2. Preis Sektion Sozialwissenschaften 2021
Anike Krämers Dissertation nimmt erstmals Eltern intergeschlechtlicher Kinder in den Blick.
Die Forschung
Weder Sohn noch Tochter – was nun?
Text: Dorthe March
Fotos: David Ausserhofer
„Wir alle haben genaue Vorstellungen davon, was Männer und Frauen sind und wie sie sich unterscheiden. Dabei spielt der Körper eine zentrale Rolle”, skizziert Anike Krämer den Ausgangspunkt ihrer Arbeit. „Geschlecht – und zwar in der Ausprägung männlich und weiblich – strukturiert unsere Welt”, sagt die Soziologin. Was aber macht es mit Eltern, wenn das eigene Kind außerhalb dieser Zuordnungen zur Welt kommt – es „inter*” ist?
„Geschlecht – und zwar in der Ausprägung männlich und weiblich – strukturiert unsere Welt.“
Studienpreisträgerin Anike Krämer
In einer Gesellschaft, in der Intergeschlechtlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird – Krämer selbst hatte bis zu einem Vortrag im Jahr 2012 noch nichts davon gehört –, erleben Eltern eine Diagnose aus dem Inter*-Spektrum als Zäsur. Von einem Moment auf den anderen müssen sie eine eigene Position und Handlungsstrategien entwickeln. Ihr Wissen darüber, wie das Leben ihres Kindes hätte aussehen können, verwerfen, die Zukunft scheint ungewiss. Gleichzeitig bietet die Auseinandersetzung mit Inter* einige Chancen, zeigt Krämer in ihrer Dissertation.
Die Forschungen zu Themen rund um Intergeschlechtlichkeit konzentrieren sich auf medizinische und psychologische Aspekte des Lebens der intergeschlechtlichen Menschen. „Eine Forschung, die die Eltern intergeschlechtlicher Kinder in den Blick nimmt, gibt es bislang nicht”, sagt Krämer. Das verwundert, sind sie es doch, die über Operationen entscheiden, einen wichtigen Beitrag zur Sozialisation leisten, die Kinder erziehen und so die Weichen stellen für die Sicht des Kindes auf sich und die eigene Intergeschlechtlichkeit. Diese Lücke hat nun Krämer geschlossen und Mütter und Väter interviewt, deren Kinder in den ersten zwei Lebensjahren eine Inter*-Diagnose bekommen haben.
In ihren Gesprächen mit Müttern und Vätern geht Krämer deren Erleben nach und zeigt auf, welche Erfahrungen sie machen, wie sie den ersten Schock überwinden und wie sich eine neue Normalität konstituiert. Ihr Fazit: Nicht der Körper des Kindes wird als problematisch erlebt, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in kollektiver wie persönlicher Unwissenheit bezüglich der Thematik zeigen. Zudem berichten Eltern von fehlender Sensibilität – nicht nur, aber vor allem von Seiten der Medizin –, Grenzüberschreitungen und Ausgrenzungserfahrungen. Was Krämers Forschung besonders wertvoll macht, ist, dass auch Bewältigungsstrategien deutlich werden. In einem nächsten Schritt können so Bedarfe erkannt und politische Konsequenzen gezogen werden.
Die Preisträgerin
Anike Krämer
Anike Krämer holte ihr Abitur auf dem 2. Bildungsweg nach und absolvierte von 2008 bis 2014 ihr Bachelor- und Masterstudium der Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Dort war sie bis 2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin. Heute forscht und lehrt Krämer an der Universität Paderborn und arbeitet als Dozentin bei einem Bildungszentrum in Marl.
Beitragstitel
Inter* als Zäsur und Chance – zum Erleben von Eltern intergeschlechtlicher Kinder
Anike Krämer: anike.kraemer@uni-paderborn.de
Promotion an der Ruhr-Universität Bochum,
Fakultät für Sozialwissenschaft