1. Preis Sektion Sozialwissenschaften 2021

In Deutschland übernehmen in mindestens 160.000 Haushalten „Live-ins” – 24-Stunden-Pflegekräfte, meist aus Osteuropa – die Betreuung von Pflegebedürftigen. Die Sozialwissenschaftlerin Verena Rossow hat nun erstmals die Perspektive der Angehörigen in diesem System analysiert.

Verena Rossows Forschung im Portrait

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Deutscher Studienpreis 2021: Der Preis der 24-Stunde-Pflege

Die Forschung

Der Preis der 24-Stunden-Pflege

Text: Dorthe March
Fotos: Patrick Pollmeier

Das deutsche Pflegesystem steht nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie auf dem Prüfstand. Einen besonders wirklichkeitsnahen Beitrag zur Diskussion leistet Verena Rossows Dissertation, die die Ausgestaltung von Live-in-Arbeitsverhältnissen in Privathaushalten untersucht. Für ihre Promotion an der Universität Duisburg-Essen hat die Sozialwissenschaftlerin mithilfe von Interviews ergründet, was solche sehr persönlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse für sorgende Angehörige bedeuten. Sie beleuchtet, welche Handlungsmotive und Wissensmuster diese Gruppe anleiten, welche Beziehungen zwischen Pflegebedürftigen, Angehörigen und zumeist osteuropäischen Pflegekräften entstehen und welche Rolle wohlfahrtsstaatliche Transformation dabei spielt.

Angehörige sind Quasi-Arbeitgeberinnen und -Arbeitgeber

„Die häusliche Pflege alter und hochbetagter Menschen bildet einen gegenwärtig besonders umstrittenen gesellschaftlichen Bereich“, sagt Rossow, die sich schon länger wissenschaftlich mit den Arbeitsbedingungen von Live-ins in Privathaushalten beschäftigt. „Diese zumeist weiblichen ausländischen Arbeitskräfte kommen für einige Wochen oder Monate nach Deutschland, ziehen in den Haushalt einer mindestens betreuungsbedürftigen Person ein und übernehmen fortan die alltägliche Sorge um Ernährung, Ordnung, Körperpflege, Gesellschaft – oder Aufsicht“, erläutert sie. Die „Polinnen“ kümmern sich – und kompensieren die verloren gegangenen Fähigkeiten der Alten.

Angeleitet und eingewiesen werden sie von den nahen Angehörigen der Betroffenen: Ehepartnerinnen und -partner oder Kinder. Diese sind es nämlich, die eine Live-in organisieren und deren Einarbeitung begleiten und während des gesamten Arbeitseinsatzes als Hauptverantwortliche involviert bleiben. Damit gestalten die Angehörigen wesentliche Bedingungen der Arbeitsverhältnisse aus und sind in den meisten Fällen juristische Vertragspartnerinnen und -partner der Pflegekräfte selbst oder von Agenturen. Rossow: „In dieser Funktion rücken sie in meinen Forschungsfokus: Sie werden zu Quasi-Arbeitgeberinnen und -Arbeitgebern.“

„Die häusliche Pflege alter und hochbetagter Menschen bildet einen gegenwärtig besonders umstrittenen gesellschaftlichen Bereich.“

Studienpreisträgerin Verena Rossow

Ringen um Autonomie

Bisher hatte die Forschung in der Regel die Sichtweise und Erfahrungen der Arbeiterinnen selbst oder aber die strukturellen Bedingungen von informeller Arbeit in den Blick genommen: zeitlich und inhaltlich unbegrenzt auszufüllende Arbeitseinsätze, die sich am deutschen und europäischen Arbeitsrecht stoßen, aber die Herausbildung dieses sehr großen prekären grauen Arbeitsmarktes nicht verhindert haben.

Tatjana König

„Verena Rossow liefert eine pointierte Analyse, eine unausweichliche Hinführung zu ihrer Empfehlung, dass sich unser Pflegesystem ändern muss.“

Tatjana König

Mitglied der Jury

Rossows Hauptergebnis: Auch sorgende Angehörige ringen um ihre Autonomie, indem sie die Selbstständigkeit ihrer pflegebedürftigen Eltern, Partnerinnen oder Partner mit Live-ins erhalten wollen. Dabei sticht der Charme der Einfachheit auf dem ansonsten komplizierten Pflegemarkt besonders deutlich heraus, sagt Rossow. Einen Einblick erhalten Außenstehende, wenn ein Interviewpartner von seiner Erfahrung berichtet: „Wir haben jetzt eine Polin ausgesucht an dem Anforderungsspiegel mit mittleren Deutschkenntnissen. Es gab dann ‚gar kein Deutsch, ‚mittleres’, ‚gutes Deutsch’, ‚sehr gutes Deutsch’. Macht aber immer direkt einen preislichen Unterschied von 200 Euro aus. Also, wenn sie gar kein Deutsch kann: 1500. Wir haben jetzt die 1700er-Kategorie genommen.“

