1. Preis Sozialwissenschaften 2025

Lara Bister hat untersucht, wie sich Wirtschaftskrisen auf die Gesundheit von Familien auswirken. Im Fokus der Soziologin: die deutsche Wiedervereinigung und deren Folgen für die sogenannten Wendekinder aus Ostdeutschland.

Lara Bisters Forschung im Portrait

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Wie die Wiedervereinigung die Gesundheit beeinflusst | Deutscher Studienpreis 2025

Die Forschung

Wie die Wiedervereinigung die Gesundheit beeinflusst

Text: Dorthe March

Fotos: Patrick Pollmeier

Die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 ist unumstritten ein Meilenstein der jüngeren deutschen Geschichte. Die Wende kam unerwartet, brachial und allumfassend und brachte ganze Generationen – vor allem von Ostdeutschen – aus dem Gleichgewicht. Denn obwohl das Ende der DDR und die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands ausschließlich hätte zusammenführen sollen, was zusammengehört, entpuppten sich die Auswirkungen dieser Entwicklung vor allem für viele Ostdeutsche als handfeste Krise. „Die Integration der ostdeutschen Planwirtschaft in die westdeutsche Marktwirtschaft führte zu massiven Privatisierungen, der Schließung unprofitabler Betriebe und einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf bis zu 30 Prozent in Ostdeutschland“, erläutert Lara Bister. Das hatte ohne Frage mittelbaren, aber auch einigen unmittelbaren Einfluss nicht nur auf Erwachsene, sondern auch auf deren Kinder, also ganze Familiensysteme.

Vielfältige Symptome

An diesem Punkt setzt Bisters Promotion an. In ihrer kumulativen Dissertation zu Wirtschaftskrisen und Gesundheit im Familienkontext hat sie unter anderem die langfristige Gesundheit der sogenannten Wendekinder – Ostdeutsche, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Kinder und Jugendliche waren – erforscht. Ihre These: „Wirtschaftskrisen sind nicht nur eine finanzielle Belastung, sie können auch gravierende Gesundheitsprobleme verursachen.“ Im Zentrum ihres Interesses standen Stoffwechselwerte – beispielsweise Blutdruck und Blutfettgehalt – und körperliche und psychische Belastungen, die insbesondere durch Anspannung und Stress entstehen. „Diese Faktoren werden oft durch einen tatsächlichen oder drohenden Arbeitsplatzverlust, Einkommensunsicherheit und Zukunftsängste ausgelöst“, erläutert Bister.

Mit dem Fokus auf die Wendekinder wertet die Soziologin die regelmäßig erhobenen Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vom Robert Koch-Institut (KiGGS) und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung aus. Die SOEP-Daten verknüpft sie zudem mit Daten der Deutschen Rentenversicherung (SOEP-RV), die die Erwerbsbiografie der Eltern abbilden, deren Kinder am SOEP teilnehmen. „Die KiGGS- und die SOEP-Datensätze liefern Informationen zur Gesundheit junger Menschen aus Ost- und Westdeutschland, einerseits aus Stoffwechseluntersuchungen, andererseits aus Befragungen nach bestimmten Symptomen, zum Beispiel nach Müdigkeit, Reizbarkeit oder Gestresstheit – also danach, inwiefern eine Person durch bestimmte Gesundheitsfaktoren eingeschränkt ist“, erläutert Bister. Auf diese Weise habe sie belegen können, wovon sie bereits vor ihrer Dissertation überzeugt war: Ostdeutsche, die heute zwischen 33 und 50 Jahre alt sind, zeigen vielfältige Belastungssymptome auf, die dieselbe Alterskohorte in Westdeutschland so nicht kennt.

Ostdeutsche Frauen sind stärker belastet

Bister arbeitet drei Hauptaspekte heraus. Die Wirtschaftskrise nach der Wiedervereinigung habe eindeutige negative Spuren in der Stoffwechselgesundheit und der psychischen Belastung im Alltag der Wendekinder in Ostdeutschland hinterlassen – die ausgewerteten Daten zeigen bei den Wendekindern im jungen Erwachsenenalter verbreitete psychische Belastungen sowie schlechtere Stoffwechselgesundheitswerte. Zudem betont die Soziologin: „Die Wirtschaftskrise nach der Wiedervereinigung hat die Gesundheit junger Frauen unter den Wendekindern aus Ostdeutschland stärker beeinflusst als die von Männern. Die Frauen zeigen beispielsweise einen deutlich höheren Blutdruck und eine verschlechterte psychische Gesundheit.“ Dieses Ergebnis könne darauf zurückzuführen sein, dass Frauen eher dazu neigen, Stress innerlich zu bewältigen, was zu zusätzlicher psychischer Belastung führen könne. Und: „Elterliche Arbeitslosigkeit hat nur einen kleinen Einfluss auf die Gesundheitsnachteile der Wendekinder. Dies könnte bedeuten, dass die Gesundheitsunterschiede eher durch den gesamtgesellschaftlichen Schock der Wirtschaftskrise und des plötzlichen Strukturwandels sowie die lang anhaltenden strukturellen Nachteile in Ostdeutschland entstanden sind als durch die Auswirkungen im Familiengefüge allein“, sagt Bister. Die Wirtschaftskrise nach der Wiedervereinigung habe Einfluss auf die Gesundheit der Wendekinder in Ostdeutschland genommen, die Erfahrung elterlicher Arbeitslosigkeit verstärke den Gesundheitsnachteil der Wendekinder dabei jedoch nur minimal und nur bei Frauen.

