Friedensnobelpreis für MEMORIAL und Vertreter:innen der belarussischen und ukrainischen Zivilgesellschaft
Unsere Partnerorganisation Memorial erhält den Friedensnobelpreis 2022. Die älteste NGO Russlands ist Gründungsmitglied von EUSTORY und wird für ihren Einsatz für die Menschenrechte geehrt.
Die russische Nichtregierungsorganisation Memorial wurde zusammen mit dem belarusischen Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazkiund der ukrainischen Menschenrechtsorganisation „Center for Civil Liberties“ für ihre aktive Vertretung der Zivilgesellschaft sowie für ihre Beiträge zu Demokratie, Menschenrechten, Bildung und Gedenken in ihren jeweiligen Ländern geehrt. Der Preis würdigt die historische Dokumentationsarbeit von MEMORIAL, die für das Verständnis der Gegenwart und der Zukunft sowie für den Kampf um Frieden, Menschenrechte und ein gerechtes Rechtssystem unerlässlich ist.
Seit drei Jahrzehnten sind wir eng mit MEMORIAL International verbunden. Als älteste russische Nichtregierungsorganisation ist sie unter anderem Gründungsmitglied unseres EUSTORY-Netzwerks und organisiert seit mehr als 20 Jahren einen großen russischen Geschichtswettbewerb für Schülerinnen und Schüler.Nachdem MEMORIAL International bereits 2016 als „ausländischer Agent“ in Russland eingestuft wurde, wurde die Organisation im Februar 2022 vom Obersten Gerichtshof des Landes aufgelöst. Dennoch sind die verschiedenen nationalen und regionalen MEMORIAL-Organisationen inn- und außerhalb Russlands motiviert, sich weiterhin für eine vielfältige Gedenkkultur einzusetzen.
Mit dem Engagement für die Geschichtsaufarbeitung und die Wahrung der Menschenrechte steht MEMORIAL International stellvertretend für jene Personen in Russland, für die Meinungsfreiheit, Frieden sowie Gerechtigkeit und soziale Teilhabe unerlässlich sind.
Dieses Engagement wird darüber hinaus mit dem Förderfonds des Sonderpreises des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen gewürdigt, mit dem die Arbeit von MEMORIAL International nach der Liquidation fortgesetzt werden soll. Neben der Körber-Stiftung haben auch die Robert Bosch Stiftung und die Software AG Stiftung den Fonds für MEMORIAL mit einer Erstausstattung versehen.
„Der Kampf um die Erinnerung ist der Grund dafür, was heute mit MEMORIAL passiert. Die Solidarität und die Unterstützung, die uns in der schwierigen Zeit entgegengebracht wurde, hat uns von der Bedeutung unserer Arbeit und der Notwendigkeit überzeugt, sie außerhalb Russlands fortzusetzen.“
Irina Scherbakowa
Mitgründerin von MEMORIAL International
Aufzuklären und aus der Geschichte lernen zu wollen, zieht sich als roter Faden durch das Leben und Engagement von Irina Scherbakowa und ihre Kolleg:innen. Nicht erst seit dem Friedensnobelpreis an die inzwischen im eigenen Land liquidierte russische Menschenrechtsorganisation Memorial International ist Irina Scherbakowa in Deutschland das Gesicht des „anderen Russlands“. Wie blickt sie zurück auf die Gründungsjahre, und was sind die Herausforderungen nach dem Verbot der Organisation in Russland und dem Angriffskrieg auf die Ukraine?
Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa im Gespräch mit dem Historiker Volkhard Knigge über den Umgang mit totalitärer Vergangenheit und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für ein „anderes“ Russland.
Memorial: Stark in vielen Ländern Europas
Gerade in Zeiten eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges durch Russland auf die Ukraine bedarf es Organisationen wie MEMORIAL, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte vorantreiben.
MEMORIAL besteht aus regionalen und nationalen Organisationen in verschiedenen Ländern. Neben Russland sind das beispielsweise Deutschland, Italien, Frankreich oder die Tschechische Republik.
