Petro Kendzor

Foto: Juan Jesús Pan Aguilera

Petro Kendzor, langjähriger ukrainischer Partner der Körber-Stiftung und Gründungsmitglied von EUSTORY, teilte Eindrücke aus dem ersten Jahr des Krieges in der Ukraine mit seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen bei der EUSTORY-Jahresversammlung vom 8. bis 12. März 2023 in Warschau.

Der promovierte Historiker Petro Kendzor ist Mitbegründer und Mitarbeiter der All-Ukrainian Association of Teachers of History, Civic Education and Social Studies „Nova Doba“ in Lwiw. Seit über 20 Jahren engagiert er sich in der Ukraine für einen multiperspektivischen Blick auf die Geschichte und für modernen Geschichtsunterricht. Er ist auch Initiator eines 1997 gegründeten ukrainischen Geschichtswettbewerbs, den er seit 2017 in Kooperation mit DVV International durchführt. Der ukrainische Geschichtswettbewerb wie auch begleitende Lehrerfortbildungsprogramme sind auch im Krieg weiter aktiv. Daneben entwickelt Petro Kendzor mit seinem Team seit dem Ausbruch des Krieges zusätzlich Bildungsprogramme für ukrainische Binnenflüchtlinge, insbesondere für Kinder und Jugendliche und ihre Familien.

Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Fassung seiner Rede vom 11. März 2023 in Warschau im Rahmen der EUSTORY-Jahreskonferenz 2023.


Ich grüße Sie herzlich aus der Ukraine und freue mich, dass das EUSTORY-Netzwerk nach der langen Covid-Pause jetzt in Warschau wieder zusammenkommt.

In meiner Rede möchte ich heute einige Erfahrungen und Reflexionen zum Krieg in der Ukraine mit Ihnen teilen. Ich bündele sie anhand von drei Erkenntnissen über unsere Gesellschaften. Die erste betrifft die ukrainische Gesellschaft, die zweite die russische, und die dritte betrifft die europäische Gemeinschaft, und damit auch Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen, liebe Freundinnen und Freunde.

  1. Erkenntnisse über die ukrainische Gesellschaft

Vor dem Krieg war die Ukraine geistig, politisch und religiös gespalten und wirtschaftlich wie politisch stark von Russland abhängig. Inzwischen allerdings hat sich die Ukraine von einer terra incognita zu einem Strudel entwickelt, zu einer Gefahr für die demokratischen Werte wie auch für die Zukunft Europas, vielleicht sogar für die ganze Welt.

Normalerweise bilden sich die Werte einer Persönlichkeit wie auch einer Gesellschaft langsam aus. Jetzt, unter den dramatischen Bedingungen des Krieges, beschleunigt sich dieser Prozess. Dies ist besonders relevant in einer Zeit, in der unsere Kinder dem Krieg nicht auf den Seiten ihrer Geschichtsbücher begegnen, sondern in ihrem Alltag. Daher sollte sich der Geschichtsunterricht in der aktuellen ukrainischen Realität auf Werte stützen, die in dieser Situation am meisten gefragt sind. Das sind dieselben Werte, die in der ukrainischen Gesellschaft heute vorrangig gelebt werden und ohne die der Krieg nicht gewonnen werden kann:

  1. Zusammenarbeit und Selbstorganisation. Vertreter der verschiedenen Landesteile, Kulturen, Religionen, politischen Kräfte usw. müssen sich zusammenschließen, um dem Feind zu widerstehen.

    Ich erinnere mich an ein Online-Seminar eine Woche vor Kriegsausbruch, an dem ich teilgenommen hatte. Es ging um die Bildung von Koalitionen in der Gesellschaft und um die Frage, wie man aus der Vielstimmigkeit in der Gesellschaft zu einer Organisationsstruktur kommt. Jeder von uns NGO-Vertretern war ein kleines Pünktchen und die Aufgabe war, gemeinsam klare Formen für Diskussionen und Austausch aufzubauen. Wir haben einige Stunden hart gearbeitet, aber wir sind aus dem Chaos nie herausgekommen.

    Als der Krieg begann, war ich vom ersten Tag an beim Aufbau des großen humanitären Logistikzentrums im Messezentrum in Lwiw dabei. Zusammen mit etwa 250 anderen Freiwilligen haben wir Schritt für Schritt und Tag für Tag ein perfektes logistisches System geschaffen für die Versorgung der Menschen mit dem Notwendigsten. Ich habe öfter Ausschau gehalten nach bekannten Politikerinnen und Politikern oder erfahrenen Aktivistinnen und Aktivisten aus der NGO-Szene. Meistens jedoch sah ich ganz normale Menschen am Werk – ohne besondere Ausbildung, aber mit einer großen menschlichen und staatsbürgerlichen Verantwortung. Diese Menschen bilden jetzt auch die Basis der ukrainischen Armee.