Allen sorgenden Angehörigen ist es Rossow zufolge in den meisten Fällen ein normatives Anliegen, sich vom „Schwarzmarkt“ zu distanzieren. In diesem Zusammenhang sei es ihnen ebenfalls wichtig, eine klare Strategie für den Umgang mit dem Ausbeutungsvorwurf zu haben. Sie macht allerdings verschiedene Interaktionstypen unter den Angehörigen aus, die sie unter den Überschriften „Erziehen“, „einen Gast willkommen heißen“, „Quasi-Feudalität“, „Dankbarkeit“, „Unternehmerisches Anlernen“ und „Nutzung einer Dienstleistung“ näher beschreibt.

  • Foto: iStock
  • Foto: Patrick Pollmeier

Live-ins als Kompensationsversprechen

Aus ihrer Untersuchung schließt sie: „Pflege soll primär zuhause stattfinden, das ist politisch und kulturell so gewollt. Privathaushalte werden somit Arbeitsorte, auch für Live-in-Arbeitsverhältnisse.“ Kritisch sieht sie, dass diese allein durch die privaten Regelwerke von Familien ausgestaltet werden, die sich aus dem Pflege-Wohlfahrtsmarkt heraus Arbeitskräfte eingekauft haben. Deren Quasi-Arbeitgeber-Dasein ist eng verwoben mit den Vermittlungsunternehmen und deren Serviceangeboten. „Bestandteil der Angebote ist auch, die unerwünschte Rolle, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu werden, gar nicht erst annehmen zu müssen, weil die Position der mit Reklamationsrechten ausgestatteten Kundinnen und Kunden frei ist“, fasst Rossow zusammen. Gemäß dem Autonomieverlust der Pflegebedürftigen werden die Live-ins als Kompensationsversprechen auf dem Markt eingekauft: Es gilt all das zu leisten, was die Betroffenen selbst zu tun nicht mehr imstande sind.

Keine Antwort gibt es Rossow zufolge bisher auf die Frage, wo die Grenzen eines solchen Kompensationsauftrages sind. „Diese Problematik erfordert dringend eine offene gesellschaftliche Diskussion und nicht zuletzt auch eine Regulierung durch den Gesetzgeber“, fordert die Sozialwissenschaftlerin. Denn eines habe ihre Arbeit gezeigt: Allein auf positive Effekte individueller Arbeitsorganisation zu setzen, bedeutet nicht nur eine strukturelle Unterwanderung andernorts erkämpfter Arbeitsrechte, sondern auch, geltende Standards zugunsten von privater Willkür aufzuweichen und Arbeitsregulierung zu privatisieren.

Die Preisträgerin

Verena Rossow

Verena Rossow war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpolitik an der Universität Duisburg-Essen und arbeitet derzeit am Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2013 bis 2020 promovierte die Diplom-Geografin an der Universität Duisburg-Essen. Ihr Promotionsthema hat sie ergänzt durch die Forschung in einem gemeinsamen Projekt zur Europäisierung der pflegerischen Versorgung an den Universitäten Duisburg-Essen und Warschau (Polen).

Beitragstitel:
„Guten Tag, ich möchte gerne unsere Polin reklamieren“ – Über die Ausgestaltung von Live-in-Arbeitsverhältnissen in Privathaushalten

Kontakt zu Verena Rossow: verena.rossow@isoe.de

Promotion an der Universität Duisburg-Essen,
Fakultät für Bildungswissenschaften

Interview mit Verena Rossow

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Deutscher Studienpreis 2021: Verena Rossow

Bildergalerie

  • Verena Rossow hat an der Universität Duisburg-Essen abgeschlossen
    Verena Rossow hat an der Universität Duisburg-Essen abgeschlossen
  • Das Herzstück ihrer Arbeit sind die Interviews, die sie mit Angehörigen von betreuungsbedürftigen Personen geführt hat
    Das Herzstück ihrer Arbeit sind die Interviews, die sie mit Angehörigen von betreuungsbedürftigen Personen geführt hat
  • Für ihre Forschung hat Verena Rossow mit 14 Personen gesprochen, die Live-ins engagiert haben
    Für ihre Forschung hat Verena Rossow mit 14 Personen gesprochen, die Live-ins engagiert haben
  • Inzwischen ist Verena Rossow am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt tätig
    Inzwischen ist Verena Rossow am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt tätig

Materialien zum Download

Wettbewerbsbeitrag
Erfahren Sie mehr über Verena Rossows Forschung in ihrem Beitrag für den Deutschen Studienpreis
Deutscher Studienpreis 2021
Mehr Infos zu allen Preisträger:innen 2021 finden Sie in unserer Broschüre.

Pressefoto

Weitere Preisträger:innen aus der Sektion Sozialwissenschaften