sein kann, in die Geschichte(n) der Grenzen einzutauchen, die uns alle umgeben. Viel Spaß beim Stöbern!

spurensuchen 2024

Aufruf des Bundespräsidenten

Liebe Schülerinnen und Schüler,

Grenzen – wenige Begriffe, die in unserem Leben eine Rolle spielen, können in ihrer Bedeutung so unterschiedlich sein wie dieser. Einerseits möchten wir uns nicht begrenzen, nicht einengen lassen. Wir möchten unsere Freiheit leben. Und es hätte auch keinen Fortschritt gegeben, wenn Menschen nicht immer wieder Grenzen überschritten hätten: Entdecker und Forscherinnen, aber auch Künstlerinnen und Denker. Ein großer Philosoph des 20. Jahrhunderts, Ernst Bloch, prägte den Satz: Denken heißt überschreiten. Ja, wer denkt, wer nachdenkt, denkt über Grenzen hinaus.

Auf der anderen Seite wissen wir: Grenzen brauchen wir, Grenzen tun gut. Kein Fußballspiel, kein Tennis ohne klar abgegrenzte Felder und klare Spielregeln. Wir brauchen Grenzen, um Unterschiede erkennen zu können: War der Ball drin oder im Aus? Und das gilt noch mal ganz besonders für unsere Individualität. Indem ich mich von anderen abgrenze, erkenne ich, wer ich bin. Nur durch eine solche Abgrenzung werde ich für andere als ich selber sichtbar. Und natürlich auch die anderen für mich. Grenzen zwischen Menschen müssen respektiert werden, gerade damit wir zusammenkommen können. Als Gemeinschaft von unterscheidbaren Individuen.

Grenzen sind also einmal anzuerkennen, und Grenzen sind ein anderes Mal zu überschreiten. Es gehört zum Menschsein, zu lernen, wann das eine und wann das andere angebracht ist. Jetzt aber: Grenzen in der Geschichte – das ist das Thema für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten in diesem Jahr. Durch die uns bekannte Geschichte ging es immer und immer wieder um Grenzen: um das Ziehen von Grenzen, die Anerkennung von Grenzen, die Überschreitung von Grenzen, das Bestreiten von Grenzen, das Durchbrechen von Grenzen – und all das waren und sind jeweils hochpolitische Ereignisse oder Aktionen. Zu einer Grenze gehört immer, dass es ein Hier und ein Da gibt, die Seite diesseits und die Seite jenseits. Es gibt auch immer zwei Parteien. Sie leben miteinander im Konflikt oder im Frieden. Wo in der Geschichte Kriege geführt worden sind, da ist es um die Erweiterung oder das Durchbrechen von Grenzen gegangen. Und wo in der Geschichte Frieden geschlossen wurde, da hat man sich meist auf feste Grenzen geeinigt – und wo Frieden gewahrt wird, da können sich alle der Gültigkeit der Grenzen sicher sein.

Bundespräsident  Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Foto: Bundesregierung / Thomas Imo

Grenzen erfahren wir aber weit über das Politische hinaus. Es ist zuerst unser Leben selbst, das begrenzt ist. Wenn uns auch in der Werbung gelegentlich „grenzenlose Freiheit“ oder grenzenloses Vergnügen versprochen wird, dann wissen wir: Das gibt es nicht.

Wir setzen uns selber Grenzen. Wir kommen dem anderen nicht näher, als er es zulassen möchte. Manchmal gelten echte Verbote, an die wir uns halten, manchmal sagt uns ganz einfach unser Taktgefühl, wo wir nicht zu weit gehen dürfen, damit unser Umgang miteinander menschlich und zivil bleibt. Aggressionen und Gefühle wie Wut können in uns schon mal stark werden. Aber wir leben sie nicht aus, schon gar nicht mit Gewalt. Wir begrenzen uns, indem wir unsere Affekte beherrschen.

Und schließlich haben Grenzen etwas mit der Endlichkeit von allem zu tun. So wie unser Leben endlich ist, so sind auch die Ressourcen unserer Welt begrenzt. Wir wissen: Es gibt keinen unendlichen Fortschritt, kein unendliches Wachstum. Das zeigt uns täglich der Klimawandel. Nur wer zu den natürlichen Grenzen bewusst ja sagt, kann die eigene Freiheit und die Freiheit anderer wirklich bejahen.

Liebe Schülerinnen und Schüler, von Grenzen ist unser Leben also umgeben, vergangenen und gegenwärtigen. Sicher fallen Euch Geschichten ein, die mit Grenzen zu tun haben und mit denen Ihr am Wettbewerb teilnehmen könnt. Der Wettbewerb ist eine gute Gelegenheit, sich in der eigenen Umgebung, auch in den Geschichten aus der eigenen Familie umzuschauen. Befragt Zeitzeugen, entdeckt Archive – und lasst Euch im Netz auf Spurensuche ein.

Mein Dank geht an alle, die diesen Wettbewerb möglich machen, an die Lehrerinnen und Lehrer vor allem, die sich als Tutoren engagieren, und an alle, die bei der Körber-Stiftung mit dem Wettbewerb betraut sind.

Ich freue mich darauf, einige von Euch persönlich zu sehen, wenn dann im nächsten Jahr die Bundessiegerinnen und Bundessieger geehrt werden.

