Geschichten aus der Engagierten Stadt
Das Netzwerk der Engagierten Städte ist seit Beginn 2015 stetig gewachsen. Aus zunächst 50 teilnehmenden Kommunen wurden mittlerweile 113 Engagierte Städte. Jede steht vor eigenen Herausforderungen, überall müssen spezifische Lösungen gefunden werden, der Erfolg hängt mehr als sonst von den handelnden Personen ab.
Damit wir die gesamte Arbeit des Netzwerks beurteilen können, werden die Engagierten Städte seit Beginn des Programms wissenschaftlich beobachtet. Dies und eine ergänzende Befragung aller gemeinnützigen Organisationen in den Engagierten Städten haben gezeigt: 57 Prozent der befragten Vereine, Stiftungen und gemeinnützigen GmbHs in den Engagierten Städten gaben an, dass ihr Ort heute engagement-freundlicher ist als zu Beginn des Programms – also mehr als jede zweite Organisation.
Diese Freundlichkeit gegenüber Engagement spiegelt sich in den zahlreichen Projekten und Initiativen wider. Die folgenden Texte zeigen besonders interessante Beispiele dieser Projekte.
Vielfältige Engagementlandschaft in Schwerte
2015 wurde Schwerte offiziell zur Engagierten Stadt ernannt. Doch nicht erst seitdem engagieren sich die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Stadt. Schwerte hat es sich zum Ziel gesetzt, das Engagement Einzelner zu einer Verantwortungsgemeinschaft vor Ort verschmelzen zu lassen. Die ehrenamtlichen Initiativen in Schwerte sind vielfältig. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Der Arbeitskreis Asyl setzt sich für Geflüchtete ein und organisiert Stadtführungen für sie, im Frühjahr wird die Stadt bei der Aktion „Schwerte putzt munter“ gemeinschaftlich vom Müll gesäubert und der „Ruhrtaler“ soll als Stadtwährung bei Stadtfesten das Geld vor Ort halten.
Begegnungsort am Markt
Im Büro der MitMachStadt Schwerte, zentral am Marktplatz gelegen, treffen sich fünf engagierte Schwerter Bürgerinnen und Bürger um über die Engagementlandschaft in ihrer Stadt zu diskutieren. Im Raum steht die Frage, welche Faktoren das Gelingen der „Engagierten Stadt“ Schwerte begünstigen – und wo eventuell noch Handlungsbedarf besteht. Anke Skupin nennt sich selbst „Schwerte-verliebt“ und fügt, nicht ohne Stolz, hinzu: „Bei uns gibt es schon sehr viel Engagement“. Ihr Kollege Christopher Wartenberg, Ehrenamtskoordinator der Stadt Schwerte, erklärt, dass das Engagement der Schwerter nicht nur auf die jahrhundertealten Verbindungen zwischen den einzelnen Stadtbezirken – den Schichten – zurückzuführen sei. Mitte der 1990er Jahre, erzählt er, habe es im Schwerter Ortsteil Ergste das erste erfolgreiche Bürgerbegehren in Nordrhein-Westfalen gegeben. Damals setzten sich engagierte Bürgerinnen und Bürger für eine Wiedereröffnung des Elsebads ein – mit Erfolg. Heute wird es von Ehrenamtlichen allein betrieben.
Gleichberechtigte Akteure
Jochen Born, ehemaliger Leiter der Volkshochschule Schwerte, sieht den maßgeblichen Erfolg der Engagementlandschaft Schwertes darin begründet, dass keiner der beteiligten Akteure aus Stadt, Politik, Wirtschaft und Kirche versuche, zu dominieren. „Wenn eine der Stellen das Bürgerengagement an sich zieht, würde sie die Bürger lähmen und verhindern.“ Für Anke Skupin ist ein weiterer Gelingensfaktor klar: „Es ist viel klüger, die Menschen vorher mitzunehmen und zu gucken, was ihre Bedürfnisse sind.“ Das Büro am Markt sei dafür eine ideale Anlaufstelle und die personelle Ausstattung gut. „Es ist ein Ort wo Schwerter Bürgerinnen und Bürger ihr Herz ausschütten können.“ Mit einem kleinen Manko: Trotz zentraler Lage ist das Büro von außen für Nichteingeweihte auf den ersten Blick nicht als Bürger-Treffpunkt zu erkennen. Ein Punkt, an dem aktuell gearbeitet wird.
