
Foto: Kenan Hasić / THE CIVICS
Bosnien: Brücken bauen, wo andere Mauern sehen
Wie vereint man ein Land, dessen Regierung aktiv versucht, die Bevölkerung zu spalten? Vier Aktivisten und Aktivistinnen aus Bosnien erzählten auf dem NECE Lab, wie sie inmitten von Repressionen, Frustrationen und Hoffnungsschimmern für eine bessere Zukunft kämpfen.
Nedim Krajišnik – auf der Suche nach Antworten
Nedim Krajišnik versteht gut, warum Bosnier und Bosnierinnen vom Begriff „Peacebuilding“ genug haben. In seiner Doktorarbeit untersuchte er den Erfolg von ausländischen Friedensinitiativen. Kurz gesagt: Ihre Wirkung war mitunter kontraproduktiv. Als die internationale Gemeinschaft in das Nachkriegsbosnien kam, scheiterte sie auf drei Ebenen: Ausländische Friedensmissionen kamen ohne Vorwissen, sie intervenierten ohne Verantwortung zu übernehmen – und verließen das Land, ohne die Konsequenzen zu tragen.

„Es gab keine Wiedergutmachung.“
Nedim Krajišnik
Step by Step
„Die grundlegenden Dinge nach einem Krieg wurden nicht getan“, sagt Krajišnik. So habe es weder Entschädigungen für Opfer noch Wiedergutmachungsverfahren gegeben. Noch immer seien Kriegsverbrecher auf freiem Fuß. „Bosnien kann den Krieg nur hinter sich lassen, wenn es offiziell anerkannte Antworten gibt. Selbst die Frage, wer den Krieg gewonnen hat, bleibt offen. Das ist zwar keine wesentliche Frage, aber sie lässt Raum für verschiedene Narrative. Wer ist Opfer, wer ist Täter? Dass es hierauf keine offizielle Antwort gibt, hat uns gezeigt, dass eine Opfergruppen wichtiger als andere. Und das sind nur zwei von vielen unbeantworteten Fragen“, fasst Krajišnik zusammen.
Da sich das politische System in naher Zukunft nicht ändern wird, konzentriert sich Krajišnik stattdessen auf die neue Generation. Als Direktor der NGO Step by Step, die Lehrpersonal fortbildet, versucht er, das bosnische Bildungssystem zu verbessern. Seine Arbeit wird dringend gebraucht. Die Pisa-Studie 2018 ergab, dass über die Hälfte der Schüler und Schülerinnen in Bosnien das Mindestniveau in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften nicht erreichten. Bosnien nahm an der Folgestudie in 2022 nicht teil, doch angesichts der Corona-Pandemie ist es unwahrscheinlich, dass die Zahlen sich seitdem deutlich verbessert haben.
„Bei dieser Ausgangslage ist es unmöglich, kritisches Denken zu fördern“, sagt Krajišnik. „Wie sollen Schüler:innen Geschichte lernen, wenn sie das Gelesene weder verstehen noch einordnen können?“ Er vermutet, dass der Staat kein Interesse hat, das Bildungssystem zu verbessern: „Das System profitiert, denn die Schüler:innen sind so leicht zu manipulieren“.
Melisa Forić – Verständnis als Ziel
Melisa Forić findet drastische Worte über die Lage an bosnischen Schulen: „Eine Botschaft des Hasses durchzieht das Bildungssystem.“ Als Präsidentin des bosnischen Geschichtslehrerverbands EUROCLIO HIP BiH wird sie täglich mit dem komplizierten Erbe des Bosnienkriegs konfrontiert. Für den Geschichtsunterricht gibt es drei Lehrpläne – einen für jede ethnische Gruppe –, die drei konkurrierende Narrative präsentieren. In der Praxis führe dies dazu, dass im Unterricht ausschließlich die Geschichte der eigenen ethnischen Gruppe vorkommt, während die anderen Gruppen als Feinde dargestellt werden oder ganz fehlen.