Jetzt aber wünsche ich Euch allen viel Entdeckergeist, ein bisschen Durchhaltevermögen und – viel Erfolg!

Frank Walter Steinmeier

Themenanregung im Kaleidoskop

Grenzfälle

Das Zusammenleben von Menschen ist von Grenzen geprägt: Manche sind sofort sichtbar, andere nehmen wir kaum wahr. Amélie Gloyer, Frida Teichert und Andreas Winter sind auf Spurensuche nach historischen Grenzen gegangen

Foto: picture alliance / Ulrich Baumgarten

Einkaufen im Nachbarland? Ein Konzert besuchen auf der anderen Seite der Grenze? Mit dem Boot in wenigen Minuten das Land verlassen? Alles für viele EU-Bürger:innen kein Problem zwischen Deutschland und Polen, so unvorstellbar das noch 60 Jahre vorher während des Zweiten Weltkrieges schien. Seit 2004 ist Polen Mitglied der Europäischen Union, 2007 trat es dem Schengen-Raum bei. Seitdem gibt es – mit einigen Ausnahmen wie zum Beispiel während der Corona-Pandemie – keine Grenzkontrollen mehr. Viele Menschen in der Grenzregion wie an der Lausitzer Neiße pendeln regelmäßig von einem Land ins andere.

Religiöse Grenzziehung

Die Reformation war eine christliche Bewegung, die im 16. Jahrhundert von Martin Luthers Abgrenzung zu katholischen Praktiken wie dem Ablasshandel ausging. Sie endete in der Abspaltung der Protestanten von der katholischen Kirche. Häufig wurde in diesem Konflikt durch propagandistische Darstellungen die andere Konfession verächtlich gemacht. In diesem etwa um 1600 erstellten Bild wurden die Anhänger Luthers als wilde Tiere dargestellt, die versuchen, die gottgegebene Ordnung zu zerstören.

Bild: Wikimedia Commons

Kampf um Sichtbarkeit

„ich werde trotzdem afrikanisch sein auch wenn ihr mich gerne deutsch haben wollt und werde trotzdem deutsch sein auch wenn euch meine schwärze nicht paßt“, schrieb die Schwarze Dichterin, Pädagogin und Aktivistin May Ayim, die 1960 in Hamburg als Tochter einer weißen deutschen Mutter und eines ghanaischen Austauschstudenten geboren wurde. Mit anderen vor allem Schwarzen Frauen kämpfte sie gegen Rassismus und für Akzeptanz und Sichtbarkeit der eigenen Erfahrungen. Mehr zu May Ayim und der Wirkung ihrer Arbeit bis heute gibt es hier.

Foto: Dagmar Schultz, FFBIZ - das feministische Archiv e.V

Verhärtete Fronten

Im Ersten Weltkrieg fand ein Großteil der Kämpfe an der Westfront in Schützengräben statt. Sie erstreckten sich über 700 Kilometer, der Abstand zwischen den verfeindeten Gräben betrug oft aber nur rund 100 Meter. Aus der Deckung der Schützengräben wurden Angriffe mit Maschinengewehren abgewehrt. So war es kaum möglich, bleibende Geländegewinne zu erzielen – bis zum Ende des Krieges verschob sich die Westfront in Frankreich und Belgien kaum. Die Staatsgrenzen wurden erst durch den Versailler Friedensvertrag neu gezogen. Der Krieg war von extremen Verlusten geprägt: Insgesamt fielen mehr als 9 Millionen Soldaten, zudem starben mehrere Millionen Zivilist:innen. Zum Kriegsbeginn und zu den Folgen des Versailler Vertrags erzählen Zeitzeug:innen hier.

Foto: Bundesarchiv, Bild 136-0161 / Fotograf: Oscar Tellgmann

Eine Grenze im Sand

Wären Schilder und Schranke nicht zu sehen, ließe sich in dieser Strandszene die nahe Grenze nicht erkennen. Doch der Strand von Priwall bildete den nördlichsten Punkt der innerdeutschen Grenze. Seit die DDR-Regierung 1952 die Grenze abriegelte, sollten Soldaten aus der sozialistischen DDR die Flucht in die Bundesrepublik verhindern. 1961 schloss die DDR durch den Mauerbau auch die Grenz – übergänge in Berlin und besiegelte damit die Trennung von Ost- und Westdeutschland sowie von Familien und Freundschaften. Hunderte von Menschen starben bis zur Öffnung 1989 bei Fluchtversuchen an der innerdeutschen Grenze. Einen Lernpfad zur innerdeutschen Grenze gibt es online bei unserem Kooperationspartner segu Geschichte.

Foto: picture alliance / ullstein bild / Jochen Blume

Leben ohne Barrieren?

Bauliche Hindernisse wie fehlende Rampen, digitale Hürden durch nicht vorhandene Vorlesefunktionen, soziale Ausgren – zungen in der Schule oder bei der Arbeit – dies sind nur einige Beispiele dafür, wo Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag Diskriminierung erfahren. Schon seit Ende der 1960er Jahre setzt sich die Behindertenbewegung deshalb für mehr Sichtbarkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe ein. Dennoch werden Menschen mit Behinderung bis heute oft auf ihre vermeintliche Beeinträchtigung reduziert. Auch auf diesem Plakat wird das Mädchen im Rollstuhl in erster Linie als hilfsbedürftig dargestellt.