Leitlinien für das Miteinander
Die zentrale Frage ist: Wie kriegt eine Stadt ihre Bürgerinnen und Bürger dazu, sich zu engagieren? Und wie holt man die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure in ein Boot? Um die Zusammenarbeit zu verbessern, führte Schwerte 2019 „Leitlinien“ für das Miteinander ein. Darüber hinaus wurde ein Gremium, bestehend aus 21 wechselnden Mitgliedern aus Stadt, Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Engagierter Bürgerschaft, Jugendvertretung und per Zufall ausgewählten Einwohnern, zusammengesetzt. Es soll einen kontinuierlichen Diskurs über die Herausforderungen und Aufgaben in Schwerte ermöglichen und hat die Rolle zu bewahren und weiterzuentwickeln, was bereits erarbeitet worden ist. Sehr hilfreich war zu Beginn die externe Moderation der Stiftung Mitarbeit, die den Arbeitsprozess begleitet hat.
Augenhöhe steht an erster Stelle
Alle Anwesenden betonen, wie wichtig die Kommunikation auf Augenhöhe zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren ist. Anke Skupin gibt ein Beispiel: Während einer Zusammenkunft sprach sie von der Entwicklungsgruppe, die die Leitlinien und das Gremium mitentwickelt hatte als „Lenkungsgruppe“, ohne es so gemeint zu haben. Die Empörung war groß. Wer wird hier gelenkt? wurde gefragt. Der Begriff „Lenkungsgruppe“ hatte Fantasien von unterschiedlichen Machtverhältnissen ausgelöst. „Da verstanden wir, wie wichtig die Begrifflichkeiten sind. Denn niemand will sich lenken lassen.“ Anschließend wurde schriftlich festgelegt, dass alle die gleichen Rechte haben. Alle Engagierten sind sich einig, dass die Öffentlichkeitsarbeit weiter ausgebaut werden sollte. „Man findet uns zum Beispiel nicht direkt oben auf der Homepage der Stadt Schwerte.“ Auch könne vielleicht nicht jeder direkt etwas mit der Bezeichnung „MitMachStadt” anfangen. „Vielleicht wäre es besser es umzudrehen in MachMitStadt”, überlegt Hannes Köpke aus der Werbegemeinschaft Schwerte.
Auf der Homepage (www.mitmachstadt.schwerte.de) finden engagierte Bürgerinnen und Bürger eine Ideenplattform. Hier können sie Ideen für ihre Stadt vorschlagen und darüber abstimmen lassen. Erhält eine Idee mindestens 100 Likes, wird sie direkt in den Ausschuss aufgenommen. „Aber auch das ist kein Selbstläufer“, sagt Jochen Born. „Man kann die Leute nicht nur digital informieren, sondern muss zu ihnen hin.“ Aktuell sind drei Ideen auf der Ideenplattform vermerkt – zwei davon, wie das „Verkehrsexperiment autofreie Innenstadt“, haben die nötige Like-Anzahl erreicht und werden aktuell geprüft.
Vom Partner-Netzwerk profitieren
Schwerte pflegt intensive Freundschaften zu anderen Städten aus dem Kommunennetzwerk NRW und profitiert vom Partner-Netzwerk der Engagierten Stadt. Aktuell ist Schwerte in einem Tandem-Projekt mit Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Der Austausch der Städte findet auf einer unbürokratischen Ebene statt.
Vernetzungskultur fördern
Um die Vernetzung zu fördern, lädt Schwerte einmal im Jahr zur Vernetzungskonferenz statt. 2022 fand sie Ende März in der Rohrmeisterei, einem Bürgerkulturzentrum in einem ehemaligen Fabrikgebäude im Herzen der Stadt statt. An der roten Ziegelwand ist noch eine Inschrift zu lesen: „Laufenlassen der Motore verboten!“ Rund 35 Engagierte aus Schwerte haben sich heute zusammengefunden. Vor der Pandemie waren es laut Anke Skupin mindestens doppelt so viele. Dr. Konrad Hummel, ehemaliger Verwaltungsmitarbeiter mit langjähriger Erfahrung im ehrenamtlichen Engagement, hält ein Impulsreferat – aufgrund seiner Corona-Infektion online. Er erzählt, dass die Anzahl der Bürgerinitiativen in den letzten Jahren gestiegen seien. Und betont, dass die Gemeinde und die Kommune die wichtigsten demokratischen Säulen in unserer Gesellschaft sind. Ebenso wie Anke Skupin ist er der Meinung, dass eine kluge Bürgerbeteiligungsstrategie früh ansetzt.
