
Foto: Körber-Stiftung/Claudia Höhne
Ist die deutsche Erinnerungskultur gescheitert?
Die deutsche Gesellschaft verändert sich und damit auch der Bezug zu Vergangenem und die Perspektiven auf Erinnerung: Kann die deutsche Erinnerungskultur die Geschichte(n) einer zunehmend diversen Gesellschaft lebendig halten? Welche blinden Flecken bestehen und welche Perspektiven müssen integriert werden, um eine zukunftsfähige Erinnerungskultur zu gestalten? Über diese Fragen debattierte die Journalistin Victoria Reichelt mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und dem Literaturwissenschaftler und Kurator Ibou Diop.
Erinnerungsweltmeister Deutschland?
Deutschland gilt international als Vorbild in der Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit. Kaum ein anderes Land investiert so viele Ressourcen in die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die Mahnung vor den Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer. Kritiker:innen warnen jedoch seit Langem, dass die etablierte, institutionalisierte Erinnerungskultur in ihrer gegenwärtigen Form gescheitert sei. Verdrängt politische Verantwortung das „Erinnern von unten“ und wurde Erinnerungskultur zunehmend zu einem Mittel der politischen Selbstvergewisserung?
Vor diesem Hintergrund widmeten sich Aleida Assmann und Ibou Diop der Frage, ob die deutsche Erinnerungskultur in ihrer jetzigen Form zeitgemäß ist und wie eine Erinnerungskultur von morgen aussehen kann. Deutschland ist heute durch Migration und Globalisierung deutlich diverser als in den 1980er oder 1990er Jahren. Während die Aufarbeitung der NS-Verbrechen fest in der Erinnerungskultur verankert ist, bleiben andere historische Traumata weit weniger präsent. Die Aufarbeitung von Kolonialverbrechen, sowie (post-)migrantische Stimmen haben nach wie vor kaum Platz in der deutschen Erinnerungskultur gefunden. Obwohl in den letzten Jahren verstärkt über die deutsche Kolonialgeschichte debattiert wird, bleibt ihre Aufarbeitung marginal. Dies zeigt sich etwa an der verspäteten Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama.
Das Panel betonte die Notwendigkeit einer „multiperspektivischen Erinnerungskultur“ – Politik kann zwar einen Rahmen vorgeben, doch müsse dieser durch die Zivilgesellschaft gefüllt und aktiv mitgestaltet werden. Erinnerung sollte nicht auf einzelne Gruppen oder historische Ereignisse begrenzt sein, sondern ein gemeinsames Verständnis für geteilte historische Verantwortung schaffen. Dazu gehört, die kulturelle Vielfalt Deutschlands widerzuspiegeln, nur so kann eine vielschichtige, facettenreiche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gelingen.
Assmann und Diop forderten eine Neuorientierung der Erinnerungskultur hin zu einer pluralen, diverseren Form, die alle Teile der Gesellschaft miteinbezieht, denn eine rein institutionalisierte, verstaatlichte Form des Erinnerns reicht nicht aus – und künstlerische Projekte und digitale Formate können dazu beitragen, neue Zugänge zur Vergangenheit zu schaffen und Erinnerung lebendig zu halten.