Bild: Archiv des Deutschen Caritasverbandes

5 Wochen für 38,5 Stunden

Unter dem Motto „Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen“ streikten 1984 Arbeiter:innen der Metallindustrie fünf Wochen lang für eine 35-Stunden-Woche und mehr Arbeitsplätze, auch in den Opel-Werken in Rüsselsheim. Aber nicht nur vom Arbeitgeber grenzten sich die Streikenden deutlich ab, sie grenzten auch sogenannte „Streikbrecher“ aus. Diese mussten auf dem Weg zur Arbeit jeden Morgen eine Gasse von Streikposten passieren. In einem der längsten und intensivsten Arbeitskämpfe der Bundesrepublik einigten sich beide Seiten am Ende auf eine 38,5-Stunden-Woche.

Foto: picture-alliance / dpa / Thomas Wattenberg

Von Ausgrenzung zur Vernichtung

In roter Schrift markierte ein Beamter der nationalsozialistischen Bürokratie den Reisepass von Meilech Wolkenfeld als ungültig. Ende Oktober 1938 hatten ihn Nationalsozialisten aus Berlin nach Polen zwangsausgewiesen und von seiner Familie getrennt. Wie er wurden am 27. und 28. Oktober 17.000 polnische Jüdinnen und Juden in der sogenannten „Polenaktion“ aus Deutschland ausgewiesen – die erste Massendeportation im NS-Regime. Sie markierte eine weitere Verschärfung der rassistischen und antisemitischen Verfolgung, die im systematischen Massenmord des Holocaust endete.

  • Bild: Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März

Meine Grenze – mein Zoll

Die Landkarte Mitteleuropas glich Ende des 18. Jahrhunderts einem Flickenteppich. Auf dem Gebiet des 1815 gegründeten Deutschen Bundes existierten etwa 1.800 unterschiedliche Zollgrenzen – teilweise auch innerhalb der Teilstaaten. Beim Transport waren diverse Kontrollstellen zu passieren, auch Uhrzeit oder Maße unterschieden sich zwischen den Staaten. Erst mit der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 konnten wirtschaftliche Rahmenbedingungen innerhalb Deutschlands vereinheitlicht und Handelsgrenzen abgebaut werden.

Bild: picture-alliance / akg-images / akg-images

Steuerfrau

16 Millionen Frauen hatten 2023 in Deutschland ein geregeltes Arbeitsverhältnis. Dass Frauen sich ihre Arbeit aussuchen können, begann erst im Kaiserreich und setzte sich in der Weimarer Republik fort. Frauen übten immer häufiger Arbeiten aus, die vorher Männern vorbehalten waren. So erhielt 1929 die erste Taxifahrerin eine Lizenz in Berlin. Neben dem Wahlrecht 1918 erlangten Frauen insgesamt mehr soziale und ökonomische Freiheit. Im Nationalsozialismus wurden Frauen sozial vor allem auf eine Mutterrolle reduziert, arbeiteten aber in unterschiedlichen Berufen. Die vollständige Gleichberechtigung mit Blick auf Lohn und Karrierechancen steht bis heute aus.

Foto: picture alliance / SZ Photo / Scherl

Hintergrundartikel zum Wettbewerbsthema - Grenzen in der Geschichte

Grenzen gehören zu jedem Zusammenleben dazu und wandeln sich doch immer wieder. Susanne Rau hat sich diese Grenzgeschichte(n) genauer angeschaut

Wenn wir gefragt werden, was eine Grenze ist, können wahrscheinlich die wenigsten von uns spontan antworten. Doch dann fallen uns nach und nach verschiedene Dinge ein: vielleicht die letzte Reise ins Ausland, als wir beim Überschreiten einer Landesgrenze den Personalausweis vorzeigen mussten. Aber auch die Grenze zum Nachbargrundstück, auf der nur eine Hecke steht; der Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“, der vor gut 50 Jahren in Rom vorgestellt wurde und in der gegenwärtigen Klimadebatte wieder an Bedeutung gewinnt. In der jüngst zurückliegenden Corona-Pandemie haben wir erfahren, wie Grenzen, die seit dem Schengen-Abkommen kaum mehr eine Bedeutung hatten, über Nacht wieder hochgezogen wurden, wie Reisefreiheit eingeschränkt und Lieferketten gestört wurden. Auch der Brexit hat jüngst zumindest völkerrechtlich und symbolisch festere Grenzen zum restlichen Europa etabliert: Wir merken es auch daran, dass das Einreisen nur noch mit dem Reisepass möglich ist. So rasch konnten sich die Grenzen verändern, und diese Veränderungen hatten und haben teils massive Auswirkungen auf das Alltagsleben. Vielleicht fällt uns auch das englische Sprichwort „Good fences make good neighbours“ ein, welches die charmante Doppelbedeutung enthält, dass eine Grenze in Form eines Zaunes zwischen dem eigenen und dem benachbarten Haus dazu beitrage, den Frieden zwischen Nachbar:innen zu erhalten. Eine derart positive Konnotation der Grenze findet sich auch in vielen Erziehungsratgebern für Eltern, denen empfohlen wird, Kindern Grenzen zu setzen, damit diese lernen, sich gegenseitig zu achten.

