Die Broschüre „Exiljournalismus in Europa“

Foto: Körber-Stiftung

Exiljournalismus in Europa

Exiljournalismus in Europa. Aktuelle Herausforderungen und Hilfsangebote

Liebe Leserinnen und Leser,

nach dem ersten Lagebild zum Exiljournalismus in Deutschland veröffentlichen wir in diesem Jahr einen neuen Bericht mit dem Fokus auf Europa. Er erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem die Aktualität und Relevanz der Themen Flucht, Vertreibung und Exil innerhalb Europas kaum deutlicher vor Augen stehen könnten. Der Angriffskrieg des russischen Präsidenten Putin auf die Ukraine hat Millionen ukrainischer Zivilisten in die Flucht getrieben, unter ihnen sind zahlreiche Medienschaffende, die nicht mehr vor Ort berichten konnten, weil sie ihr Leben in Sicherheit bringen mussten.

Auch in Russland selbst hat sich die Situation für eine unabhängige Berichterstattung dramatisch verschlechtert. Repressionen gegen Regimekritikerinnen und -kritiker und eine radikale Beschneidung der Pressefreiheit zwingen zahlreiche Journalistinnen und Journalisten ins Exil.

Nur wenige Wochen zuvor haben die Olympischen Spiele in China der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt, wie groß die Furcht diktatorischer Regime vor einer freien Berichterstattung ist und wie konsequent sie alle Mittel einsetzen, um unabhängige Medienarbeit zu unterbinden. China und Russland sind nur zwei Beispiele zahlreicher Länder, in denen Journalistinnen und Journalisten drangsaliert, verfolgt oder sogar gezielt getötet werden. Reporter ohne Grenzen listet in seiner 2021 veröffentlichten Statistik nach China Myanmar, Vietnam, Belarus und Saudi-Arabien als Länder mit den meisten inhaftierten Journalisten auf.

Mexiko, Afghanistan, Jemen, Indien und Pakistan bewertet die Organisation als die fünf für Journalistinnen und Journalisten gefährlichsten Länder weltweit. Wer es schafft, aus Kriegsgebieten und autoritär geführten Ländern zu fliehen, sucht häufig in den Demokratien mit einer gewährleisteten Pressefreiheit Schutz und die Möglichkeit, im Exil weiter zu arbeiten. In zahlreichen europäischen Ländern haben sich in den letzten Jahren Organisationen und Initiativen gegründet, sind

staatliche oder zivilgesellschaftliche Unterstützungsprogramme entstanden, um Medienschaffenden zu helfen.

Das vorliegende Lagebild wirft ohne Anspruch auf Vollständigkeit einen Blick auf zentrale Organisationen und Programme in Europa, die sich an Exiljournalistinnen und -journalisten wenden, benennt die Bedarfe der Medienschaffenden für

die Fortsetzung ihrer Arbeit im Exil und skizziert Bedingungen und Ansatzpunkte für eine Stärkung des Exiljournalismus als Teil des europäischen Selbstverständnisses von Demokratie und Medienfreiheit. Wir hoffen, dieses Lagebild trägt dazu bei, das Wissen über die Situation des Exiljournalismus in Europa zu verbreitern, Unterstützungsangebote sichtbar zu machen und aussichtsreiche Wege für eine Stärkung von exiljournalistischer Arbeit aufzuzeigen.

Wir würden uns freuen, mit Ihnen in Kontakt zu kommen, wenn Sie Anregungen, Kommentare oder Hinweise für uns nach der Lektüre dieser Broschüre haben. Wenden Sie sich gerne an uns.

Mit besten Grüßen

Sven Tetzlaff

Bereichsleiter Demokratie, Engagement, Zusammenhalt

Sonja Wimschulte

Programmleiterin Exilprojekte

Im Exil – kurzfristige oder längerfristige Unterstützung?

Nicht nur der Begriff des Journalisten, sondern auch das Verständnis des Begriffs Exil verschwimmt zunehmend. Immer seltener ist die Angelegenheit so klar wie im Fall des türkischen Journalisten Can Dündar: Er weiß, dass er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann, weil ihm dort die Verhaftung oder sogar der Tod droht. Aber was ist mit Journalisten, denen eine Verhaftung oder Verurteilung nur möglicherweise bevorsteht? Gerade in Ländern, die keine offene Diktatur sind, deren Pressefreiheit aber dennoch unter Druck ist, kann die Entscheidung zwischen Heimat und Exil schwierig sein. Die Betroffenen wissen nicht, welche Folgen ihre Arbeit für sie und ihre Familien konkret haben wird. Wann ist der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr weitergeht? Diese Situation kann psychisch extrem belastend sein. Und ist vielleicht ein Fall für ein Exil auf Zeit.

