Russland - Großmacht mit historisch gewachsenem Sonderstatus?

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

  • Europa
  • Geschichte
  • Internationale Verständigung
  • 33 Min.
  • 25. Episode

Vergangenheit und Gegenwart deutsch-russischer Beziehungen

Die Beziehungen Deutschlands zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind bis heute geprägt von der Erinnerung an den deutschen Vernichtungskrieg im Osten, der mit dem Überfall der Wehrmacht im Juni 1941 begann. Wie prägt das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in der Politik und Gesellschaft Russlands heute? Was bedeutet der Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren heute für den Status Russlands als Großmacht und für Russlands Verhalten gegenüber anderen Ländern des postsowjetischen Raums? Und welche Begriffe und ihre unterschiedlichen Interpretationen spielen für die deutsch-russische Verständigung wirklich eine Rolle? Darüber spricht der Autor und Politikwissenschaftler Jens Siegert in der aktuellen Folge des History & Politics Podcasts.

Hallo und herzlich Willkommen zu einer neuen Folge von History and Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Auch heute sprechen wir wieder mit einem Gast darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt und beeinflusst.

In dieser Folge geht es um Russland und die deutsch-russischen Beziehungen. Genauer gesagt, geht es um Gedenken und Erinnerung an den deutsch-sowjetischen Krieg, um Geschichtspolitik und den Phantomschmerz, der in Russland bis heute mit dem Ende der Sowjetunion verbunden ist.

Welche Rolle spielt das Gedenken an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren in der russischen Politik und Gesellschaft? Woraus leitet Russland sein Recht darauf ab, eine Großmacht zu sein? Und welche Begriffe und deren Interpretation in Russland sollte man in Deutschland eigentlich kennen, um politisches Handeln und gesellschaftliche Realitäten zwischen St. Petersburg, Moskau und Wladiwostok besser einordnen zu können?

Darüber habe ich mit dem Journalisten und Politikwissenschaftler Jens Siegert gesprochen. Er lebt seit 1993 in Moskau, hat lange Jahre das dortige Büro der Heinrich-Böll-Stiftung geleitet und arbeitet seit 2015 freiberuflich von Moskau aus als Autor, Projektmanager und Berater im Bereich der deutsch-russischen und der russisch-europäischen Verständigung. Im Juli 2021 erscheint sein neues Buch „Im Prinzip Russland“ in der edition Körber.

Gabriele Woidelko: Um Russland und das deutsch-russische Verhältnis soll es in diesem Podcast gehen. Russland ist ja immer ein großes Thema und es gibt immer viele Anlässe über Russland zu sprechen. Jetzt haben wir aber einen ganz konkreten Anlass, nämlich den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 2021. Deshalb meine erste Frage: Welche Bedeutung hat dieses historische Ereignis aus deiner Sicht heute noch für das Verhältnis von Deutschland zu Russland aber auch von Deutschland zu den anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion?

Jens Siegert: Ich glaube, das hat immer noch eine herausragende Bedeutung, vor allem hier in Russland. Für die anderen Länder kann ich das nicht so genau sagen. Hier in Russland wird der Tag aber teilweise auch vom Tag des Sieges, dem 9. Mai, überdeckt. Das heißt, am 22. Juni finden hier keine Feiern statt, maximal Gedenkveranstaltungen oder politische Erklärungen. Es ist also nichts, was im Volk oder auch in der politischen Klasse in besonderer Weise begangen wird. Aber natürlich ist das der Anfang dessen, was dann am 9. Mai mit dem Sieg der Sowjetunion geendet hat, und was viele dutzend Millionen Tote auf sowjetischer, auf russischer, aber eben auch auf ukrainischer und belarussischer Seite gekostet hat. Und die Erinnerung daran ist hier in Russland, glaube ich, noch viel lebendiger als sie das in Deutschland ist.