  2. Sehr eng mit dieser Situation verbunden ist der nächste Wert: Einfallsreichtum. Die Fähigkeit, außergewöhnliche Lösungen zu finden, besonders in schwierigen Situationen, wenn es an Ressourcen mangelt.

  3. Mut. Unsere Gesellschaft versteht, dass man aufhören muss, Angst zu haben, um zu gewinnen. Das ist alternativlos, und unsere ganze Gesellschaft ist ein Beispiel dafür.

  4. Menschlichkeit. Unter den aktuellen, extremen Bedingungen nehmen wir und auch Sie die Familien von Vertriebenen auf, helfen, engagieren uns als Freiwillige. Binnenflüchtlinge in Lwiw stammen zum Beispiel aus Charkiw, der großen Industriestadt 38 Kilometer vor der russischen Grenze, die seit hundert Jahren politisch und geistig an Russland orientiert ist. So war es vor dem Krieg, aber so ist es jetzt nicht mehr. Russisch sprechende Binnenflüchtlinge aus Charkiw wählten meist nicht die 38 Kilometer bis nach Russland, sondern machen sich auf einen längeren Weg für eine Evakuierung in Richtung Westukraine oder Westeuropa.

  5. Humor und Selbstironie. Auch dies ist ein Mittel, um zu überleben und zu gewinnen: Witze. Wir haben beliebte Memes über Selenskyj, wir lachen über Menschen, die Altmetall von russischen Panzern einsammeln. Aber wir respektieren sie, wir lachen sie nicht aus.

  6. Patriotismus. Bis vor kurzem war der ukrainische Patriotismus eher ethnozentrisch, pathetisch und abstrakt. Jetzt geht es dabei darum, zu handeln und persönlich Verantwortung zu übernehmen.

  7. Ich möchte einen weiteren sozialen Wert hervorheben, der unter den heutigen Bedingungen besonders wichtig ist und das Ergebnis von politischer Bildung sein sollte: Vertrauen. Normalerweise sprechen wir über Vertrauen als moralische und ethische Kategorie im Kontext von Familie, Freunden, aber auch im Umfeld einer Bildungseinrichtung. Doch wie der moderne Philosoph Francis Fukuyama feststellte: Vertrauen ist ein Nebenprodukt des Sozialkapitals. Es ist die Fähigkeit von Menschen, miteinander zu kooperieren. Vertrauen basiert darauf, dass die Menschen dieselben Werte teilen. Wenn die Menschen einander nicht vertrauen, können eine solche politische Gemeinschaft und der Staat selbst zusammenbrechen.

Wenn wir die Bedeutung dieses Ausdrucks auf die Dimension der politischen Bildung übertragen, können wir behaupten, dass Demokratie und Vertrauen voneinander abhängige Kategorien sind. Einerseits hängt die Demokratie vom Vertrauen zwischen den Bürgern und der Regierung ab. Andererseits ist Vertrauen nur unter freien und verantwortungsbewussten Bürgern möglich.

Derzeit, unter den Bedingungen des Krieges, beobachten wir einen Anstieg des Vertrauens der Ukrainer in die staatlichen Institutionen. Ein äußerst wichtiger Faktor für die Stärke der ukrainischen Gesellschaft ist jedoch das große Vertrauen zwischen den Bürgern. Wohltätigkeit, Solidarität und Gerechtigkeit wurden bei der Aufnahme und Unterbringung von Binnenvertriebenen, beim Sammeln von Geld- und Sachspenden zur Unterstützung der Streitkräfte oder für wohltätige Zwecke deutlich. Vertrauen entsteht aus gelebter Verantwortung, und umgekehrt bildet Verantwortung die Grundlage für Vertrauen. Diese Verbindung zweier moralischer Kategorien ist die Basis für die Zivilcourage, die uns trägt.

Dieser positive Blick betrachtet vielleicht nur die Spitze des ukrainischen Eisbergs. Natürlich haben wir Probleme. Wir erleiden große menschliche Verluste, große physische und psychische Verletzungen, aber darüber werden wir später sprechen. Jetzt müssen wir stark bleiben, denn sonst werden wir nicht überleben.