„Persistente soziale Ungleichheit“

„Die evidenten Gesundheitsnachteile für die Wendekinder könnten bedeuten, dass in Ostdeutschland gesundheitliche und soziale Benachteiligungen über Generationen weiterbestehen – sie weisen auf eine persistente soziale Ungleichheit hin“, sagt die Soziologin. Daher fordert sie politische Maßnahmen, um diese Kreisläufe zu durchbrechen und Chancengleichheit zu fördern, beispielsweise durch gezielte Bildungs- und Gesundheitsinitiativen. Zudem werde durch die Ergebnisse die Bedeutung stabiler sozialer Strukturen für das Wohlbefinden von Kindern deutlich. Programme, die Familien unterstützen – „etwa durch soziale Dienste, psychologische Unterstützung oder Bildungsangebote“ –, seien entscheidend, um die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen auf die nächste Generation zu mildern.

Foto: David Ausserhofer

„Lara Bister setzt mit ihrer exzellenten Dissertation neue Maßstäbe im Verständnis sozialer Ungleichheit: Auf der Basis anspruchvoller Analysen zeigt sie anhand der Gesundheit der „Wendekinder“, also Ostdeutschen, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Kinder oder Jugendlichen waren, wie stark ökonomische Belastungen in dieser Lebensphase den Gesundheitszustand bis heute beeinflussen.“

Steffen Mau, Mitglied der Jury

Ihre Ergebnisse trägt die Sozialwissenschaftlerin bewusst auch aus dem universitären Wissenschaftsbetrieb heraus. Jüngst hat sie einen Beitrag in den WZB-Mitteilungen, der zentralen Publikation des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, veröffentlicht. So sollen die Besonderheiten der Wendekinder auch ihren Weg zu politischen Entscheidern finden – die Zeitschrift habe unter anderem viele Leser:innen im Deutschen Bundestag.

Die Preisträgerin

Im Anschluss an ihr Soziologie-Studium an der Universität zu Köln (Bachelor), ihr Bevölkerungswissenschaften-Studium an der Universität Groningen (Master) und ihr Demografie-Studium an der Autonomen Universität Barcelona (Master) promovierte Lara Bister in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung an der Universität Groningen im Fachbereich Demografie. Heute arbeitet sie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Einstein Center Population Diversity in Berlin und ist, unter anderem, Gastwissenschaftlerin an der Universität Helsinki.

Beitragstitel: Wirtschaftskrisen und Gesundheit: Die Spätfolgen für die Wendekinder in Ostdeutschland

Lara Bister

lara.bister@wzb.eu

Promotion an der Universität Groningen, Fakultät für Raumwissenschaften, Fachbereich Demografie

Bildergalerie

  • Lara Bister hat an der Universität Groningen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die sogenannte Wendegeneration anhand von Gesundheitsdaten untersucht.
    Lara Bister hat an der Universität Groningen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die sogenannte Wendegeneration anhand von Gesundheitsdaten untersucht.
  • Sie führte zwei empirische Studien mit umfangreichen Datensätzen durch. Dazu nutzte sie die KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts, das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und Verwaltungsdaten der Deutschen Rentenversicherung.
    Sie führte zwei empirische Studien mit umfangreichen Datensätzen durch. Dazu nutzte sie die KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts, das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und Verwaltungsdaten der Deutschen Rentenversicherung.
  • In ihrer Forschung konnte Lara Bister nachweisen: Die Krise hatte langfristig negative Folgen für die Gesundheit der Wendekinder, insbesondere für junge ostdeutsche Frauen.
    In ihrer Forschung konnte Lara Bister nachweisen: Die Krise hatte langfristig negative Folgen für die Gesundheit der Wendekinder, insbesondere für junge ostdeutsche Frauen.
  • Lara Bister arbeitet heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Dort forscht sie weiterhin zu Gesundheits- und Familienthemen aus einer Lebensverlaufsperspektive.
    Lara Bister arbeitet heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Dort forscht sie weiterhin zu Gesundheits- und Familienthemen aus einer Lebensverlaufsperspektive.
  • Mit ihrer Forschung zeigt sie, dass gezielte politische Maßnahmen in den Bereichen Bildung und Gesundheit notwendig sind, um den negativen Folgen einer Krise entgegenzuwirken.
    Mit ihrer Forschung zeigt sie, dass gezielte politische Maßnahmen in den Bereichen Bildung und Gesundheit notwendig sind, um den negativen Folgen einer Krise entgegenzuwirken.

Materialien zum Download

Wettbewerbsbeitrag und Pressefoto von Lara Bister

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