Mit persönlicher Bindung gegen das Vergessen
Das Verschwinden von Zeitzeug:innen verändert unser Erinnern an die Schrecken von Nationalsozialismus, Judenverfolgung und vom Zweiten Weltkrieg. KI und Video-Technologie ermöglichen uns, sogar in Zukunft noch mit Shoah-Überlebenden zu sprechen. Darüber haben wir mit Sylvia Asmus vom Deutschen Exilarchiv und der Ethikprofessorin Judith Simon diskutiert.
Antisemitismus in Deutschland war nie weg und nimmt wieder zu. Deshalb soll gerade am 9. November daran erinnert werden, was an diesem Tag im Jahr 1938 geschah. Denn die Novemberpogrome markieren den „Anfang der industriellen Vernichtung von jüdischen Menschen“, macht der Moderator des Veranstaltungsabends, Marcus Richter, deutlich. Genau deswegen dürften die Berichte von Zeitzeug:innen dieser Geschichte nicht vergessen werden.
„Hallo Kurt!“, begrüßt Sylvia Asmus ihren Interviewpartner. Asmus leitet das Deutsche Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, und sie ist verantwortlich für die Entwicklung der interaktiven Zeitzeugnissen mit Überlebenden des Holocaust. „Guten Tag!“, antwortet der 93 Jahre alte Kurt Maier über einen Bildschirm. „Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“ „Fragen Sie!“ So beginnt die Konversation im Video-Interview. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein gewöhnliches, aufgezeichnetes Gespräch, sondern um ein Video-Interview, das mithilfe von Spracherkennung sowie einer KI-gestützten Verschlagwortung und einer daraus resultierenden Zuordnung von Kurzvideos Interaktivität schafft. Kurt Maier wurde 1930 in Kippenheim geboren und floh als 11-Jähriger gemeinsam mit seinen Eltern ins Exil in die USA, wo er bis heute lebt. Im virtuellen Gespräch mit ihm erfährt man seine persönliche Lebensgeschichte – beispielsweise beschreibt er, wie er sich gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder unter einer umgedrehten Badewanne auf dem Dachboden versteckte, als die Nazis während der Novemberpogrome die Fenster ihres Wohnhauses mit Steinwürfen zerstörten.
Empathie entwickeln trotz Bildschirm
Natürlich spreche man nicht direkt mit Kurt Maier, sondern mit einem Computer, stellt Judith Simon klar. Für die Ethikprofessorin, die sich wissenschaftlich mit Informationstechnologien auseinandersetzt, ist es wichtig, hierbei korrekt zu formulieren, worum es geht. Am Ende handelt es sich um eine Simulation – zwar wurde der echte Kurt Maier interviewt, jedoch simuliert die Technologie lediglich ein echtes Gespräch. Die Aufgabe des Exilarchivs sei es, „in die Gesellschaft zu wirken“, sagt Asmus. Mit den beiden befragbaren Interviewpartnern, die bisher produziert wurden, möchte sie „Emotionales hervorrufen“, es gehe darum, die Person besser kennenzulernen, sogar Empathie zu entwickeln, da mit einer persönlichen Bindung besser gegen das Vergessen vorgegangen werde könne.
Simon erwähnt auch, dass digitale Erinnerungskultur Fallstricke berge, und es deshalb wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass es persönliche Erfahrungen sind, die eventuell Lücken aufweisen. „Wie sich Menschen erinnern, kann im Widerspruch stehen zu Faktenwissen, muss es aber nicht“, sagt Asmus. Bei der Entwicklung der Gespräche habe man darauf geachtet, deutlich zu machen, wo Kurt Maier Erinnerungslücken hat – er selbst sagt es im Interview. Trotzdem gehe es darum, seinen persönlichen Blick auf die Vergangenheit kennenzulernen und zu erhalten.
Die Art der Erfahrbarkeit von Geschichte wird sich ändern
Bis die interaktiven Zeitzeugnisse einsatzfähig waren, hat es eine lange Vorrecherche gebraucht. Asmus erklärt, sie und ihr Team hätten nicht nur analysiert, was beispielsweise Jugendliche am häufigsten fragen, wenn sie Zeitzeug:innen interviewen, sondern sie haben sich insgesamt 900 Fragen überlegt. Kurt Maier wurde fünf volle Tage in Washington in einem Studio interviewt und aufgezeichnet. Danach wurde die Technologie mit rund 80 Testgruppen in einer Beta-Phase so lange getestet, bis sie zuverlässig die richtigen Keywords aus allen möglichen Fragen herausfiltern konnte, um die dazu passende Antwort von Kurt Maier zu liefern. Heute können sich Interessierte im Deutschen Exilarchiv, aber auch online mit zwei Holocaust-Überlebenden auf diese Weise unterhalten. Für Simon ist klar, dass dies nicht das Ende digitaler Erinnerungskultur ist, sondern dass sie sich immer weiterentwickeln und neue Technologien nutzen wird. Sie glaubt, dass die „Art der Erfahrbarkeit“ in Zukunft eine bedeutende Veränderung von Erinnerungskultur darstellen wird. Immersive Technologien werden eine zunehmend wichtige Rolle spielen und dadurch Vergangenes auf ganz andere Art erlebbar machen. „Wir leben in einer Zeit, in der es gut wäre, nicht geschichtsvergessen zu sein“, betont Simon an dieser Stelle erneut und macht damit deutlich, wie wichtig es ist, die Geschichten Shoah-Überlebender zu erhalten.
Asmus und ihr Team sind mit den beiden bisher verfügbaren Interviews bereits getourt – sie sind auch in den Heimatort von Kurt Maier gefahren. Menschen, die ihn kennen, hatten das Gefühl, sich mit Kurt virtuell unterhalten zu können. Sie sagt, dass die Reaktionen durchweg positiv waren, und dass Menschen sich ihm verbunden gefühlt haben, obwohl sie wissen, dass sie ihm nicht in der Realität gegenübersitzen. Genau deshalb, glaubt Asmus, kann diese Art von Technologie auch in Zukunft dafür sorgen, dass wir den Holocaust nicht vergessen – weil die Technik uns auf emotionale Weise daran erinnern wird, was war.