„Auch wenn man nur eine Lehrkraft beeinflusst, können so Hunderte von Schülerinnen und Schülern erreicht werden.“
Melisa Forić
Association of history teachers of Bosnia and Herzegovina EUROCLIO HIP BiH
Genau aus diesem Grund entwickelte Forić Anfang der 2000er Jahre gemeinsam mit anderen Geschichtsdidaktikern alternative Schulbücher und Handreichungen. Die Lehrkräfte begrüßten die Materialien. Doch die Behörden lehnten das Projekt ab: „Die Behörden haben uns als Feinde gesehen, denn unsere Lehrmaterialien brachten die Menschen zusammen. Doch die Behörden wollen nicht, dass den Menschen ihre Gemeinsamkeiten bewusst werden.“
Als Reaktion darauf änderte Forić ihre Strategie. Anstatt das Bildungssystem von Grund auf zu ändern, konzentriert sie sich nun auf die einzelne Lehrkraft: „Auch wenn man nur einen Lehrer ein klein wenig beeinflusst, so kann er dies doch an Hunderte von Schüler:innen weitergeben,“ sagt Forić.
Doch auch das ist nicht immer einfach. EUROCLIO HIP BiH ist in beiden Entitäten Bosniens, der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska, zugelassen. Doch die Behörden der Republika Srpska behindern die Aktivitäten. Wenn sie Fortbildungen im mehrheitlich von Serben bewohnten Landesteil anbieten, dürfen sie keine Fotos der Teilnehmer:innen veröffentlichen. Die Lehrkräfte fürchten Repressionen. Forić gibt die Hoffnung dennoch nicht auf: „Wir können nicht erwarten, Berge zu versetzen. Aber wir können kleine Schritte machen, die eine Wirkung haben werden.“
Spasoje Kaluga – Kampf für den Frieden
Einst kämpfte Spasoje Kaluga als Soldat im Bosnienkrieg. Heute, drei Jahrzehnte nach Kriegsende, kämpft er noch immer – doch diesmal für den Frieden. 2011 gründete Kaluga Pravi požar (Richtiges Feuer). Die NGO bringt Veteranen aus den drei Armeen zusammen, die von 1992 bis 1995 gegeneinander kämpften. Der Verein bietet psychologische Unterstützung und Beratungsangebote an, denn viele Veteranen leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen. Auch Frauen und Familien der Veteranen stehen im Fokus, denn oft beeinträchtigen die Erlebnisse im Krieg das Familienleben.

„Die Politik bezeichnet uns als Verräter, weil wir zusammenarbeiten.“
Spasoje Kaluga
Pravi požar
Das erklärte Ziel von Pravi požar: weitere Gewalt verhindern. Daher bringen sie die Veteranen mit Jugendlichen aus Bosnien zusammen. In Dreierteams – je ein Veteran aus jeder der damaligen Armeen – treffen sie sich mit jungen Erwachsenen zu strukturierten Dialogrunden. Die Soldaten erzählen von ihrem Leben vor dem Krieg, wie sie Teil der Armee wurden und was sie im Krieg erlebt haben. Im Anschluss können die jungen Erwachsenen Fragen stellen. „Die häufigste Frage lautet: ‚Wie kann man nach so etwas weiterleben?’“ sagt Kaluga. Aufgrund der traumatischen Inhalte müssen Teilnehmende mindestens 18 Jahre alt sein. Zusätzlich ist ein Psychologe während der Treffen anwesend.
Doch in einem Land, das immer noch entlang ethnischer Gruppen gespalten ist, trifft Kalugas Arbeit auf Widerstand. „Die Politik bezeichnet uns als Verräter, weil wir zusammenarbeiten“, sagt er. Auch internationale Geldgeber zögern, die Arbeit mit Veteranen finanziell zu unterstützen. Doch Kulaga gibt nicht auf – und erhält Anerkennung. 2023 wurde er als Friedensaktivist des Jahres in Bosnien-Herzegowina ausgezeichnet.