Du hast eben schon auf die Bedeutung, die dieser Jahrestag im politischen Kontext hat, angespielt. Ich würde da gerne noch mal nachfragen: An diesem Jahrestag des deutschen Überfalls hängt ja noch etwas anderes, nämlich der Hitler-Stalin-Pakt, der an diesem Gedenktag oder an diesem 22. Juni 1941, als eben das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion überfiel, für beendet erklärt wurde. Und nun hat Präsident Putin in den vergangenen Monaten immer mal wieder eigene, ich nenne es mal „Interpretationen“ des Hitler-Stalin-Pakts vorgebracht. Wie schätzt du das ein?

Ja, er [der Hitler-Stalin-Pakt] hat eine gewisse Relevanz und ich würde ihn sogar stärker betonen, als du das jetzt eben gerade getan hast. Der Hitler-Stalin-Pakt wird hier inzwischen (das hat sich schon lange angekündigt) von Putin und eigentlich von fast allen, die sich positiv auf die gegenwärtige politische Herrschaft beziehen, als eine reine Notwehr dargestellt. Das heißt, es wird versucht, möglichst von dem Hitler-Stalin-Pakt abzulenken, oder wenn das eben nicht möglich ist, zu sagen: „Wir haben uns mit den Deutschen nur taktisch zusammengetan. Die Polen haben das auch gemacht.“ Und dann wird noch das Münchner Abkommen von Großbritannien und Frankreich angefügt. Der Hitler-Stalin-Pakt wird in diesen Zusammenhang eingeordnet, so dass keine Schuld bei Russland bleibt.

Also Schuld von sich zu weisen und gleichzeitig anderen die Schuld zuzuweisen, ist das die Politik, was den Hitler-Stalin-Pakt und dessen Interpretation heute betrifft?

Ja, wobei es beim Hitler-Stalin-Pakt nicht so sehr um die mittel- und osteuropäischen Länder geht, die ähnliche Schuld haben, als um die Westalliierten, insbesondere natürlich Großbritannien und Frankreich, aber auch Polen. Es wird sich immer ein Beispiel genommen: Polen hat 1938 ein kleines Stück der Tschechoslowakei annektiert und wenn es um polnische Kritik am Hitler-Stalin-Pakt geht, dann wird immer gesagt: „Aber ihr habt das noch vor uns gemacht.“ Es geht um eine Entschuldigung und diese Entschuldigung basiert auf zwei Argumenten. Das eine Argument ist: „Die anderen haben das auch gemacht und sie haben es sogar vorher gemacht. Das heißt, wir sind gar nicht so besonders oder besonders böse gewesen, sondern wir haben nur das gemacht, was alle anderen auch gemacht haben.“ Und das zweite Argument ist: „Wir sind angegriffen worden. Wir waren in Gefahr und haben uns nur verteidigt.“ Diese beiden Argumentationslinien sind immer dominant dabei.

Lass uns auf die deutsche Perspektive zurückkommen. Wir wollen ja in diesem Podcast über das deutsch-russische Verhältnis in Geschichte und Gegenwart sprechen. Wie nimmst du die deutsche Diskussion über diesen Überfall, über diesen Kriegsausbruch, diesen deutschen Überfall auf die Sowjetunion wahr? Hast du das Gefühl, dass wir da in Deutschland noch das eine oder andere nachzuarbeiten und aufzuarbeiten bzw. aufzuholen haben, wenn es um die Erinnerungskultur jetzt speziell an diesem deutsch-sowjetischen Krieg geht?

Es gibt eine Tendenz, sowohl in Deutschland als auch in Russland, Russland mit der Sowjetunion gleichzusetzen. Und das ist ja auch nicht ganz falsch. Die Sowjetunion war ein russisch dominierter Staat. Also selbst wenn statistisch gesehen ethnische Russen etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht haben, war es ein Staat der von aus Moskau regiert wurde, der in einer imperialen russischen Tradition existiert hat und Russland empfindet sich heute noch als Rechtsnachfolger, aber auch ansonsten als Nachfolger der Sowjetunion. Es empfindet das so und fordert das auch ein. Auf der anderen Seite ist es aber eben so, dass es diese anderen Staaten gibt, ob nun die Ukraine oder Weißrussland, Moldawien oder Georgien, die alle Teil der Sowjetunion waren. Und wenn man schaut, wem gegenüber Deutschland Verantwortung hat, dann sind das natürlich alle davon, nicht nur Russland.