Eines der bekanntesten Gesichter von MEMORIAL International insbesondere auch in Deutschland ist die Germanistin und Historikerin Irina Scherbakowa. Sie ist Mitbegründerin von MEMORIAL International und langjährige Koordinatorin des russischen Geschichtswettbewerbs für Jugendliche, der seit 1999 jährlich ausgerichtet wurde. Seit Juli 2022 arbeitet Irina Scherbakowa als Fellow am Imre Kertész Kolleg in Jena.
Irina Scherbakowa und MEMORIAL International stehen in einer langjährigen Partnerschaft mit der Körber-Stiftung. Die Behinderungen und am Ende Liquidierung der Organisation Ende 2021 haben auch wir immer wieder scharf kritisiert, zuletzt im März 2022.
„Wir verurteilen das Vorgehen der russischen Regierung gegen unsere Kolleg:innen von MEMORIAL auf das Schärfste. MEMORIAL hat einen wichtigen Beitrag für grenzübergreifende Verständigung geleistet. Wir werden dieses Anliegen und diejenigen, die damit verbunden sind, weiterhin unterstützen.“
Dr. Thomas Paulsen
Mitglied im Vorstand der Körber-Stiftung
Angriff auf Mitarbeitende von MEMORIAL und Körber-Stiftung in Moskau
Schon vor dem Verbot von MEMORIAL International in Russland ist die Organisation bei ihrem unermüdlichen Einsatz für eine offene Gesellschaft im Land immer stärker behindert worden. Das erfuhren auch wir als Mitarbeitende der Körber-Stiftung im April 2016 hautnah, als wir und weitere internationale Gäste bei einer Preisverleihung des russischen Geschichtswettbewerbs in Moskau angegriffen wurden. Begleitet von nationalistischen und antisemitischen Parolen wurden Gäste mit Eiern beworfen und mit ätzender Flüssigkeit besprüht. Es stellte sich heraus, dass die Angreifer in diesem Fall Mitglieder der „Nationalen Befreiungsbewegung“ sowie der „eurasischen Jugendorganisation“ waren, die den russischen Geschichtswettbewerb diffamierten, Geschichte mit Geld aus dem Ausland zu “verfälschen”. Mitarbeitende der Körber-Stiftung wurden als „Faschisten“ verunglimpft.
Dieser Angriff war nur eine Episode in einer langen Kette von Diffamierungskampagnen und Bedrohungen, denen Mitarbeitenden von MEMORIAL International in Russland viele Jahre lang regelmäßig ausgesetzt waren und sind. Die aktuelle Geschichtsschreibung Russlands idealisiert die Ära und Person Stalins und bekämpft die Auseinandersetzung und weitere Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in Russland, die sich aber in den Familiengeschichten von Millionen von Russ:innen spiegelt.
1999-2021: Erfolgsmodell Geschichtswettbewerb in Russland
Seit 1999 hat MEMORIAL International zehntausende russische Schüler:innen angeregt, zu ihrer Lokal- und Familiengeschichte zu recherchieren. An die 50.000 Forschungsbeiträge hat die Organisation dabei in den letzten 20 Jahren in ihrem Archiv zusammengetragen. Sie zeichnen ein differenziertes Bild vom Leben der Menschen in der Sowjetunion, das eine wichtige Ergänzung darstellt zur offiziellen Geschichtspolitik des Landes.
MEMORIAL International gehörte 2001 zu den Gründungsmitgliedern von EUSTORY, unserem europäischen Netzwerk von Geschichtswettbewerben in Europa und angrenzenden Ländern. Aktuell pausiert der russische Wettbewerb, der nach dem Willen der Organisatoren allerdings bald in einem neuen Format weitergeführt werden soll.
Weitere Details zum Wettbewerb und zu MEMORIAL International gibt es hier:
Zur Historie des russischen Geschichtswettbewerbs
Einblicke aus 20 Jahren russischer Geschichtswettbewerb
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