Temporary Relocation

„Temporary Relocation“ nennen Fachleute das Konzept, bedrohte oder verfolgte Menschen – Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler, Künstlerinnen und Künstler – für eine Weile aus ihrer Lage herauszuholen. Anstatt mit einem Schlag und für immer das Land zu verlassen, wählen die Bedrohten einen zeitweiligen Aufenthalt im Ausland, um sich zumindest für eine Weile aus der Schusslinie zu nehmen. Als Erholungsprogramm für die Seele, aber auch als Möglichkeit, ungestört seiner Arbeit nachgehen zu können. Amerikanische Hilfsorganisationen wie Freedom House und International Freedom of Expression Exchange (IFEX) haben solche Möglichkeiten bereits im Programm, aber auch in Europa wird Exil auf Zeit – offiziell meist in Form eines mehrmonatigen Praktikumsaufenthalts – zunehmend angeboten.

Längerfristige Unterstützung

Auch bei der dauerhaften Flucht aus der Heimat bieten Hilfsorganisationen in weiten Teilen Europas vielfältige Unterstützung an. In zahlreichen Ländern haben sie Anlaufstellen eingerichtet, die sich speziell an Journalistinnen und Journalisten wenden, unter anderem in Spanien, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Deutschland, Dänemark und Norwegen. Im Süden und Osten des Kontinents sind Hilfsangebote für geflüchtete Journalistinnen und Journalisten allerdings deutlich seltener oder gar nicht vorhanden. Weiter unten im Text, auf Seite 8, werden einige von ihnen näher vorgestellt. Die Unterstützung, die die Helferinnen und Helfer bieten, ist vielfältig und beginnt zum Teil schon vor der eigentlichen Flucht. Manche, zum Beispiel von Reporter ohne Grenzen, stehen mit den zukünftigen Exiljournalistinnen – und journalistinnen bereits in Kontakt, wenn sie sich noch im Heimatland befinden. Sie helfen bei der Ausreise, besorgen Visa und Flugtickets, holen die Geflüchteten sogar am Flughafen ab. In Europa brauchen die Geflüchteten eine Unterkunft, Hilfe beim Lebensunterhalt, gegebenenfalls psychologische Betreuung. Einige sind Krieg, Not oder dem Gefängnis entkommen. Auch können Heimweh und Einsamkeit eine schwere Belastung sein.

„Das Schlimmste ist, allein fern von der Heimat und von den Liebsten zu Hause getrennt zu sein“, sagt Vivienne Francis vom Refugee Journalism Project in London. Es sind Probleme, mit denen alle Flüchtenden gleichermaßen zu kämpfen haben.

Finanzierung

Mit Spenden allein lassen sich dauerhafte Hilfsangebote, die laufende, hohe Kosten verursachen – zum Beispiel sichere Wohnungen – kaum finanzieren. Zwar sind sie eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Hilfsorganisationen, die sich um Exiljournalisten kümmern. Doch sind sie naturgemäß sehr schwankend. Das bringt auch die Helfer selbst unter Druck. „Man kann nicht für andere planen, wenn man selbst nicht abgesichert ist“, sagt Katrin Schatz vom European Centre for Press and Media Freedom.

Jenseits von privaten Stiftungen werden in den letzten Jahren zunehmend staatliche Gelder zur Unterstützung von geflüchteten Journalisten und von Exilmedien bereitgestellt. So erhält zum Beispiel das European Centre for Press and Media Freedom Gelder vom Freistaat Sachsen und von der Stadt Leipzig. Noch am Anfang steht die Förderung journalistischer Projekte durch die Bundesregierung. Erst im Herbst vergangenen Jahres hat sie ein spezielles Journalistenförderprogramm zur Unterstützung der Pressefreiheit beschlossen.

„Gefördert werden zum Beispiel Vorhaben, die Exilprogramme für ausländische Journalistinnen und Journalisten in Deutschland unterstützen“, heißt es von Seiten der Staatsministerin für Kultur und Medien.