Aber das wird in der deutschen Diskussion nicht immer genau auseinandergehalten.

Genau das, finde ich, wird in der deutschen Diskussion nicht wirklich deutlich und auf russischer Seite ist es so, dass man das natürlich von offizieller russischer Seite gerne sieht. Das wird sozusagen im gegenseitigen Dialog gefördert und natürlich unter anderem durchaus auch mit moralischem und politischem Druck eingefordert. Insofern ist dieses deutsche Sentiment, Russland als das große Gegenüber zu sehen und die kleineren Nachbarstaaten Russlands heute – „die Kleineren“ gemessen an Russland, denn die Ukraine ist ein großes Land, das flächenmäßig Größte in Europa oder das Zweitgrößte, wenn man Russland mit aufnimmt – etwas geringer zu achten, das ist etwas, das wir versuchen müssen zu überwinden. Das geht nicht mehr, das passt nicht mehr in die Zeit heute.

Diese historischen Argumentationen der besonderen Verantwortung haben ja auch immer mal wieder in jüngster Zeit in der Debatte um Nord Stream 2 eine Rolle gespielt. Es hat von verschiedenen Seite diese Argumente mit der historischen Verantwortung gegeben. Ist das nachvollziehbar, dass diese Argumentation benutzt wird oder sollten wir davon komplett wegkommen an dieser Stelle?

Ich glaube, wir brauchen Sie nicht. Weil das Argument gegen Nord Stream 2 ist ein ganz aktuelles, das hat mit der Annexion der Krim zu tun und mit dem Krieg, der in der Ostukraine stattfindet unter russischer Beteiligung, wahrscheinlich von Russland sogar angestiftet, nach allem was wir wissen. Und das ist für mich das wichtige Argument gegen Nord Stream 2, dass Russland mit Nord Stream 2 versuchen will, die Ukraine zu umgehen. Da soll Druck auf die Ukraine ausgeübt werden und das ist angesichts des Kriegs und der Krim-Annexion politisch nicht akzeptabel für mich. Da brauche ich gar nicht so weit zurückzugehen, um von einer besonderen Verantwortung als Deutsche zu sprechen. Das ist eine allgemein europäische oder vielleicht sogar westlichen Verantwortung, die wir da haben, angesichts des aktuellen Kriegs, der aktuellen Aggression Russlands gegenüber der Ukraine.

Ich würde gerne noch mal zurückkommen auf die Tatsache, dass Russland als Nachfolgerin der Sowjetunion wahrgenommen wird und sich auch selbst so wahrnimmt. Das führt zu der Frage, welche Bedeutung der Zusammenbruch der Sowjetunion eigentlich bis heute hat, einerseits für die aktuelle russische Politik, aber auch für die Art und Weise, wie wir aus Deutschland auf Russland schauen. Wieviel Phantomschmerz gibt es auf der russischen Seite und wie äußert er sich?