Diskussionen um ein Tempolimit gibt es schon lange: Auf diesem Plakat  in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn wird 1989 für eine Begrenzung auf  30 km/h in der Stadt geworben
Diskussionen um ein Tempolimit gibt es schon lange: Auf diesem Plakat in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn wird 1989 für eine Begrenzung auf 30 km/h in der Stadt geworben Foto: picture-alliance / dpa / Roland Holschneider

Was ist eine Grenze?

Offenbar gibt es verschiedene Bedeutungen von Grenze und damit kann die eingangs gestellte Frage ganz unterschiedlich beantwortet werden: Es gibt Landesgrenzen, Eigentumsgrenzen, Grenzen zwischen Gruppen, die sich von anderen unterscheiden wollen, aber auch Grenzmetaphern, mit denen ein oberes oder unteres Limit oder Ziel angezeigt werden soll, wie das Tempolimit oder die 1,5-Grad-Grenze. Grenzen sind sichtbar oder unsichtbar, unüberwindbar oder durchlässig, abrupt oder graduell abgestuft, aber auch verhandelbar und verschiebbar. Sie werden räumlich oder zeitlich verstanden. Sie können Bewegungen von Dingen oder Menschen behindern oder befördern. Das heißt, die Grenzen tun etwas mit uns, sie wirken sich auf unser Handeln aus; andererseits sind sie auch Resultate von Handlungen derer, die Grenzen setzen.

Die Auswirkungen, die das Setzen oder das Nichtbeachten bzw. Einreißen von Grenzen haben können, geben genügend Anlässe, über die Entstehung und Veränderung der Bedeutung von Grenzen nachzudenken. Vor dem Hintergrund ihrer Bedeutungsvielfalt lässt sich eine solche Geschichte keineswegs linear schreiben. Mit welcher Symbolik werden Grenzen in der Landschaft oder auf der Karte dargestellt, wie werden sie sprachlich ausgedrückt? Auch die Grenzpraktiken und Grenzerfahrungen von Menschen gehören dazu: Menschen, die die Grenzen festlegen und setzen, Menschen, die an der Grenze oder als Grenzgänger:innen leben, Menschen, die staatliche Grenzen vielleicht auch ohne die geeigneten Papiere passieren müssen. Solche Phänomene lassen sich zu allen Zeiten und überall beobachten.

Territoriale Grenzen: Stadt, Land, Eigentum

Wenn wir weit in die Geschichte zurückgehen, so zeigen sich die ältesten materiellen, zivilisatorischen Grenzen in Form von Stadtmauern. Diese dienten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur dem Schutz vor Feinden, sondern auch dem Schutz vor Naturgewalten wie etwa dem Hochwasser.

Der Limes ist wohl die bekannteste Grenze des Altertums. Aber es handelte sich dabei nicht einfach um eine Reichsgrenze, sondern zunächst vielmehr um eine Verteidigungs- und Wirtschaftsgrenze des auch in Nordafrika präsenten Römischen Reichs. Zwischen dem 1. und 6. Jahrhundert n. Chr. ist sie entstanden und wurde weiter ausgebaut. Es handelte sich auch nicht um eine geschlossene Linie, sondern vielmehr um wechselnde Grenzabschnitte wie Mauern, Gräben, Wälle, Palisaden oder Wachtürme und um die Nutzung natürlicher Gegebenheiten wie Flüsse oder Gebirge. Insofern zeichnete sich der Limes bereits durch seine Durchlässigkeit aus. Zollstationen zeugen von Austausch und Handel, und aus manchem Grenzübergang entwickelte sich später eine Stadt. Schon in der Antike wurde der Limes daher von manchem als Grenzzone betrachtet. Übrigens ist seit Juli 2021 der gesamte Verlauf des deutschen Limes mit seinen sichtbaren Überresten und Rekonstruktionen UNESCO-Weltkulturerbe.

Im europäischen Mittelalter hing die Vorstellung von Grenze eng mit dem Gedanken des Eigentums zusammen, und zwar zunächst nur in einem privatrechtlichen Sinne: Wer Grund und Boden oder Haus besaß, durfte dieses zu seinem Schutz abgrenzen. Eigentumsgrenzen zwischen Grundstücken oder Immobilien werden schon seit Jahrhunderten auf Flurkarten oder Katastern festgehalten. Dies waren zunächst Listen mit Beschreibungen der räumlichen Verhältnisse, zunehmend auch Karten, welche seit etwa 1800 dann auf der Basis von Parzellenvermessungen hergestellt werden. An den vermessenen Grund- oder Flurstücken selbst werden dann in der Regel Grenzsteine oder Grenzmarken angebracht. Vorreiter in Europa war hier Napoleon, für den die Kataster auch als Grundlage zur Erhebung von Grundsteuern dienten. Nicht nur dazu dienen sie bis heute, sondern auch vor Gericht bei Grenz- oder Eigentumsstreitigkeiten.

