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Gegen den Vertrauensverlust

Das Gravitationszentrum Europas verschiebt sich mit dem Krieg nach Osten. Doch dort ist der Ruf Deutschlands nicht gut und auch Berlins Verhältnis zu Frankreich kränkelt.

Ein ZEIT ONLINE Gastbeitrag von Nora Müller (Leiterin Bereich Internationale Politik und Hauptstadtbüro) und Alisa Vogt (Programmleiterin Körber Netzwerk Außenpolitik, Munich Young Leaders)

Deutschland muss wieder stärker nach Westen und nach Osten integrieren, fordern unsere Gastautorinnen Nora Müller und Alisa Vogt, beide zuständig für Fragen der internationalen Politik bei der Körber-Stiftung: Das Verhältnis zu den Nachbarn Frankreich und Polen sei gerade nicht das beste.

Wie wird Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Europa verändern? Auch wenn ein Ende des Krieges noch nicht absehbar ist, tritt rund zehn Monate nach dessen Beginn ein zentraler Trend deutlich zutage: Das europäische Gravitationszentrum ist dabei, sich vom Kern um Frankreich, Benelux und Deutschland im Westen der EU ostwärts zu verlagern. Angesichts der russischen Aggression sehen sich die osteuropäischen und baltischen Staaten, deren Warnungen vor Russlands neoimperialen Gelüsten die Westeuropäer allzu oft mit abweisender Arroganz abtaten, auf der richtigen Seite der Geschichte.

Als Frontstaaten und first responders spielen sie im Krieg gegen die Ukraine eine herausgehobene Rolle – strategisch, mit Blick auf die militärische und finanzielle Unterstützung Kiews, im Hinblick auf die Aufnahme Geflüchteter. Durch die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato verschieben sich auch die sicherheitspolitischen Gewichte in Europa Richtung Ostseeraum. Und mit der Entscheidung, der Ukraine und Moldau den EU-Kandidatenstatus zuzuerkennen, hat der Europäische Rat die Initialzündung für die zweite große Osterweiterung der EU gegeben – ein Projekt, das die Union für die nächsten Jahrzehnte beschäftigen und nachhaltig verändern dürfte.


In Polen werden gezielt Ressentiments geschürt

Allein geografisch wird eine EU mit der Ukraine als Mitgliedsstaat, mit über 600.000 Quadratkilometern Staatsgebiet das zweitgrößte europäische Flächenland nach Russland, deutlich nach Osten rücken. Die Auswirkungen lassen sich aus heutiger Sicht kaum ermessen.

Was aber bedeutet die Verlagerung des europäischen Gravitationszentrums für Deutschland, das europäische Schwergewicht? In seiner Prager Rede hat Bundeskanzler Scholz das Ambitionsniveau vorgegeben: „Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn. Deutschland als Land in der Mitte des Kontinents wird alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen.“ So weit, so überzeugend. Doch die politische Realität sieht anders aus.

Berlins Verhältnis zu seinen engsten Partnern in Europa, allen voran Frankreich und Polen, ist gestört. Aufgrund der Kontroverse um gemeinsame Rüstungsprojekte und einen europäischen Gaspreisdeckel, aber auch weil man in Paris besorgt ist, die europäische Schwerpunktverschiebung gen Osten könne zulasten Frankreichs und auf Kosten des deutsch-französischen Tandems gehen, sind die deutsch-französischen Beziehungen weiterhin angespannt. Die französische Journalistin Sylvie Kauffmann konstatiert schon jetzt: „Das […] Tandem ist nicht mehr zeitgemäß, jedenfalls wenn es um die Ukraine und Russland geht.“ Erschwerend kommt hinzu, dass Präsident Macrons innenpolitische Probleme und die Schwäche der französischen Wirtschaft in Berlin die Sorge um die Stabilität des Partners auf der anderen Seite des Rheins wachsen lassen.

Blickt man von Berlin aus nach Osten, liegen die Dinge nicht minder kompliziert. In Polen, Deutschlands engstem Partner in Osteuropa, bestimmen gezielt geschürte Ressentiments gegen den großen Nachbarn im Westen die politische Debatte, die ihren vorläufigen Höhe- und Kulminationspunkt in der offiziell vorgetragenen Forderung nach Kriegsreparationen finden. Dabei hat Deutschland sich mit seinem Bekenntnis zu einer robusteren Sicherheitspolitik (Stichwort Zeitenwende) und der Abkehr von seiner bisherigen Russland-Politik strategisch eher auf Polen zubewegt, als entfernt.

Interessen wahren, ohne andere zu übergehen

Die Entfremdung zwischen Polen und Deutschland, deren Ursachen vor allem in der polnischen Innenpolitik zu suchen sind, kommt zur Unzeit. Doch sie sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Berlins Reputation in nahezu allen Staaten Osteuropas und des Baltikums gelitten hat. Von Land zu Land wird die Kritik in unterschiedlicher Tonlage und Lautstärke vorgetragen, der Kern ist jedoch stets der gleiche: Deutschland bleibt unter seinen Möglichkeiten, wenn es um die Unterstützung der Ukraine und die Sicherheit der östlichen EU- und Nato-Staaten geht.

Dieser Vertrauensverlust, der auch mit Berlins jahrelanger Weigerung zu tun hat, die Sicherheitsinteressen der Osteuropäer und Balten ernst zu nehmen, ist real. Und er lässt sich nicht über Nacht aus der Welt schaffen.

In einer Zeit, in der sich das Kräfteverhältnis in Europa neu ordnet, muss es Deutschland gelingen, seiner traditionellen Rolle als integrative Kraft nach Osten und nach Westen, als glaubwürdige Macht in der Mitte im Münklerschen Sinn wieder gerecht zu werden. Dass dies nicht ohne eine erkennbare Verbesserung der Beziehungen zu Paris und zu Warschau möglich ist, liegt auf der Hand. Signale der Entspannung im deutsch-französischen Verhältnis weisen in die richtige Richtung. Deutschland sollte sich wieder auf das besinnen, was einmal den Kern seiner europapolitischen Stärke ausgemacht hat: eine kluge Interessenpolitik, die es versteht, Deutschlands Interessen zu wahren, ohne über die Bedürfnisse der europäischen Partner hinwegzugehen.

Dazu gehören auch Verlässlichkeit und das Einhalten von Versprechen, etwa der Zusage, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ab sofort jedes Jahr zu erreichen. Das Bemühen um ein besseres Verständnis für die Debatten in den Partnerländern. Und schließlich mehr Sensibilität für die Asymmetrie, die das Verhältnis zwischen Berlin und den meisten seiner europäischen Partner kennzeichnet. Oder anders gesagt: dafür, dass die anderen Europäer oft stärker nach Berlin schauen, als es umgekehrt der Fall ist.