Ich fange mal mit Russland an. Also ich würde das nicht mal als Phantomschmerz, sondern als tatsächlichen Schmerz bezeichnen. Um es einzuordnen: Für die EU, für Zentral- und Westeuropa ist sicherlich das große Trauma die etwa 300 Jahre Krieg, die immer wieder gegeneinander geführt worden sind mit der Kulmination im 20. Jahrhundert. Die wesentliche Idee und das wesentliche Streben der EU ist es, dass solche Kriege inzwischen unmöglich sind und sie auch in Zukunft unmöglich bleiben. Für Russland ist das wesentliche Trauma der Zusammenbruch der Sowjetunion. Das ist das, was hier in der Gesellschaft ganz präsent ist. Dieses Trauma ist so groß, dass ich es eine narzisstische Kränkung nennen würde. Dieses Land, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine von zwei Supermächten war, ist sozusagen in einem Augenblick zu dem geworden, was Obama dann, taktisch wahrscheinlich nicht ganz klug, eine Regionalmacht genannt hat. Diese Zurückstufung, dieser Zurückfall wird hier doch sehr, sehr schmerzlich betrachtet. Und ich glaube, dass man vieles aus der russischen Innen-und Außenpolitik, also die Krim-Annexion, der Krieg in der Ukraine, das aggressive Auftreten gegenüber dem Westen, das fast schon phobische Verhältnis zur NATO, etwas damit zu tun hat, dass in den Köpfen vieler Menschen, wahrscheinlich der meisten Menschen hier, Russland so eine Art Recht hat, eine Großmacht zu sein. Dass Putin angetreten ist, diesen Status wieder für Russland zurückzugewinnen, ist etwas, was sehr viel Zustimmung findet. Und als dann 2014 die Krim annektiert worden ist und das hier kommuniziert wurde als „jetzt sind wir wieder da, jetzt sind wir wieder wer, jetzt wissen alle wieder, dass sie mit uns rechnen müssen“, hat sehr viel Zustimmung erzeugt, die sich ja auch in Umfragen ausgedrückt hat. Putins Zustimmung ist auf über 80 Prozent gesprungen. Und das ist, glaube ich, nur erklärlich durch diese große Kränkung, durch diesen großen Schmerz des Endes der Sowjetunion. Dazu kommt, dass alle anderen Länder, die mal Teil der Sowjetunion waren und heute unabhängige Länder sind, die Ukraine, die baltischen Staaten, aber auch Georgien, die Erzählung haben, dass sie unabhängig geworden sind von der Sowjetunion oder sogar, dass sie unabhängig geworden sind von Russland. Die Sowjetunion war Russland in einer ganz besonderen und ganz spezifischen Form. Aber sie war auch von ihrer Ausdehnung her, von ihrem Herrschaftsgebiet her, in vielen Dingen eine Fortsetzung des russischen Imperiums.

Wenn du über die narzisstische Kränkung sprichst, dann ist es ja die eine Seite, die diese Kränkung empfindet, die hast du ja gerade beschrieben. Mit einem Blick auf Deutschland ist dies ja vielleicht auch gar nicht so unberechtigt, oder? Dieses Gefühl der Kränkung ist da und vielleicht gibt es ja auch Gründe dafür. Deshalb würde ich die nächste Frage gerne mal umdrehen und wissen wollen, was wir denn aus deutscher Sicht anders hätten machen können, was wir anders bewerten müssten, um vielleicht diese Kränkung auch noch ein bisschen besser zu verstehen?

Verstehen kann man sie, glaube ich. Ich verstehe sie und gleichzeitig halte ich sie für nicht … nicht gerechtfertigt. Aber das ist das Problem mit Kränkungen. Kränkungen sind etwas zutiefst Subjektives. Es gibt eigentlich wenig mehr Subjektives als Kränkungen. Insofern ist es nicht wichtig, ob es einen Anlass gibt. Wichtig ist, dass es eine Empfindung gibt. Also wir haben auf der einen Seite etwas, was aus meiner Sicht richtig ist, nämlich einen Entkolonialisierungsprozess. Die Länder, die viele Jahre lang, viele Jahrhunderte lang teilweise Teil des russischen Imperiums gewesen sind, eines russischen Kolonialreiches, sind nun unabhängig und in Russland wird das als Verlust empfunden.

Wir sprechen ja über den Zusammenbruch der Sowjetunion und wie der bis heute fortwirkt. Aus meiner Sicht sind es in der deutschen und auch in der westlichen Diskussion die 90er Jahre, also das, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, wo wir an manchen Stellen vielleicht nicht genau genug hingeguckt haben. Was haben diese 90er Jahre für Russland und für viele andere Länder, aber jetzt bleiben wir mal bei Russland, eigentlich bedeutet? Welche Transformationsleistung musste da von der Gesellschaft erbracht werden und um welchen Preis? Haben wir da vielleicht noch was nachzuarbeiten?

