1. Preis Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften 2021
Seit Beginn der Corona-Krise sehen wir: Seuchen bringen Gesellschaften ins Wanken. Die Literaturwissenschaftlerin Davina Höll hat am Beispiel der Cholera untersucht, welche Bedeutung das literarische Schreiben über pandemische Ausnahmezustände hat und was die Nachwelt daraus lernen kann.
Die Forschung
Was Literatur uns über Seuchen lehrt
Text: Dorthe March
Fotos: Patrick Pollmeier
Wenn Davina Höll über ihre Dissertation spricht, wird es unheimlich – ganz einfach, weil sie Bekanntschaft mit dem „Gespenst der Pandemie” gemacht hat. So lautet auch der Titel ihrer Dissertation, deren These ist: Literatur generiert ein ganz eigenes Wissen über Seuchen. Und dass die Cholera in Texten des 19. Jahrhunderts selten explizit genannt wird, mache sie umso präsenter – aber eben als „vielgestaltiges Gespenst”.
An der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Medizingeschichte, -theorie und -ethik untersucht Hölls Arbeit, wie eng wissenschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Diskurse miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen – und welche Rolle Literatur bei diesen wechselseitigen Austauschprozessen spielt. Dafür hat sie literarische Texte US-amerikanischer, britischer und deutscher Autorinnen und Autoren verglichen und unter anderem gefragt: Was kann Literatur angesichts existenziell bedrohlicher Seuchenerfahrung bewirken? Wie kann Literatur Wissen über Seuchen sichtbar machen – und kann sie selbst Wissen erschaffen? Und schließlich: Kann Literatur auch unseren Umgang mit Seuchen beeinflussen?
Ein Cholera- „Decameron“?
Für die Menschen des 19. Jahrhunderts war die Cholera „eine neue, eine schlimmere Pest”, zitiert Höll den Kulturwissenschaftler Olaf Briese. Hochinfektiös, rapide fortschreitend und bei Nichtbehandlung mit einer hohen Letalitätsrate, führte sie bei allen Infizierten innerhalb kürzester Zeit auf äußerst abstoßende Weise zum Tod.
Vom Anfang bis zum Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich die Cholera in fünf großen Pandemiewellen über Europa und die ganze Welt aus. Sie kannte keine Ländergrenzen und unterschied keine Gesellschaftsschichten. Sie war ein Großstadtphänomen, bewegte sich bevorzugt entlang der großen Reise- und Handelsrouten und trat oft im Gefolge von Kriegen und Revolutionen auf.
Die Cholera wurde zur wissenschaftlichen Triebkraft und zur politischen wie gesellschaftlichen Zerreißprobe, schreibt Höll. Als traumatisches Erlebnis ganzer Generationen fand sie Niederschlag in einer großen Anzahl lebensweltlicher Dokumente, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, autobiografischer Zeugnisse sowie politischer, religiöser, (laien-)wissenschaftlicher und journalistischer Schriftstücke. „Doch der Einblick in die zeitgenössische Lebenswelt, den diese historischen Quellen und ihre umfangreiche historiografische Aufarbeitung gewähren, ist ambivalent”, urteilt die Literaturwissenschaftlerin. Er verweise auf die Notwendigkeit, erlebtes Geschehen sprachlich zu vermitteln, und zeige die Grenzen dieser Vermittlungsversuche auf. Andere große Seuchenerfahrungen erschufen literarische Werke, die die Jahrhunderte überdauerten und noch heute von Weltrang sind wie das „Decameron” (1470) Giovanni Boccaccios. Die Cholera aber schien die Literatur zum Schweigen gebracht zu haben.