Das Publikum stellt Fragen. Wie regt man die Jugend an, sich zu engagieren? Hummel antwortet ausführlich. Das Handlungsorientierte sei für Jugendliche entscheidend. „Das Anpflanzen von drei Tomaten ist sinnvoller als ein Vortrag über Tomatenzucht. Es gibt kein Patentrezept, am Ende entscheidet sich ob die Jugendlichen Vertrauen in die Demokratie haben.“ Anke Skupin legt mit ihrer Frage den Finger gleich in die Wunde. „Wie kann man mit dem Machtwechsel in der Politik umgehen?” Hummel kann kein Patent-Rezept geben: „Im schlimmsten Fall herrschen ein halbes Jahr vor und nach der Wahl Stillstand. Es kriselt an Vertrauen bei Machtwechseln.“
Aktuell steht die Stadt Schwerte, wie viele andere Städte in Deutschland vor der großen Herausforderung, Geflüchteten aus der Ukraine Schutz zu bieten. Der Arbeitskreis Asyl organisiert Unterkünfte in Privatwohnungen, Sprachkurse, Begegnungscafés und unterstützt bei Amtsgängen. Anke Skupin ist zuversichtlich: „Ohne das ehrenamtliche Engagement des Arbeitskreises Asyl hätte die Stadt die letzte große Flüchtlingswelle 2015 nicht alleine bewältigen können.“
Text: Ljuba Naminova
Soziales in Lilienthal
„Familien in belastenden Lebenslagen“ ist das Thema, über das die Frauen und der Mann beraten. Es ist das zweite Teilprojekt, das in der knapp 20.000 Einwohner großen Gemeinde gleich an der Grenze zu Bremen unter dem Label „Engagierte Stadt“ läuft. Parallel dazu organisieren Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Einrichtungen die zweite Nachhaltigkeitsmesse am 8. Oktober im Kulturzentrum Murkens Hof. Damit zeigt die Gemeinde nicht nur in Sachen „Engagierte Stadt“ Flagge, sondern auch im Rahmen der Europäischen Nachhaltigkeitswochen. Diese beginnen am 18. September und enden an eben jenem 8. Oktober. Das Motto: „Go Green“.
Die koordinatorischen Fäden aller Projekte laufen bei Regine Moll zusammen. Sie ist die Leiterin der im Jahr 2020 gegründeten Freiwilligen-Agentur (FWA) Lilienthal. Das „e.V.“ hinter dem Namen verrät: Die FWA ist ein Verein, der das Projekt „Engagierte Stadt“ trägt. Mehr noch: Ohne die „Engagierte Stadt“, diesen Titel trägt Lilienthal bereits seit 2015, würde es nach Einschätzung von Regine Moll wohl die FWA gar nicht geben. Immerhin befindet sich die Gemeinde schon in der dritten Phase des Projekts „Engagierte Stadt“, die von 2020 bis 2023 läuft. Der Grundgedanke, Vereine, Institutionen, Verwaltung, Politik und Wirtschaft unter einem abstrakten Ziel zu vernetzen, sei bewusst so gehalten, sagt Regine Moll. Nur bei der Wirtschaft gebe noch Luft nach oben.
Die Vereinskonstruktion der Freiwilligen-Agentur „ermöglicht uns gerade im Rahmen der ,Engagierten Stadt’ ein Höchstmaß an Unabhängigkeit gegenüber von Politik und Verwaltung“, ergänzt die Leiterin. Und doch ist das Rathaus nicht so ganz außen vor: Der im Alter von nur 45 Jahren vor wenigen Tagen verstorbene Bürgermeister Kristian Willem Tangermann war Vereinsvorsitzender. Aktuell muss die 2. Vorsitzende Christina Klene Tangermanns Aufgaben übernehmen.
Durch den plötzlichen Tod des Bürgermeisters steht die Freiwilligen-Agentur vor veränderten Rahmenbedingungen. Dies gilt ebenso für das Teilprojekt „Familien in belastenden Lebenslagen“. Großen Einfluss auf die Ausrichtung und nicht zuletzt die komplette Arbeit der beteiligten Institutionen wird der Krieg in der Ukraine mit den zu erwarteten zehntausenden Flüchtlingen haben. Ihnen dürfte ein großer Teil der Tätigkeit der Menschen gelten, die haupt-, aber insbesondere ehrenamtlich in der Gemeinde tätig sind. Darüber ist sich der Kreis an diesem Vormittag einig.