Na, das finde ich ja richtig, das zu verstehen, warum Leute so handeln. Das heißt also, zu verstehen zum Beispiel, warum Menschen hier für Putin sind. Ja, weil er für sie diesen „Heilungsprozess“ angestoßen hat und, weil er eine wirtschaftliche Erholung nach dem sehr, sehr tiefen Fall der 90er Jahre steht. Ich habe in den 90er Jahren hier in Russland gelebt und ich kann dir sagen, vieles was heute da gesagt wird, wie schrecklich diese 90er Jahre gewesen sind und wie schlecht es den Menschen gegangen ist nur ein Teilaspekt. Ja, es gab einen tiefen Fall, es gab eine große Zäsur, alle Menschen mussten ihr Leben umstellen, weil sich das politische System völlig geändert hat, in dem sie gelebt haben. Das ist eine Veränderung gewesen, die auf friedliche Weise und in der Zustimmung der allermeisten Menschen geschehen ist. Das heißt, das Ende der Sowjetunion haben auch in Russland in den 90er Jahren die meisten Menschen für gut gehalten. Die Frage ist, was sie dafür bekommen haben. Sie haben dafür sehr viel Freiheit bekommen, aber auch einen Staat, der knapp vor dem weiteren Zerfall war. Und insgesamt, wenn ich das gesamte Paket anschaue, dann war das Angebot an Russland damals, 1991: „Ihr könnt Teil unserer westlichen Gemeinschaft von Demokratien werden, wenn ihr das wollt“. Man hat an unheimlich vielen Punkten weggeguckt. Wenn ich mir zum Beispiel 1996 anschaue, als Russland Teil des Europarats geworden ist und ich mir die harten Kriterien anschaue, die eigentlich dafür da waren, dann hätte Russland niemals Teil des Europarats werden können, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

Und heute wird dieser Vertrauensvorschuss von vielen Menschen hier in Russland und insbesondere vom Kreml in Russland als Überheblichkeit, als Versuche, Russland klein zu halten, dargestellt. Hinter dieser Einschätzung steht immer diese Ansicht, dass Russland das Recht hätte, eine Großmacht zu sein. Und dass all die anderen Länder in Europa – inklusive übrigens Deutschland, inklusive der EU, eigentlich sogar nur mit Ausnahme der USA – sich dem zu fügen haben, diesem besonderen Status Russlands, den es sich wie auch immer historisch erworben hat, weil es eben so groß geworden ist, weil das russische Volk in seiner Argumentation so widerstandsfähig ist, dass es sich dieses große Reichzusammengesucht hat. Und dann sind wir wieder bei dieser Frage nach dem Imperium, wieder bei der Frage nach dem Kolonialreich, wieder bei der Frage nach den Rechten für große gegenüber kleinen Ländern und wir sind bei der Frage, ob das heute noch zeitgemäß ist. In Europa und innerhalb der EU sind fast alle anderen Länder zu dem Ergebnis gekommen: keine. Und deswegen gibt es diese Konfrontation heute.

Wir haben jetzt schon sehr viel über Verständigung oder Versuche der Verständigung und des Verstehens gesprochen. Jens, du hast gerade ein aktuelles Buch vorgelegt, wo du versucht, Russland in Begriffen zu erklären. Gibt es für dich einen Begriff, bei dem du sagst, an diesem Begriff kann man am deutlichsten sehen, woran es eigentlich hapert oder warum man diesen Begriff noch mal ganz genau anschauen muss, wenn man als Deutsche/r ein besseres Verständnis für Russland entwickeln möchte?