Auf diesem 1903 angefertigten  Farbdruck ist ein Wachposten  des römischen Kastells Saalburg  entlang des Limes im Taunus  abgebildet
Auf diesem 1903 angefertigten Farbdruck ist ein Wachposten des römischen Kastells Saalburg entlang des Limes im Taunus abgebildet Bild: akg-images

Erste herrschaftliche Grenzbeschreibungen lassen sich in Europa schon im 8. Jahrhundert nachweisen, zum Beispiel in Urkunden. Als Grenzen wurden vor allem Gewässerverläufe und Wege genannt, also Dinge, die in der Natur vorkamen. Im Spätmittelalter tauchen vermehrt Grenzpfähle aus Holz und Grenzsteine auf. Doch früher als die Territorien haben sich die Städte abgegrenzt – und zwar sowohl von möglichen Feinden als auch vom Umland. Indem sich die Bürger ein Stadtrecht gaben und die reicheren Bürger ein Bürgerrecht erlangen konnten, konstituierten sich viele Städte als Rechtsgemeinschaften. Die Stadtmauer war damit meistens auch die Rechtsgrenze. Typisch für eine mittelalterliche oder frühneuzeitliche Stadt waren auch sogenannte Enklaven: Bischöfe, Klöster und fremde weltliche Herren konnten Besitzungen innerhalb der Stadtmauern haben, in denen dann oft auch anderes Recht galt. Dennoch waren solche Bezirke nicht immer sichtbar abgegrenzt, d.h. die Bürger konnten diese Bereiche betreten oder durchqueren. Anders ist dies in einigen Städten der Moderne (sog. „divided cities“), die wegen politischer oder religiöser Konflikte geteilt waren und es zum Teil noch immer sind: Berlin vor 1989 oder Ost- und West-Jerusalem beispielsweise. Städte, durch die eine Staatsgrenze verläuft wie etwa Frankfurt an der Oder/ Słubice sind ebenso interessant wie Städte oder Orte, in denen eine solche Grenze verschwunden ist – wie etwa entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze oder inmitten der heutigen Stadt Hamburg, wo es einmal eine Grenze zum damals dänischen Altona gab, deren Verlauf sich auf einem Grundriss der Stadt Altona von 1773 eingezeichnet findet. Diese Grenze war auch für die Cholera-Epidemie 1892 relevant, da die Menschen in Altona gefiltertes Wasser trinken konnten und somit der Ausbruch dort deutlich geringer ausfiel.

Eine Grenze entlang der Elbe: Während der Cholera-Epidemie 1892  markierte die Grenze zwischen Altona und Hamburg für viele den  Unterschied zwischen Leben und Tod. In Hamburg starben deutlich  mehr Menschen an den Folgen der Krankheit
Eine Grenze entlang der Elbe: Während der Cholera-Epidemie 1892 markierte die Grenze zwischen Altona und Hamburg für viele den Unterschied zwischen Leben und Tod. In Hamburg starben deutlich mehr Menschen an den Folgen der Krankheit Bild: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

In der Frühen Neuzeit, vor allem im Zeitalter des Absolutismus, wurden staatliche Territorialgrenzen zunehmend befestigt. Bezeichnend für den Prozess der Staatsbildung ist ferner, dass das Konzept der Grenze Eingang in den rechtlichen Diskurs fand. Obwohl sich im späten 18. Jahrhundert eine klare Unterscheidung zwischen natürlichen und durch Menschen hervorgebrachten Grenzen abzeichnete, hält sich der Begriff der „natürlichen Grenze“ bis heute. Jedoch ist er insofern irreführend, als er leicht als „naturgegeben“ verstanden werden kann und sich mit einem solchen Grenzverständnis leicht Grenzen legitimieren oder reklamieren lassen. Diese „natürlichen Grenzen“ spielten auch bei der Gründung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert eine große Rolle. Das Modell des Nationalstaats basierte auf der Idee einer Homogenität von Ethnie, Sprache, bisweilen auch Religion innerhalb nationaler Grenzen. Der französische Historiker Lucien Febvre hat in seiner Studie über den Rhein 1931 gezeigt, dass Flüsse als Grenzen Produkte menschlichen Handelns sind und dass sie nicht nur trennen, sondern auch Sprachen, Kulturen und Wirtschaftssysteme verbinden.

Dieser nachträglich eingefärbte Holzschnitt von 1493 zeigt die Stadtmauer von Konstanz in Richtung Bodensee
Dieser nachträglich eingefärbte Holzschnitt von 1493 zeigt die Stadtmauer von Konstanz in Richtung Bodensee Bild: akg-images

Doch trotz dieser Idee haben die Weltkriege des 20. Jahrhunderts Staatsgrenzen ignoriert, hervorgebracht und verschoben. Durch gewaltvolle Angriffe, Einmärsche, Blitzkriege etc. verschoben sich zunächst Fronten. Bei Friedensverhandlungen wurden Grenzen neu bestimmt und in der Landschaft mitsamt punktuellen Grenzübergängen gezogen. Sowohl während als auch nach den Kriegen gab es massive Bevölkerungsbewegungen durch Flucht und Vertreibung, teils mit dem Ziel „ethnischer Säuberung“ von Gebieten. Doch um die Auswirkungen militärischer Konflikte einzudämmen und die Zivilbevölkerung zu schützen, hat der politische Diskurs über Kriege im Lauf der Zeit immerhin ein humanitäres Völkerrecht hervorgebracht. So etwa setzen die Genfer Konventionen (1949) auch dem Kriegshandeln Grenzen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war in Europa dann vor allem durch ein geteiltes Deutschland und einen „Eisernen Vorhang“ geprägt, der nicht nur eine politische, stark befestigte und bewachte Grenze, sondern auch eine ideologische Trennlinie war.