Workshop-Leiterin Frederike Bosse bringt es auf den Punkt: „Der Ukraine-Krieg verlangt die Neujustierung unserer Arbeit.“ Hinzu komme, dass die Einrichtungen, die in ihrer Arbeit auf ehrenamtliches Engagement angewiesen sind, nach zwei Jahren Corona-Pandemie viele ihrer Freiwilligen verloren haben.
Der Begegnungsort
Workshop-Leiterin Frederike Bosse nimmt sich das nächste Blatt ihrer Flipchart vor. Die Teilnehmenden kommen jetzt nämlich zu einem wesentlichen Punkt des Teilprojekts: dieses benötigt einen Begegnungsort. Dass es solch einen nicht gebe, sei der Grund dafür, dass viele Projekte scheitern, sagt Freiwilligen-Agentur-Leiterin Regine Moll, die mit in der Runde sitzt. Im Auge hat sie das Konventshaus der ehemaligen Philippus-Gemeinde. Sie hatte sich Ende 2021 aufgelöst und den Raum an die Bremer Zell-Gemeinde abgegeben. Regine Moll macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass für diesen Raum eine dauerhafte Finanzierung gesichert sein müsse. Hierzu seien nun Ideen gefragt.
Aber nicht nur dafür, denn im letzten Teil des Workshops machen sich die Teilnehmenden intensiv darüber Gedanken, was es für eine offene Sprechstunde braucht. In vier Arbeitsgruppen gehen sie das Problem an: Soll es einen Flyer geben und eine feste Sprechzeit? Wie können sich die Ehrenamtlichen beziehungsweise ihre Arbeit miteinander vernetzen? Wie lassen sich feste Termine überhaupt organisieren? Muss ein Name für das Angebot her? Sollen Kinderärzte mit eingebunden werden, zum Beispiel über eine Hotline? Frederika Bosse sammelt die Ideen eifrig, damit die Teilnehmenden beim nächsten Netzwerktreffen daran weiterarbeiten können.
Die Nachhaltigkeitsmesse
Noch ein halbes Jahr, dann steht die zweite Ausgabe des ersten Teilprojekts der „Engagierten Stadt“ an: die Durchführung der Nachhaltigkeitswochen. Ein erster Termin steht bereits nach viel positivem Feedback aus 2021 fest: die Nachhaltigkeitsmesse am 8. Oktober im Kulturzentrum „Murkens Hof“. Hier präsentieren Vereine, Unternehmen, kommunale Einrichtungen und engagierte Privatpersonen ihre Angebote zum Thema Nachhaltigkeit. Die Nachhaltigkeitswochen wurden erstmals 2020 in der Gemeinde von der FWA organisiert, viele Veranstaltungen konnten wegen der Corona-Pandemie live nicht stattfinden. Deshalb, erläutert Regine Moll, seien einige Veranstaltungen „bewusst online“ über die Bühne gegangen. Im Jahr 2021 war die Lage schon etwas entspannter, vieles fand in Präsenz statt. Mit 43 Veranstaltern wurden etwa 60 Aktionen und Veranstaltungen in den drei Wochen durchgeführt, damit war Lilienthal Spitzenreiter in Niedersachsen. Nun beginnen die Vorbereitungen für die diesjährigen Nachhaltigkeitswochen. Zur Vorbereitung gibt es zwei Netzwerktreffen, bei denen Ideen und Vorhaben ausgetauscht werden.
Die Organisatoren, zu denen neben Regine Moll auch Martina Michelsen, Leiterin der Volkshochschule (VHS), und Martina Sarkmann, Teamleitung der Lilienthaler Gemeindebibliothek gehören, heben hervor, dass es in Sachen Nachhaltigkeitsmesse um konkrete Themen und Ziele gehen müsse. Wenn es wie bei den Vorgaben der „Engagierten Stadt“ abstrakt sei, könnten Interessierte das jeweilige Thema nicht greifen.