Die Idee des Buchs mit den 22 Begriffen ist es, dieses Thema „Russland zu verstehen“ oder „Russland zu begreifen“ von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus und von ganz unterschiedlichen Sichtpunkten aus anzugehen, um dann sozusagen eine übergreifendere Idee davon zu bekommen. Ausgehend von den Dingen, über die wir gerade gesprochen haben ist „Obida“ (Kränkung) tatsächlich ein Begriff, der im Russischen sehr viel wichtiger ist, auch in der alltäglichen Kommunikation, als es die Kränkung im Deutschen ist. Ich habe das lange lernen müssen. Damit man meine Gefühle hier in diesem Land ernst nimmt, muss ich gekränkt sein. Man darf nicht einfach sagen: „Das gefällt mir nicht“, das wird nicht richtig ernst genommen. Wenn ich aber zeige, dass ich dadurch gekränkt bin, was da passiert ist, dann werden meine Gefühle ernst genommen. Und so passiert es auch, dass aktiv gekränkt wird, um ernst genommen zu werden. Insofern versuche ich diesen Begriff sehr ausführlich zu diskutieren und beziehe dabei die Geschichten der großen narzisstischen Kränkung und überhaupt der politischen Kränkung mit ein. Diese führt nämlich dazu, dass die politische Führung dieses Land als ein gekränktes Land darstellt und aus dieser Kränkung heraus eigentlich jede Handlung moralisch verteidigt. Wir sind gekränkt worden, also dürfen wir uns wehren. Wir sind gekränkt worden, also dürfen wir erwidern. Die Kränkung ist dann sozusagen gleichzeitig der Ausweis dafür, dass man selbst unschuldig ist, denn sie sind ja gekränkt worden.

Der zweite Begriff ist „Vlast“, das wörtlich übersetzt „Macht“ heißt, das aber noch eine zweite politische Bedeutung hat, die im DDR-Deutsch „Staatsmacht“ genannt worden ist. Weil „Vlast“ im Russischen eben nicht wie „Macht“ im Deutschen für jemanden steht, der mächtig ist, sondern „Vlast“ auch als ein Synonym für den Staat existiert, ist es ein Wort, dass den Staat gleichzeitig anonymisiert und ihn von den Menschen wegrückt. Es heißt dann „die Macht hat entschieden“, oder „die Macht sagt“, das findet man überall in den Zeitungen, wenn der Staat irgendwie handelt. Der handelt immer als eine etwas anonymisierte, subjektivierte Macht, also als ein anonymisiertes Subjekt. Und diesem Staat, diesem „Vlast“, steht dann das „Narod“ ­(Volk) gegenüber, und zwar sehr stark geteilt. Dieses Verhältnis von Volk und Staat zu verstehen ist sehr wichtig, wenn man verstehen will, woher zum Beispiel Putin seine Zustimmung bezieht. Diese Zustimmung ist nämlich, auch das führe ich mit Bezug auf russische Soziologen vom Lewada-Zentrum, die das lange Zeit und sehr gut untersucht haben, aus. Diese Zustimmung ist nämlich im Wesentlichen passiv.

Also die Zustimmungsraten gegenüber Präsident Putin sind eher ein Ausdruck dessen, dass man abstrakt sagt, man sei mit der Macht, mit dem Staat, einverstanden, man fände ihn irgendwie gut, aber es fußt nicht auf einer aktiven Auseinandersetzung mit der Politik, die der Staat und die Regierung machen, verstehe ich das richtig?

Ja, wenn man sich Umfragen anschaut, dann gibt es bis auf ganz wenige Ausnahmen eigentlich in kaum einem Politikfeld eine mehrheitliche Zustimmung für die Politik von Putin, aber es gibt eine Zustimmung für Putin insgesamt. Eine Ausnahme bildet hier die Außenpolitik, aber da unterscheidet sich Russland gar nicht so sehr von anderen Ländern. Außenpolitik spielt für politische Zustimmung, auch in westlichen Demokratien, ganz, ganz selten eine entscheidende Rolle. Die Meinungen und die Ansichten, den der Großteil der Menschen auf der Welt zu außenpolitischen Fragen hat, sind meistens nicht sehr fest. Die Menschen haben sehr feste und sehr klare Meinungen zu dem, was ihr Leben unmittelbar betrifft, aber wenig Meinung dazu, was jenseits der Grenzen stattfindet.

