„Gerüche scheren sich nicht um Grenzen“
Wie die „Katzendreckgestank-Affäre“ Politiker:innen im Kalten Krieg herausforderte
Bodo Mrozek ist Historiker am Berliner Kolleg Kalter Krieg des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und Mitglied der Bundesjury des Geschichtswettbewerbs. In seinem Forschungsprojekt „Der Duft der Anderen. Eine olfaktorische Geschichte der Teilung“ befasst er sich gegenwärtig mit der Rolle grenzüberschreitender Gerüche in der Zeitgeschichte.
Herr Mrozek, „Geruchsgeschichte“ ist ein außergewöhnliches Forschungsfeld, wie sind Sie darauf gestoßen?
Ich habe mich in meinem vorigen Buch „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“ ausgiebig mit Sound beschäftigt, nicht nur mit Musik, sondern auch mit Lärmkonflikten wie dem Motorradknattern, das Jugendliche zur Provokation, aber auch als Protest gegen kommunalpolitische oder Polizeimaßnahmen eingesetzt haben. Da die Klanggeschichte und auch die visual history inzwischen sehr produktiv sind, habe ich mich gefragt, ob auch andere Sinnesmodalitäten, so genannte Nahsinne eine Rolle in der Zeitgeschichte spielen. Da war der Geruchssinn als Forschungsfeld naheliegend.
Welche Relevanz hat dieses Themenfeld in der Geschichtswissenschaft?
Das ist genau die übergreifende Frage meiner Forschungen. In älteren Epochen sind Gerüche und der Geruchssinn bereits ganz gut erforscht. Etwa die Rolle von aromatischen Substanzen in kultischen Ritualen der Antike (per fumum, daher kommt der Begriff Parfum), das Ausräuchern mittelalterlicher Epidemien wie Pest und Cholera oder die „Miasmen“-Angst des 19. Jahrhunderts, wo „Luftverderbnis“ nach anerkannter medizinischer Lehrmeinung zum Tode durch üble Gerüche führen konnte. Für das 20. Jahrhundert aber gibt es kaum historische Forschung. Ich beschäftige mich daher mit einem weiten Spektrum von den Gas- und Leichengerüchen des Ersten Weltkriegs über die politische Rolle von Parfums, die in der Zeit des Kalten Krieges „sowjetisiert“ und „westernisiert“ wurden, bis hin zum Einsatz von tierischen Sensorien, etwa Hunden an Grenzen und bei der polizeilichen Verfolgung politischer Gegner. Auch die zeitgenössische Wahrnehmung unterschiedlicher smellscapes, also von Geruchslandschaften in Ost und West gibt Aufschlüsse über die Tiefe der Spaltung bis in die Mikrogeschichte der Wahrnehmung hinein.
Wie sind Sie dabei spezifisch auf die „Katzendreckgestank-Affäre“ gestoßen?
Durch klassische Archivarbeit. In verschiedenen Archiven vom Bundesarchiv über das des Auswärtigen Amtes bis in Landesarchive hinein bin ich immer wieder auf Boxen und Ordner mit dem mysteriösen, aber auch etwas lustigen Titel „Katzendreckgestank“ gestoßen: Offenbar war das eine internationale Geruchsaffäre von räumlich und zeitlich erheblichen Ausmaßen: Von der Tschechoslowakei (ČSSR) und der DDR bis nach Nordost-Bayern hinein in den Jahren 1976 bis mindestens 1990, die aber bislang von der Forschung und auch den einschlägigen Quelleneditionen weitgehend übersehen wurde.
Um was ging es denn überhaupt und welche Rolle spielen Grenzen dabei?
Es ging um eine Geruchsbelästigung, die in den drei Staaten sporadisch wiederkehrend auftrat. Die Zeitgenoss:innen beschrieben den Geruch übergreifend als dem Gestank von Katzendreck ähnlich. Nachdem Medien dieses Schlagwort aufgriffen, nahmen auch Politiker:innen ganz selbstverständlich das Wort „Katzendreckgestank“ in den Mund. Das Problem lag zunächst darin, zu ermitteln, wo der Gestank herkam: Aus Chemiewerken im damals tschechoslowakischen Westböhmen und von einer Papierfabrik in der südlichen DDR. Es handelte sich also um eine grenzüberschreitende, transnationale Geruchsplage, die auch grenzüberschreitend gelöst werden musste. Das war äußerst schwierig, weil im Kalten Krieg zwischen West und Ost nur unzureichende Abkommen galten, etwa zwischen der ČSSR und der Bundesrepublik keine gemeinsame Grenzkommission etabliert war und auch internationale Umweltabkommen noch in den Kinderschuhen steckten. Es musste also diplomatisch sehr vorsichtig vorgegangen werden, auch weil der Westen keinen Präzedenzfall schaffen wollte, der dann auf eigene Luftverschmutzungen von West nach Ost angewendet werden könnte. Am Ende wurden aber Wege für finanzielle und technische Kooperation gefunden.