Wie ist es mit der Vernetzung? Diese, so Regine Moll, geschehe bei der Messe selbst: „Da steht der Wirtschaftsbetrieb neben dem Umweltverband und ein Foodsharing-Anbieter arbeitet mit der Tafel zusammen.“ Und da alle Organisationen das gleiche Problem, nämlich fehlende Manpower und wenig Geld, haben, mache es Sinn, Arbeit und Euro besser untereinander aufzuteilen, indem bei der Nachhaltigkeitsmesse das große Vernetzen stattfinde. „Es ist toll, dass es solch einen Multiplikatoren-Effekt hat“, macht Martina Michelsen dann auch deutlich. Martina Sarkmann springt der VHS-Leiterin zur Seite: „Man muss einfach mal machen!“
Text: Ulf Buschmann
Ehrenamt in Rostock
Ehrenamt ist der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, wie es so schön – und so wahr – heißt. Bürgerliches Engagement trägt Vieles, in guten wie in Krisenzeiten, im Normalbetrieb wie während einer Pandemie oder eines Kriegs. Knapp 40 Prozent der Deutschen tun regelmäßig unentgeltlich etwas für andere, das hat zuletzt 2019 eine Untersuchung des Bundesfamilienministeriums ergeben. Dennoch: Vielen Projekten, Vereinen und in zahlreichen Orten mangelt es an ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Vielerorts fehlen feste Strukturen wie zentrale Anlaufstellen und verlässliche Kooperationen zwischen den verschiedenen Akteuren. Menschen, die Zeit und Energie in ein Ehrenamt investieren wollen, brauchen klare, niedrigschwellige Informationen darüber, wo und wie sie helfen können. Nicht nur bezahlte Jobs sollten also professionell vermittelt werden, sondern auch Ehrenämter.
Das Label „Engagierte Stadt“ tragen inzwischen 100 deutsche Städte. Rostock, 208 000 Einwohner, Hanse-, Hafen- und Universitätsstadt an der Warnow, gehört seit 2021 dazu. Die Teilnahme an dem Engagement-Programm regte 2020 der damalige parteilose Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen an. Seitdem treiben in Rostock vor allem drei Partner den Aufbau einer zentralen Anlaufstelle für Ehrenamtliche voran: Anne Hammer vom 2020 gegründeten Amt für Sport, Vereine und Ehrenamt, Tobias Pollee, Ehrenamtskoordinator des Deutschen Roten Kreuzes Rostock sowie Melissa Herfort von der MitMachZentrale Rostock, einem Projekt des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Sport Mecklenburg-Vorpommern.
Auch auf Vereinsebene machte in Rostock bis zum Start der Engagierten Stadt jeder sein eigenes Ding. Die Stadt zählt 1500 Vereine – aber ihnen fehlte eine übergeordnete Anlaufstelle für Freiwillige. „Man verliert viele potentielle Ehrenamtliche, wenn sie bei einem Verein anrufen und zu hören bekommen: Vielen Dank, aber wir haben gerade keinen Bedarf“, sagt Tobias Pollee. Deshalb war das erste Ziel für Rostock auf dem Weg zur Engagierten Stadt eine eigene Homepage für das Thema Ehrenamt. Inklusive einer Datenbank für die Gesuche von Vereinen. „So stoßen Hilfsbereite auf eine ganze Palette von Einsatzmöglichkeiten“, sagt Anne Hammer. Für die Gestaltung einer neuen Website fehlte allerdings das Geld. Notgedrungen setzte sie sich selbst an die Arbeit.
Seit September 2021 ist das Ergebnis online. Auf Engagiertes-Rostock.de stellen momentan rund 30 Vereine ihre Anzeigen ein. Zum Beispiel das Frauenhaus Rostock, das ehrenamtliche Übungsleiter:innen für ein lockeres Bewegungsangebot sucht. Die Alzheimer Gesellschaft, die eine Kassenprüfer:in braucht. Dem Interkulturellen Treff fehlen Pat:innen oder der Rostocker Heimstiftung Zeitspender:innen. Jede der aktuell 100 Annoncen gibt Antworten auf die häufigsten Fragen: Wie oft sollte ich mir Zeit nehmen? Brauche ich einen Führerschein oder ein Führungszeugnis? Was genau sind meine Aufgaben? Und: Wofür sorgt mein Träger?
Auch Christin Reiche klickte vor ein paar Monaten die Einträge der Vereine durch. Bei der Alltagshilfe des Rostocker Freizeitzentrums blieb sie hängen. „Das ist im Prinzip das, was ich auch für meine Oma getan habe“, sagt sie. „Ich dachte mir: Das bekommst du gut hin.“ Fragt man Reiche, warum sie nach einem Ehrenamt suchte, spricht sie von dem Bedürfnis, etwas zurückzugeben. „Mir geht es gut im Leben. Und ich finde, Menschlichkeit kann man nur erwarten, wenn man sie auch selbst zeigt.“ Ihre Mail landete im Posteingang von Anne Hammer, sie brachte Reiche in Kontakt mit Alltagshilfe-Projektleiter David Krause. Er hatte sofort das Gefühl, Frau Kottwitz und Frau Reiche würden gut zusammenpassen.