Jens, wir nehmen diesen Podcast in einer Zeit auf, in der das Verhältnis zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn, und zwischen Russland und Deutschland auch, extrem angespannt ist, manche sagen auch, es sei zerrüttet. Es gibt massive innenpolitische Versuche, in Russland die Zivilgesellschaft weiter einzuschränken. Es gibt massive Einschränkungen in der Presse- und Meinungsfreiheit, sicherlich auch noch mal weiter dadurch inspiriert, was in Belarus vor sich gegangen ist und weiter vor sich geht, also die demokratischen Proteste gegen die Präsidentschaftswahl dort. Wie würdest du das deutsch-russische Verhältnis derzeit beschreiben? Wo stehen wir ganz real? Wie können wir das bezeichnen und welche Handlungsoptionen und welche Perspektiven haben wir derzeit eigentlich?

Also das deutsch-russische Verhältnis hat sich, das wird dich vielleicht etwas überraschen jetzt, in den vergangenen Monaten oder vielleicht im vergangenen Jahr normalisiert. Es ist nämlich so geworden, wie das Verhältnis fast aller anderen westlichen Staaten zu Russland.

Also hat sich das deutsch-russische Verhältnis an die schlechten Beziehungen anderer Länder zu Russland angeglichen?

Ja, genau. Und das hat für mich seinen Grund darin, dass die Bundesregierung aufgrund verschiedener Ereignisse endlich dazu gekommen ist, Russland nicht mehr mit Samthandschuhen anzufassen. Das wichtigste Ereignis auf russischer Seite war die Vergiftung Nawalnys und, dass die Bundesregierung gesagt hat, er sei vergiftet worden, es wäre Nowitschok und die Herkunft sei aus Russland und meinte: „Nun klärt das mal auf!“. Bis dahin hat Deutschland tatsächlich so eine Art Sonderrolle in der russischen Außenpolitik in Bezug auf den Westen gespielt. Diese Sonderrolle hatte zwei Gründe, der eine ist die große wirtschaftliche Bedeutung, weil Deutschland einer der wichtigsten russischen Wirtschaftspartner ist. Die EU insgesamt ist der wichtigste russische Wirtschaftspartner und Deutschland darin der größte. Der andere Grund hat etwas damit zu tun, dass eben aufgrund der besonderen historischen Verantwortung, die in Deutschland wahrgenommen wird, es sehr große Kräfte immer gab, die freundlichere Kriterien als die bei anderen Ländern angewendet haben, eben aufgrund dieser Verantwortung. Und von russischer Seite ist das gerne akzeptiert worden. Und das ist nicht mehr der Fall, jedenfalls für die russische Seite nach der Nawalny-Geschichte. Das hat dazu geführt, dass Deutschland jetzt behandelt wird wie andere Länder, die Russland kritisieren, wie Großbritannien zum Beispiel. Die USA ist hier ein Sonderfall, aber Frankreich teilweise und auch kleinere Länder, wie Polen oder die baltischen Staaten sind vergleichbar.

Okay, wenn das so ist, dass wir jetzt alle gleichermaßen in dem Status sind, dass die Beziehungen zu Russland schlecht sind, noch mal die Frage: Welche Perspektiven gibt es denn dann überhaupt? Und wenn es sie auf der großen politischen Ebene derzeit nicht gibt, wo siehst du andere Perspektiven, andere Annäherungsmöglichkeiten? Wer soll denn die oft zitierten Gesprächskanäle offenhalten und wer kann das überhaupt tun?

Die vielzitierten Gesprächskanäle sind offen und von deutscher Seite immer offen gewesen. Man müsste das mal nachprüfen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es keinen anderen Regierungs- oder Staatschef als Putin gibt, mit dem Frau Merkel, in den vergangenen Jahren häufiger telefoniert hat, inklusive der EU. Und auch ansonsten gibt es eine riesige Menge von Kontakten, und da meine ich gar nicht mal über die zivilgesellschaftlichen oder die gesellschaftlichen Kontakte und die wirtschaftlichen Kontakte, die auf vielen, vielen Ebenen laufen.