Diese französische Karikatur von 1885 zeigt  Reichskanzler Bismarck bei der willkürlichen  Aufteilung afrikanischer Länder durch  europäische Kolonialmächte
Diese französische Karikatur von 1885 zeigt Reichskanzler Bismarck bei der willkürlichen Aufteilung afrikanischer Länder durch europäische Kolonialmächte Bild: IMAGO / Kharbine-Tapabor

Nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus setzten und setzen Europäer:innen bis heute Grenzen. Dies war vielfach in den Kolonien der Fall, deren Bewohner:innen mit den von den europäischen Kolonialmächten willkürlich gezogenen Grenzlinien konfrontiert waren. Die auf der Berliner Kongo-Konferenz (1884/85) quasi mit dem Lineal gezogenen Grenzen, bei der die Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten, wirken bis heute in Form von Kriegen, Völkermorden und Fluchtbewegungen nach.

Kulturelle und soziale Grenzen

Schon die kurze Skizze der territorialen Grenzen zeigt, dass dazu immer auch Vorstellungen, Diskurse, symbolische Markierungen und Praktiken gehören. Grenzen werden festgelegt und gezogen, werden mehr oder weniger kontrolliert und passiert, werden aber auch verletzt oder ignoriert. Das kann sehr unterschiedliche Folgen haben, von strafrechtlicher Verfolgung über soziale Integration bis zu neuen Entdeckungen, wenn etwa die Grenzen des bisher Bekannten überschritten werden. Die unmittelbaren Folgen neuer Grenzen (Brexit) oder gewaltvoller Grenzüberschreitungen (Russland) sind das eine, die langfristigen Folgen etwas anderes, aber nicht weniger wichtig, wenn wir kulturelles Zusammenleben und Abgrenzungen verstehen wollen. In Deutschland reden wir scherzhaft vom Weißwurstäquator als gedachter kultureller Grenze zwischen Bayern (wo Weißwürste mit Senf gegessen werden) und dem Rest Deutschlands. Solche Stereotype orientieren sich oft an ehemaligen politischen, sprachlichen, bisweilen auch religiös-konfessionellen Grenzen, die noch immer wichtig zu sein scheinen, um über Gesellschaft, vor allem über „die Anderen“ oder „die von Gegenüber“ zu sprechen.

Gute Zäune machen gute Nachbarn?  Eine Unterhaltung am Gartenzaun in Großbeeren 1975
Gute Zäune machen gute Nachbarn? Eine Unterhaltung am Gartenzaun in Großbeeren 1975 Foto: picture-alliance / ZB / Horst Sturm

Kommen wir abschließend noch einmal auf die Zäune zwischen Nachbar:innen zurück. „Mending Wall“, aus dem die zitierte Redewendung stammt, ist ein Gedicht von Robert Frost. Der Sprecher des Gedichts offenbart uns in einer etwas gesprächigen Weise, dass er und sein Nachbar den Zaun zwischen ihren Grundstücken zwar reparieren, aber nicht von seiner Notwendigkeit überzeugt sind. Als er seinen Nachbarn fragt, wozu die Trennung eigentlich gut sein soll, kann dieser nur eine alte Weisheit seines Vaters wiederholen: „Gute Zäune machen gute Nachbarn.“

Man könnte es als Paradoxon der Grenze bezeichnen, dass Grenzen insbesondere dann funktionieren, wenn sie nicht bedroht sind – und wir uns deshalb meistens keine großen Gedanken darüber machen. Doch Grenzen bieten auch Schutz und regeln Zuständigkeiten oder Zugehörigkeiten zu Gruppen, nicht nur zu einem Staat oder einer Nation. Auf diese Weise tragen sie, solange sie durchlässig, verhandelbar und gestaltbar bleiben, auch zu einem guten Zusammenleben bei. Und wenn wir bisweilen in gegenwärtigen Grenzkonflikten nicht weiterwissen, hilft durchaus ein Blick zurück in die Geschichte.

Susanne Rau ist Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt und Sprecherin der Kolleg-Forschungsgruppe „Religion und Urbanität“.

Menschen mit Grenzerfahrungen

„Unermüdlich dicke Bretter bohren“ – Wie Menschen Grenzen überwinden


Die Bedeutung von Grenzen ist nicht nur für Historiker:innen interessant. Viele Menschen setzen sich auf die eine oder andere Weise mit ihnen auseinander. Laura Wesseler hat einige Stimmen von Grenzgänger:innen gesammelt

  • Illustrationen: Fine Heininger

Wie müssen sich Museen verändern, Frau Sichone?

Tendai Sichone ist Kuratorin für Diversität und neue Vermittlungsformate beim Museum für Hamburgische Geschichte. Sie ist unter anderem mit der Aufgabe betraut, das Museum zu einem inklusiven Ort zu machen. Dazu möchte sie die Stadtgeschichte Hamburgs neu erzählen und um Perspektiven der Migration erweitern.

Wo liegen die Grenzen des menschlichen Körpers, Herr Gunga?

Hanns-Christian Gunga ist Professor für Weltraummedizin und extreme Umwelten an der Berliner Charité. Er hat sich auf die Erforschung des menschlichen Körpers unter Extrembedingungen spezialisiert und sich besonders intensiv mit den Herausforderungen für die Körper von Astronaut:innen befasst.

  • Illustrationen: Fine Heininger

Wie arbeitet der Zoll, Herr Bachmann?