Auf welche Quellen haben Sie bei Ihrer Recherche zurückgegriffen? Der Geruch liegt vermutlich in keinem Archiv.
Der Geruch selbst in diesem Fall nicht, aber die Aktenmenge war beachtlich. Dem bin ich dann systematisch nachgegangen und habe eine tschechische Kollegin, Doubravka Olšáková, dafür gewinnen können, diese transnationale Geschichte in allen beteiligten Landessprachen auszuloten. Wir haben viele hundert Blatt in klassischen Archiven in Koblenz, Prag, Berlin, München und Hof fotografiert und darin Zeugnisse von sehr bekannten Politiker:innen gefunden: von Hildegard Hamm-Brücher und Klaus von Dohnanyi im Auswärtigen Amt über Franz Josef Strauß in der bayerischen Staatskanzlei bis hoch zu den bundesdeutschen Kanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl, dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Gustáv Husák und der damaligen Ministerin Angela Merkel: Sie alle waren mit dem Katzendreckgestank befasst, teils über Jahre hinweg. Dazu haben wir die Protokolle von Bundestagsdebatten, Pamphleten und Zeitungsberichten ausgewertet, natürlich auch Literatur rund um die Themen Umwelt und internationale Beziehungen, und der Bayerische Rundfunk hat uns freundlicherweise eine Fernsehsendung zum Thema zugänglich gemacht, in der wir einer erregten Debatte von Nasenzeug:innen folgen konnten.
Der Konflikt beschäftigte drei Staaten. Doch auch Grenzen der persönlichen Belastbarkeit und kulturelle Grenzen wurden in der Affäre ausgelotet. Was bedeutete der Gestank für die Menschen in den betroffenen Regionen?
Die Folgen waren unmittelbar und teils gravierend: Nasen-Rachenprobleme, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen. Die Behörden hatten aber das Problem, dass kaum belastbare Studien über die Wirkung von Gerüchen vorlagen. Messungen mit Flugzeugen und bodennahen technischen Messstationen konnten zwar bestimmte Teilchen, vor allem Schwefelverbindungen in der Luft ermitteln, nicht aber deren Wirkung auf den Menschen. Die Nasen waren feinere Detektoren als die technischen Sonden. Also gab man medizinische und psychiatrische Gutachten in Auftrag, die Schadenersatzforderungen am Beispiel des Katzendreckgestanks untermauern sollten, aber auch eine interessante Quelle für die Auswirkungen von Gerüchen auf den Menschen sind: von Atemwegserkrankungen bis hin zu schweren und schwersten Depressionen, die im Katzendreckgestank auftraten.
Können Gerüche also unser Miteinander und unsere Welt beeinflussen?
Absolut. Und sie können, wie die Katzendreckgestank-Affäre zeigt, sogar blockübergreifende politische Problemlösungen anbahnen helfen: In diesem Fall wurden eigens Grenzbeauftragte ernannt, um das Problem auch ohne Grenzkommission lösen zu können, und schließlich Staatsverträge zur Anlagenhilfe aufgesetzt. Rund um den Gestank haben sich aber auch Bürgerinitiativen von unten formiert, in Bayern etwa das Bündnis „Krank durch Katzendreckgestank und Umweltgift“, in der DDR etliche Gruppen der Umweltbewegung und in der ČSSR griff die Bürgerbewegung Charta 77 den Gestank auf: mit langfristigen Folgen, denn einer der vorherigen Aktivisten, Bedřich Moldan, wurde nach 1989/90 zum ersten tschechischen Umweltminister ernannt. Gerüche scheren sich nicht um Grenzen und selbst ein menschengemachter Katzendreckgestank kann eine Rolle bei der Öffnung politischer Grenzen spielen.
Der Aufsatz zur „Katzendreckgestank-Affäre“ erschien in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (VfZ 71, 2023, Nr. 2) und kann bis Mitte März hier heruntergeladen werden.