  1. Erkenntnisse über die russische Gesellschaft

Wir wussten, dass das Putin-Regime uns angreifen wollte, aber wir waren überzeugt, dass die russische Bevölkerung niemals auf Ukrainer schießen würde. Hier haben wir uns getäuscht. Wir vergessen es nicht, und unsere Kinder werden es auch nicht vergessen.

Wir waren sicher, dass die Russen auf die Straße gehen würden, um uns zu unterstützen. Jetzt sehen wir, dass die russische Bevölkerung und Putin eine Einheit bilden, dass viele Russen sich als Zentrum eines Imperiums fühlen wollen. Sie haben jetzt ihre eigene Geschichtsvision. Aber sie haben keine Zukunftsvision.

Aber diese Situation ist nicht nur die Schuld der russischen Gesellschaft. Es ist auch die Schuld derjenigen Ukrainer, die sich früher auf vielen Ebenen nach Moskau orientierten, die dort um Zustimmung und Erlaubnis suchten oder sich ihre Handlungen in Russland absegnen ließen. Und es ist auch die Schuld der westlichen Politiker, die ihre Augen vor den Menschenrechtsverletzungen in Russland verschlossen, um den Zugang zu billigem Gas oder zum Öl nicht zu verlieren. Mit diesem Geld wurden in Russland Panzer, Raketen und Waffen hergestellt.

Russland hat große Probleme auf vielen Ebenen, aber im Bereich Propaganda und Manipulation funktioniert das Land außerordentlich gut. Ich glaube, niemand auf der Welt ist auf diesem Feld stärker als sie. Die moderne russische Propaganda besteht nicht mehr nur aus Plakaten oder politischen Reden. Sie ist umfassend, man findet sie zum Beispiel als Cartoons für die Kleinen, als Flashmobs für Jugendliche oder in den Kommentaren, wenn auf Social Media Alltagsthemen diskutiert werden.

Die russische Propaganda hat es in der Ukraine nicht leicht. Und sie ist auf dem Weg in Ihre und eure Länder. Bitte seid vorbereitet, damit umzugehen.

  1. Erkenntnisse über Europa

Zunächst möchte ich Ihnen und euch stellvertretend für alle Länder und Gesellschaften danken, die unsere Migranten willkommen heißen, die die Ukraine militärisch und materiell unterstützen, aber vor allem die, die sich auch darum bemühen, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.

Ich möchte hier nicht auf jedes Land einzeln eingehen, aber die wichtigsten erwähnen. Global betrachtet sind natürlich die Vereinigten Staaten unser wichtigster Unterstützer. Unser größter europäischer Sponsor ist jetzt Deutschland, aber das kleine Estland leistet die größte Hilfe, wenn man ihren Beitrag in Bezug setzt zum nationalen Bruttosozialprodukt.

Und ich muss noch ein weiteres Land nennen. Polen ist, wie Russland, unser Nachbar. Vor dem Krieg haben wir mit Polen um unsere komplizierte gemeinsame Geschichte gerungen, wir hatten auch Differenzen bei Haltungen und Einstellungen, es gab ein in der Geschichte begründetes gegenseitiges Misstrauen. Aber in dem Moment, als unser Nachbar Russland uns mit Waffen angriff, öffnete unser Nachbar Polen uns sofort seine Türen und hilft bis heute, so gut er kann. Ganz wichtig ist auch die starke moralische Unterstützung für die Ukraine aus Polen, die bis heute anhält. Mein großer Dank geht daher an Polen, das ja auch Gastgeber der diesjährigen EUSTORY Jahresversammlung ist, wie auch an Sie alle hier im Raum.

Später einmal werden über diese Unterstützung für die Ukraine Bücher geschrieben werden, denn wer anderen hilft, rettet auch sich selbst.

Werte oder Interessen?

Ich komme zum Fazit. Die Schwierigkeiten und Leiden der beiden vorangegangenen Weltkriege führten zu einer Bündelung der Kräfte der demokratischen Länder der Welt, die in den letzten Jahrzehnten viel dafür getan haben, dass sich ein Krieg nicht wiederholt. Diese politische Zusammenarbeit basierte auf den Grundwerten der Demokratie: auf Freiheit, Menschenrechten und Solidarität.

Gleichzeitig wissen wir, dass die Festschreibung von Werten oft auch von Bedürfnissen und Interessen abhängt. In der jetzigen Situation ist es sehr wichtig, dass unsere Werte unsere Interessen dominieren. Denn wenn die Interessen beginnen, die Werte zu dominieren, kann leicht eine Situation entstehen, in der wir sowohl das eine als auch das andere verlieren.

Ich wünsche mir und uns, dass unsere Werte und Interessen mit Blick auf die Ukraine in Einklang stehen mögen.