Maja Vejzović – Mauern einreißen
Es gab genügend Gelegenheiten für Maja Vejzović, die Stadt zu verlassen: während des Kriegs, als junge Erwachsene oder später in ihrem Berufsleben. Doch sie entschied zu bleiben. „Mostar hat eine zweite Chance verdient“, sagt sie. Seit mehr als 20 Jahren setzt sich die Bürgerrechtlerin und Programm- und Fundraising-Managerin bei der Local Democracy Agency Mostar (LDA) dafür ein, die Grenzen in ihrer Heimatstadt zu verwischen.
Seit dem Krieg ist die Stadt in zwei Seiten geteilt: eine kroatische und eine bosniakische. „Nicht Mauern teilen Mostar – sondern die Barrieren in den Köpfen“, sagt Vejzović. Das größte Hindernis für eine wiedervereinigte Stadt sind jedoch nicht die Veteranen und früheren Soldaten. Es sind die Jugendlichen, die nach dem Krieg geboren wurden.

„Nicht Mauern teilen Mostar – sondern die Barrieren in den Köpfen.“
Maja Vejzović
Local Democracy Agency Mostar
Obwohl sie den Bosnienkrieg selbst nicht erlebt haben, beobachtet Vejzović bei heutigen Teenagern eine große Spaltung. Um Jugendliche beider Ethnien zusammenzubringen, setzt LDA auf außerschulische Bildungsangebote. Mit Projekten zu Kunst, Kultur, Architektur, Entrepreneurship, Klimawandel oder globalem Lernen versucht das Team von LDA das Interesse der Jugendlichen zu wecken. Die Strategie funktioniert, bestätigt Vejzović: „Sobald sie an einem Tisch zusammenkommen, ist die ethnische Spaltung kein Thema mehr, die Jugendlichen denken nur noch an die Zukunft.“
Doch die festgefahrenen politischen Strukturen und sogenannte „peace building“ Initiativen frustrieren viele Bürgerinnen und Bürger. „Du musst mich nicht ‚befrieden‘. Mir geht es gut“, bekommt Vejzović oft zu hören, wenn sie in Mostar von ihrer Arbeit erzählt. Dabei ist es offensichtlich, dass friedensfördernde Maßnahmen heute notwendiger denn je sind.
Was die nationale Ebene angeht, ist Vejzović wenig optimistisch. Versöhnungs- und Friedensprozesse werden noch viele Jahre dauern, auch aufgrund des komplexen bosnischen Staatsgebildes: zwei Entitäten, drei konstitutive Völker, ein dreiköpfiges Staatspräsidium anstelle eines Präsidenten sowie ein von der UNO ernannter Hoher Repräsentant, der Entscheidungen mit seinem Veto blockieren kann. Angesichts dieser Bedingungen liegt viel Verantwortung bei der Zivilgesellschaft: Sei es die Bürgerbeteiligung zu stärken oder eine Gesellschaft aufzubauen, die Frieden und partizipative Demokratie nährt.
Die Herausforderungen sind klar. Doch Geschichten wie die von Maja Vejzović zeigen, dass Veränderung nicht bloß möglich ist. Sie findet bereits statt.
Bosniens politisches System mag kompliziert sein, Spannungen bestehen, doch vor Ort gibt es Menschen, die sich der Spaltung standhaft widersetzen. Für Vejzović ist klar: „Mit Engagement, Kreativität und Graswurzelbewegungen bauen Aktivist:innen dort Brücken, wo andere nur Mauern sehen. In Klassenzimmern, Jugendzentren und tagtäglichen Unterhaltungen lernt die neue Generation langsam, über ethnische Grenzen hinwegzusehen. Diese kleinen Schritte machen vielleicht keine Schlagzeilen. Aber leise und heimlich gestalten sie eine Zukunft, in der Einigkeit nicht mehr die Ausnahme ist, sondern eine geteilte Vision.“
Über die Interviews
Die Zitate wurden während des NECE Labs „Working with Polarised Groups in Civic Education” aufgezeichnet. Praktizierende aus der außerschulischen und schulischen Bildungsarbeit kamen für drei Tage in Sarajevo zusammen, um sich auszutauschen, fortzubilden und Lösungen zu teilen.
Mehr Ergebnisse des NECE Labs enthält der ausführliche Rückblick (auf Englisch).