Auch die EU vergibt vermehrt Gelder, um verfolgte Journalistinnen und Journalisten zu unterstützen. Gefördert wird beispielsweise das Projekt Media Freedom Rapid Response (MFRR), das bedrohten und angegriffenen Journalistinnen und Journalisten in EU-Staaten Unterstützung anbietet. Es wird zum Teil von der EU-Kommission finanziert. Mit EU-Geldern bezahlt wird auch das Projekt Protect Defenders. Grundsätzlich tun sich Regierungen aber schwer damit, einzelne Journalisten oder Medien zu unterstützen, denn sie müssen politisch neutral bleiben. In vielen Ländern haben deshalb unabhängige NGOs die Rolle übernommen – die dann zum Teil mit staatlichen Geldern finanziert werden.

Anforderungen zur Verbesserung der Lage des Exiljournalismus in Europa

  1. Um die Lage von Exiljournalistinnen und -journalisten einzuschätzen, sind Zahlen und Daten erforderlich. Derzeit fehlen entsprechende Informationen. Sowohl staatliche Stellen als auch Journalistenverbände sind aufgefordert, hier eine Grundlage zu schaffen und ein kontinuierliches Monitoring zu ermöglichen.
  2. Die Verfolgungssituation für Journalistinnen und Journalisten hat sich verändert. Zur staatlichen Unterdrückung durch autoritäre Regime kommen zunehmend Bedrohungen von politischen Gruppen oder aus der organisierten Kriminalität. Auf diese neue Bedrohungslage müssen zivilgesellschaftliche Unterstützungsangebote und Journalistenverbände reagieren, zum Beispiel mit dem Konzept der Temporary Relocation.
  3. Die spezifischen Bedarfe von Journalistinnen und Journalisten im Exil sind vielschichtig. Um sich im Aufnahmeland zu orientieren, zurechtzufinden und die Arbeit fortzuführen, müssen Netzwerke geschaffen werden. Hilfsorganisationen sollten daher insbesondere die Vernetzung mit anderen Exiljournalistinnen und -journalisten, mit weiteren Unterstützerinnen und Unterstützern und mit möglicherweise bereits bestehenden Exilredaktionen oder -plattformen fördern.
  4. Verfolgte Journalistinnen und Journalisten brauchen im Exilland praktische und unkomplizierte Unterstützung. Dazu gehören konrekte Hilfe bei der Unterkunftssuche, bei der Sicherung des Aufenthaltsstatus, der Ermöglichung einer Aufenthaltserlaubnis und der Finanzierung des Lebensunterhalts. Hinzu kommt psychologische Unterstützung bei Traumatisierung und bei Problemen mit dem neuen Leben in einem fremden Land.
  5. Hilfsorganisationen bieten häufig voneinander unabhängig Fortbildungen, Workshops und Trainings für Exiljournalistinnen und -journalisten an. Sinnvoll wären Kooperationen, um etwa in einer Akademie oder auf einer Plattform diese Angebote zu bündeln. Hilfsorganisationen sollten koordiniert vorgehen und ihre Angebote aufeinander abstimmen.
  6. Die digitale Sicherheit ist ein zentraler Aspekt der Arbeit von Exiljournalistinnen und -journalisten. Wichtig wären daher insbesondere Angebote zur Aufklärung über digitale Sicherheit und den Umgang mit entsprechenden Sicherheitstools.
  7. Fluchtgründe und Schicksale der Exiljournalistinnen und -journalisten sind sehr unterschiedlich. Manche von ihnen orientieren sich weiterhin an ihrer Heimat, andere richten sich auf einen dauerhaften Aufenthalt in Europa ein. Deshalb muss ihr berufliches Fortkommen auf zwei Wegen gefördert werden: Es braucht sowohl Angebote zur Integration als auch zur Vorbereitung auf eine Rückkehr in die Heimat.
  8. Exiljournalistinnen und -journalisten stehen unter Zeitdruck, ihre Arbeit im Aufnahmeland fortzusetzen. Schnelles Handeln seitens des Staates und der Hilfsorganisationen ist gefordert, um ihnen schnell die Arbeitsaufnahme im Exilland zu ermöglichen und sie beruflich weiterzubilden.
  9. Auch im Aufnahmeland können Exiljournalistinnen und -journalisten weiterhin verfolgt werden. Ihr physischer Schutz muss gewährleistet werden.
  10. Die Pressefreiheit steht weltweit unter Druck. Auch in Europa hat sich die Situation zuletzt teilweise verschlechtert. Dennoch sind die meisten Länder Europas vergleichsweise frei, friedlich und sicher. Die Pressefreiheit muss auch in Europa verteidigt werden.

Die Publikation „Exiljournalismus in Europa“

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