Oliver Bachmann arbeitet in der Stabsstelle Kommunikation beim Hauptzollamt in der Hamburger HafenCity. Er begann 1994 seine Ausbildung zum Zollbeamten und sagt, dass Landesgrenzen für seinen Job kaum noch eine Rolle spielen.

Wie überwinden Sie die Grenzen der katholischen Kirche, Frau Rath?

Schwester Philippa Rath ist Benediktinerin und Theologin. Sie gehört der Abtei Sankt Hildegard im Rheingau an. Schwester Philippa ist außerdem Mitglied im Synodalen Ausschuss, der Reformprozesse innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland anstoßen soll. Sie engagiert sich seit Jahren für Frauenrechte in der katholischen Kirche.

Interview mit Steffen Mau

Grenzen als Sortiermaschinen

Steffen Mau ist in den 1970er Jahren in einem Rostocker Neubauviertel aufgewachsen, das er später auch beforscht und beschrieben hat. Der Soziologe interessiert sich etwa für soziale Ungleichheit, für transnationale Entwicklungen – und für Grenzen. Im Interview mit Kirsten Pörschke berichtet er von eigenen Erfahrungen und Forschungen

Foto: Gesine Born/Stifterverband

„Sich mit Grenzen zu beschäftigen, ist eine Möglichkeit, sich selber zu sensibilisieren dafür, dass Grenzen nicht naturgegeben sind, sondern historisch und sozial sehr variabel. Sie verändern sich: Grenze ist nicht gleich Grenze.“

Steffen Mau

Soziologe

Herr Mau, als die Mauer fiel, waren Sie 20 Jahre alt. Welche Grenze(n) haben Sie als Jugendlicher in der DDR erlebt?

Die innerdeutsche Grenze war ganz zentral. Ich gehörte zu denen, die am Brandenburger Tor von Ost nach West geguckt haben.
Dazu gab es Grenzen sozialer Natur. Bestimmte Dinge durften wir im öffentlichen Raum nicht machen. Sich zu versammeln oder öffentlich Partys zu feiern, wurde oft staatlich unterbunden.
Es gab aber auch eine unmittelbar relevante Grenze, weil die Wohnung meiner Familie nur vier oder fünf Kilometer von der Ostsee entfernt lag. Wenn ich im Sommer vom Paddeln in Mecklenburg nach Hause kam, wurde ich regelmäßig zuhause am Bahnhof von der Polizei angehalten und sogar festgenommen. Man hatte Angst, dass ich mit meinem Faltboot die Ostsee überquere. Die Ostsee galt damals als Grenzgebiet, wir durften uns nachts nicht am Strand aufhalten. So kam uns die Grenze immer wieder ins Bewusstsein.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ost und West heute beschreiben. Sind alle Grenzen verschwunden?

Es gibt immer noch Unterscheidungen, Grenzen im engeren Sinne aber nicht. Vielleicht passt hier eher das Sprichwort von der Mauer in den Köpfen. Mit Blick auf Mentalitäten und Traditionen finde ich Unterschiede aber gar nicht problematisch, auch Bayern unterscheidet sich vom Rest der Republik.
Im Ost-West-Vergleich gibt es aber auch andere Dinge, zum Beispiel die Frage nach Vermögensungleichheit, nach Arbeitsmarktchancen oder die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Hier sollte es keine harten Grenzen geben, keine zementierten Ungleichheiten. Die gibt es aber fortgesetzt. Ansonsten sind die beiden Gesellschaften meiner Ansicht nach intensiv und durchaus erfolgreich zusammengewachsen.

Sie richten den Blick auch über Deutschland hinaus und haben untersucht, dass es heute weltweit mehr Grenzen gibt als 1990. Wie kann das sein?

Das ist tatsächlich eine überraschende Einsicht. Wir bringen die Zeit vor 1989 mit dem Eisernen Vorhang und der Berliner Mauer in Verbindung. Mit ihrem Fall ging für uns das Gefühl einher, dass jetzt die Zeit der Freiheit und der Grenzenlosigkeit beginnt. Dann kam die europäische Integration dazu. Und dann die Globalisierung. All diese Entwicklungen haben Grenzen durchlässiger gemacht. Wenn man sich das aber in globaler Hinsicht anschaut, ist das eigentlich eine optische Täuschung gewesen.

Während der Zeit des Kalten Krieges gab es ziemlich konstant 16 Mauergrenzen weltweit. Dann fiel die Berliner Mauer, weltweit sind aber gleichzeitig immer mehr von diesen Mauer- und Zaungrenzen entstanden. Zum Vergleich: In den 1980er Jahren waren fünf Prozent aller Landesgrenzen weltweit stark gesichert durch Stacheldraht, Zäune und militärische Bewachung. Heute sind es 20 Prozent, also 80 Grenzen weltweit. Man könnte also sagen, dass die Globalisierung Grenzöffnung und Grenzschließung gleichermaßen mit sich gebracht hat.

Hat Sie das auch persönlich überrascht?
Dass sich die Entwicklung so drastisch darstellt, hätte ich nicht geglaubt. Das liegt aber natürlich auch an meiner Perspektive. Als weißer Westeuropäer genieße ich viele Privilegien, was Mobilität betrifft. Wenn man wie ich Grenzen recht mühelos überschreiten oder überfliegen kann, verliert man manchmal das Gespür für die Einschränkungen, die anderen Menschen auferlegt werden. Für Menschen vom afrikanischen Kontinent ist es heute viel schwieriger geworden auf den europäischen Kontinent zu kommen als vor 40 oder 50 Jahren.