Die Dialogverweigerung, wenn man das so will, ist in den vergangenen Jahren auf russischer Seite gewesen, und zwar seit der Krim. Ein schönes Beispiel ist ja jetzt der Petersburger Dialog, ein Forum, an dem ich viele Male teilgenommen habe, wo immer die Regel akzeptiert worden ist, die Deutschen bestimmen, wer auf deutscher Seite teilnehmen darf und die Russen bestimmen, wer auf russischer Seite teilnehmen darf. Und wir haben dann zusammen mit unseren russischen Partnern auch immer wieder versucht, unabhängige russische Organisationen, zivilgesellschaftliche Organisationen, zum Beispiel Memorial, mit einzubeziehen. Manchmal hat es geklappt, manchmal hat es nicht geklappt, aber das Prinzip ist nie infrage gestellt worden. Jetzt hat Russland vor zwei Wochen mehrere deutsche Organisationen zu unerwünschten Organisationen erklärt, unter anderem den Deutsch-Russischen Austausch und das Zentrum Liberale Moderne, die beide am Petersburger Dialog teilnehmen. Von denen arbeiten Menschen dort und sind Mitglied in den deutschen Leitungsgremien des Petersburger Dialogs. Für russische Bürger ist eine Zusammenarbeit jetzt verboten. Und nicht nur für russische Bürger ist es das, sondern auch für mich, weil ich jemand bin, der eine Aufenthaltsgenehmigung in Russland hat. Ich bin jemand, der in Russland lebt und damit ist es mir verboten, sowohl hier in Russland, als auch überall auf der Welt mit diesen unerwünschten Organisationen zusammenzuarbeiten. Die Mitarbeiter/innen dieser Organisationen, die aus Russland stammen, und es stammen einige von ihnen aus Russland, müssen aufhören für sie zu arbeiten, ansonsten werden sie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Wer in dieser Form den Dialog dort abbricht, ist für mich ganz eindeutig. Ich glaube deshalb, dass eine Verbesserung nicht möglich ist, ohne dass es zu politischen Änderungen in Russland kommen wird.

Ein ziemlich ungeschminktes Bild, ein wenig optimistisches Bild, was du da zeichnest, auch sehr ehrlich, wie ich finde, aus deiner Perspektive. Zum Schluss noch eine ganz persönliche Frage: Was ist es denn, was dich antreibt? Du könntest ja auch das Handtuch werfen und sagen: „Es wird lange dauern, bis sich was ändert, ich sehe momentan keine Perspektiven.”

Ja, die Menschen hier. Ich denke, solange sie mich nicht rausschmeißen, bleibe ich hier. Weil ich weiterhin glaube, und das klingt ein bisschen banal und wird auch manchmal für eine beschönigende Argumentation benutzt, dass es einen Unterschied zwischen dem Kreml und der Politik im Kreml und dem Land und den Menschen hier gibt, wobei ich damit nicht die Menschen aus der Verantwortung nehmen möchte. Das sage ich ihnen dann auch. Gerade am Wochenende hatten wir eine Runde mit Freundinnen und Freunden, wo es sehr hoch herging. Es ging genau um diese politische Verantwortung, und sie meinten: „Ja, aber was können wir tun“. Ich sagte: „Das ist euer Land.”

Ja, das stimmt, wenngleich der Preis, den die Menschen zahlen, wenn sie sich engagieren, ein anderer ist als der, den Menschen in Deutschland zahlen, wenn sie sich engagieren.

Natürlich! Auch ich bin, glaube ich, immer noch in einer privilegierten Situation. Ich rede hier mit dir jetzt gerade ziemlich unverblümt kritisch in Bezug auf die russische Politik und ich glaube nicht, dass ich mich damit gefährde. Wenn ich das hier in Russland tun würde und auf Russisch, in einem russischen Medium, würde die Situation schon ein bisschen anders aussehen wahrscheinlich. Da müsste ich wahrscheinlich vorsichtiger sein. Aber ich bin eben in der privilegierten Situation, dass ich einen deutschen Pass habe und davon ausgehe, dass mein Staat mich schützt und auch zu schützen versuchen wird, falls es irgendwelche Probleme und Schwierigkeiten geben wird. Das hilft natürlich auch. Es hilft mir, dass Deutschland eben ein demokratisches Land ist.

Artwork: Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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