Langsam entsteht in Rostock ein Netzwerk über Vereinsgrenzen hinweg. Doch eine echte Ehrenamts-Stadt zu werden, dauert. Es braucht hauptamtliche Strukturen wie die Stellen von Hammer und Pollee. Und den Austausch mit anderen Städten, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht haben. Das Programm „Engagierte Stadt“ vermittelt Neuzugängen eine erfahrene Kommune als Tandem-Partnerin. Stellt ein Netzwerk für den Wissensaustausch zur Verfügung. Und bietet regelmäßige digitale wie analoge Runden: alle zwei Monate einen Stammtisch, alle sechs Monate ein Treffen. Anne Hammer will noch engere Kontakte zu anderen Städten knüpfen. „Wo es interessante Konzepte gibt, werden wir uns melden – und unterstützen auch gern andere.“
Auch heute gehört die Santa Barbara Joey Kelly. Ihr Unterhalt verschlingt jeden Monat 4000 Euro, die Reparaturen für den TÜV 2021 kosteten weit über 100 000 Euro. Diese Summen muss allerdings nicht Kelly überweisen, sondern sie stammen zu 100 Prozent aus ehrenamtlichem Einsatz: Der Rostocker Verein Bramschot e.V. pflegt und bewegt die Santa Barbara. Klaus Apel, der Vorstand, freut sich über die Leihgabe, die so viel Arbeit macht. „Eine Win-Win-Situation“ sagt er. Apel, 68, sitzt entspannt am Tisch in der Offiziersmesse, einen Kaffee im metallenen Isolierbecher vor sich. Er arbeitete als Seeoffizier bei der Volksmarine, später studierte er Sozialpädagogik und leitete eine Rostocker Jugendeinrichtung. Nach seiner Pensionierung hörte Apel von der Santa Barbara – und bekam Sehnsucht, wieder aufs Meer zu fahren.
Als Verein hat Bramschot ein Ziel: Jungen Menschen die Traditionsschifffahrt nahe zu bringen. Apel schaut hinauf zum Großmast der Santa Barbara und sagt stolz: „Unsere Segel sind genauso wie vor 500 Jahren bei den Wikingern.“ Regelmäßig kommen Schulklassen und Jugendgruppen für Tagestörns an Bord. Chartern können das Schiff aber auch Einzelpersonen, Familien, Vereine oder Unternehmen – ein Tagesausflug kostet 2300 Euro. Im Angebot sind auch längere Fahrten, dann wird in den für die Kellys gebauten Kojen geschlafen und in der Bordküche gekocht.
Die Saison auf der Santa Barbara Anna dauert von Mai bis Ende Oktober – in diesen Monaten muss das gesamte Geld für den Unterhalt des Schiffs verdient werden. Das erfordert mindestens zwei bis drei bezahlte Törns pro Woche – und zwischen 11 und 13 ehrenamtliche Crewmitglieder für jede Fahrt, vom Matrosen bis zum Steuermann. Wie bekommt man so viele Leute verlässlich zusammen? „Klappt eigentlich immer“, sagt Klaus Apel mit einem breiten Lachen. „Die meisten von uns sind pensioniert, und das Schiff fasziniert sie.“ Auch in den Wintermonaten arbeiten viele der 127 Vereinsmitglieder auf dem Schiff. „Der Rost frisst sich schneller durch, als man schauen kann“, sagt Apel. „Würden wir ein halbes Jahr nichts machen, könnte man die Santa Barbara gleich versenken.“
Dem Reparaturbedarf an Bord stellt sich seit einigen Monaten auch Marina Klossowski entgegen, 62, Metallschlosserin im Vorruhestand. Sie trägt feste Arbeitskleidung und führt stolz in den Maschinenraum. „Ich liebe den Geruch hier“, sagt sie. 25 Jahre lang hat Klossowski für die Rostocker Neptun Werft gearbeitet, bis Schulter und Knie nicht mehr mitmachten. Dann saß sie plötzlich zuhause, invalide und mit einer kleinen Rente. „Ich kam mir vor wie ein Mensch zweiter Klasse“, sagt sie. „Und konnte mir nicht vorstellen, den ganzen Tag vom Fenster aus die Straße zu beobachten.“
Text: Christiane Langrock-Kögel