Inwiefern funktionieren Grenzen heute anders als früher?

Früher waren Grenzen relativ beweglich. Wenn man historische Landkarten von Europa in Zehnjahresabschnitten aufeinanderlegt, sieht man gut, dass sich Grenzen bis zum Zweiten Weltkrieg immer wieder verschoben haben. Eine Stadt wie Lviv oder Lemberg war mal österreichisch-ungarisch, polnisch, sowjetisch, dann ukrainisch. Seit dem Zweiten Weltkrieg
sind Grenzen relativ fix. Sie bewegen sich kaum noch. Stattdessen ist viel entscheidender geworden, wie sie organisiert werden mit Blick darauf, welche Mobilität sie zulassen.

Ich nenne Grenzen Sortiermaschinen. Denn selbst Mauergrenzen sind heute durchlässig. Sie werden zum Teil täglich von zehntausenden Leuten passiert, aber: nur von denjenigen, die gewünscht sind. Einige Leute können mühelos passieren, andere werden aufgehalten und zurückgewiesen.

Welche Grenze würden Sie gerne abschaffen?

Ich finde die Entwicklung der europäischen Außengrenzen sehr bedenklich. Es ist tragisch, dass weit über 1.000 Menschen jedes Jahr im Mittelmeer aufgrund der europäischen Abschottungspolitik ertrinken. Und dass wir unsere Außengrenzen damit auf eine Art immer weiter verschieben. Ich sehe die Notwendigkeit, Migration zu steuern und zu regulieren. Ich bin auch kein Anhänger von komplett offenen Grenzen. Ich wünsche mir aber eine humane Form der Organisation und Grenzregulierung, die mit den europäischen Grundwerten vereinbar ist.

Wie steht es um soziale Grenzen?

Im Englischen haben wir zwei Begriffe für Grenzen: border und boundary. Border wird als territoriale, staatliche Grenze verstanden, boundaries ergeben sich im sozialen Miteinander, als soziale, kulturelle und symbolische Grenze. Im Deutschen haben wir diese Unterscheidung nicht. Das macht es ein bisschen komplizierter.

Natürlich gibt es auch Grenzen, die sich im sozialen Miteinander ergeben. Mehr noch: Die gesamte Gesellschaft organisiert sich im Inneren über Grenzen, über Zugehörigkeiten, Identitäten und Mitgliedschaften. Die können sich dann auch wieder räumlich ausdrücken. So gibt es zum Beispiel verschiedene Wohnlagen, in die man zieht oder eben nicht. Es gibt Regionen, in denen sich bestimmte Minderheiten nachts nicht frei und sicher auf der Straße bewegen können.

Von Grenzen würde ich dann sprechen, wenn bestimmte Menschen keinen ungehinderten Zugang zu etwas haben, wenn ihnen systematisch Möglichkeiten verwehrt werden, die andere besitzen. Grenzen erzeugen damit Ungleichheit.

Gibt es auch Grenzen, die wichtig sind fürs gesellschaftliche Zusammenleben?

Bislang organisieren sich Gesellschaften territorial, da gehören Grenzen notwendigerweise mit dazu. Wir brauchen Grenzen, wir brauchen aber auch Offenheit. Es ist ein Klassiker der Soziologie, dass Grenzen nicht nur Türen, sondern auch Brücken sind. Sie schotten nicht nur ab, sie schaffen auch Verbindungen. Diese Übergänge zu gestalten, ist ein Kernthema für politische Auseinandersetzungen.

Der amerikanische Soziologe Robert Putnam hat die These aufgestellt, dass immer weniger Leute in Vereinen bowlen. Sie bowlen allein. In Vereinen und anderen Freizeitorganisationen üben Menschen aber den Austausch mit anderen, sie kommen mit anderen gesellschaftlichen Milieus und Gruppen zusammen, das stärkt Kooperationsbereitschaft und gesellschaftliches Vertrauen. Eigentlich wäre es wichtig, dass Leute unterschiedlicher Berufsgruppen, Religionen und Ethnien miteinander bowlen. Das ist viel wertvoller als ein geschlossener Club, wo Leute mit den gleichen Haltungen und sozialen Merkmalen unter sich bleiben.

Wo begegnen Kinder und Jugendliche heute Grenzen?

Territoriale Grenzen sind immer noch hoch relevant. Wenn eine Klasse mit vielen Migrantinnen und Migranten eine Klassenfahrt macht, dann haben Kinder ohne europäischen Pass vielleicht größere Schwierigkeiten, in ein anderes Land einzureisen als andere. Aber auch Ungleichbehandlung können Kinder erleben: Wer wird anerkannt und wer nicht – auch das ist eine Art von Grenzziehung.

Wie finden Sie das neue Thema des Geschichtswettbewerbs?

Grenzen sind ein spannender Sachverhalt. Wo verlaufen sie? Wie sind sie organisiert? Wie wirken sie? Sich mit Grenzen zu beschäftigen, ist eine Möglichkeit, sich selber zu sensibilisieren dafür, dass Grenzen nicht naturgegeben sind, sondern historisch und sozial sehr variabel. Sie verändern sich: Grenze ist nicht gleich Grenze.

Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Essay „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ erschien 2021.

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