„Ich konnte vorführen, wie die Cholera, die selbst viele Gespenster geschaffen hatte und durch vielfältige Attribute des Gespenstischen gekennzeichnet war, auch vor allem durch das Beschreibungsinventar des Gespenstischen Eingang in die Literatur gefunden hat.“
Studienpreisträgerin Davina Höll
Die Seuche wurde zum Sprechen gebracht
Heute ist kaum ein bedeutendes literarisches Werk über die Cholera bekannt, sagt Höll. Mit ihrer Analyse von literarischen Texten so unterschiedlicher Autoren wie Heinrich Heine, Edgar Allan Poe, George Eliot, Ricarda Huch und Mark Twain kann sie jedoch zeigen, dass die Seuche zum Sprechen gebracht wurde. In ihrer Arbeit führt sie vor, wie Literatur sich produktiv mit Grenzerfahrungen auseinandersetzt. Höll demonstriert am Beispiel der Cholera einen paradoxen Umstand: „Gerade die vermeintlichen Leerstellen, die durch scheinbar Unsagbares geschaffen werden, ermöglichen jene Schreibweisen, durch die das Unsagbare sagbar wird.”
„Davina Hölls Dissertation ermöglicht es uns, aus der Vergangenheit einen reflektierten Blick auf die pandemischen Zeiten der Gegenwart zu werfen.“
Prof. Dr. Claudia Weber
Mitglied der Jury
Ganz zentral hat Höll das Gespenstische aus ihrem Textkanon herausgearbeitet. „Ich konnte vorführen, wie die Cholera, die selbst viele Gespenster geschaffen hatte und durch vielfältige Attribute des Gespenstischen gekennzeichnet war, auch vor allem durch das Beschreibungsinventar des Gespenstischen Eingang in die Literatur gefunden hat”, sagt sie.
Hölls Ableitung lautet: Gespenster erscheinen oft dort, wo Unsagbares sagbar gemacht werden soll, wo sich Unabgeschlossenes und Unbewältigtes Bahn bricht, wo im Bild des Gespenstes, das auch immer ein Abbild des Todes ist, andere existenzielle Bedrohungen wie Krieg, Armut, Hunger oder Naturkatastrophen zur Darstellung gebracht werden.
Für die Inklusion in ein Modell des Gespenstes war die Cholera also prädestiniert. Sie kam scheinbar aus der Fremde, war unheimlich, nicht greifbar, nicht erklärbar und zeichnete sich durch die Auflösung jeglicher Form aus. Selbst die an Cholera Erkrankten erschienen, noch lebend, schon tot, gefangen zwischen dem Dies- und Jenseits – wie Gespenster.
Spezifisches historisches Wissen der Literatur
Während Höll innerhalb der Literaturwissenschaft sowohl bekannte Texte neu gelesen als auch bislang weitestgehend unbekannte Texte in den literaturwissenschaftlichen Fokus gerückt hat, konnte sie für die Medizingeschichte das spezifische historische Wissen der Literatur sichtbar machen. Hölls Arbeit plädiert dafür, dass ein Bild von gelebter historischer Seuchenerfahrung hilft, auch aktuelle und zukünftige pandemische Bedrohungen besser zu verstehen und einzuordnen.
Als „Ironie des Schicksals” bezeichnet die Preisträgerin den Umstand, dass die Corona-Pandemie in dem Moment ausbrach, als ihre Dissertation so gut wie abgeschlossen war. „Als ich die Arbeit begonnen habe, war nicht abzusehen, unter welchen Umständen ich sie beenden würde. Das Gespenst der Pandemie hat Eingang auch in meine Lebenswelt erhalten, das Thema meiner Dissertation mich regelrecht ‚heimgesucht’.”
Die Preisträgerin
Davina Höll
Davina Höll studierte Dolmetschen und Übersetzen für Englisch und Spanisch mit dem Ergänzungsfach Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Europäische und Deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg. Von 2017 bis 2019 promovierte sie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Life Sciences – Life Writing. Seit 2020 ist Höll Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Beitragstitel:
Das Gespenst der Pandemie: Über die Bedeutung von Literatur in Zeiten von Seuchen
Davina Höll: davina.hoell@uni-tuebingen.de
Promotion an der Johannes Gutenberg Universität Mainz,
Fachbereich Philosophie und Philologie