Claudia Weber: Kriegsausbruch 1939

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

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Der Hitler-Stalin-Pakt und seine Nachwirkung im Kalten Krieg

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 folgte wenige Tage nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts, in dem das Deutsche Reich und die Sowjetunion ihre Kooperation vereinbarten und Osteuropa untereinander aufteilten. Wie wird das Zusammenwirken von Berlin und Moskau heute in Deutschland, Russland und Mittelosteuropa wahrgenommen? Die Osteuropa-Historikern Claudia Weber (Europa-Universität Viadrina) gibt Einblick in ihre aktuelle Forschung.

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Heiner Wember: Geschichte entsteht immer aktuell, aus den momentanen Handlungsoptionen heraus. Doch unser Blick auf Geschichte ist rückwärtsgewandt. Wir neigen dazu, sie vom Ende her zu erklären. Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa bestand in der Eroberung Berlins durch die Rote Armee. Die Hauptkämpfe und verlustreichsten Schlachten wurden zwischen der deutschen Wehrmacht und der sowjetischen Armee ausgefochten. Dies täuscht darüber hinweg, dass Josef Stalin und Adolf Hitler fast zwei Jahre lang enge Bündnispartner waren. Claudia Weber hat zu den Massakern des sowjetischen Gemeindienstes NKWD in Katyn 1940 ein Standardwerk verfasst, in dem die gegenseitigen Verflechtungen der beiden totalitären Systeme in der Besetzungszeit Polens deutlich wurden. Nun hat sie sich der gesamten Weltkriegsphase zwischen Beginn des Krieges und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zugewandt und legt dazu ein neues Buch vor. Titel: „Der Pakt: Hitler, Stalin und die Geschichte einer mörderischen Allianz.“ In den kommenden 20 Minuten wollen wir uns anschauen, wie intensiv die Kooperation der Sowjetunion und des Deutschen Reiches in der ersten Kriegsphase war, und wie beide Länder nach dem Krieg mit diesem Teil ihrer Geschichte umgegangen sind. Und schließlich: welche Spuren des Misstrauens hat diese mörderische Allianz in den Ländern Europas hinterlassen? Sind sie heute noch relevant? Herzlich Willkommen, Claudia Weber. Warum interessieren Sie sich so sehr für die erste Kriegsphase?

Claudia Weber: Warum ich mich für diese erste Kriegsphase so interessiere, hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass meines Erachtens nach wir diese erste Kriegsphase eben nicht als eine deutsch-sowjetische Verflechtungsgeschichte betrachten. Man könnte kontrafaktisch auch fragen: Wäre der Westfeldzug Hitlers möglich gewesen, also die sogenannten Blitzkriege in Westeuropa, wenn es den Hitler-Stalin-Pakt nicht gegeben hätte? Er spielt eine immense Rolle für diese ersten 21 Monate des Krieges. Und diese immense Rolle, glaube ich, haben wir bisher sehr eklatant unterschätzt, indem wir rückblickend betrachten und diese Geschichte auch wieder nur getrennt sehen, Stalin im Osten, Hitler in Polen und eben im Westen. Aber sie waren zusammen.

Sie sprechen von mörderischer Allianz. Waren denn Stalin und Hitler nicht wie Hund und Katze?

Ideologisch ja. Ideologisch waren sie wie Hund und Katze. Und, auch das ist bezeichnend für diese erste Zeit des Zweiten Weltkrieges, an der ideologischen Gegnerschaft wollten sie auch nichts deuteln. Es wird immer wieder betont, sowohl von Hitler als auch von Stalin, vom Auswärtigem Amt in Berlin als auch vom Außenkommissariat in Moskau: Wir haben ideologische Unterschiede. Die ideologischen Systeme werden nicht berührt durch diese Zusammenarbeit. Ungeachtet dieser ideologischen Unterschiede aber arbeiten wir zusammen. Beide Seiten hatten ein ungutes Gefühl zu Beginn. Und wenn man sich die Begründung dann im Juni 1941 anschaut, waren auch beide Seiten heilfroh, aus dem Pakt wieder rauszukommen. Es gab keine Freundschaft. Es gab eine sehr pragmatisch, funktional, nutzorientierte Zusammenarbeit und Kollaboration.

Und eine effektive Zusammenarbeit bei der Unterdrückung in den besetzten Gebieten. Sie beschreiben, dass gerade die Geheimdienste besonders intensiv miteinander arbeiten konnten.

Ja. Die Geheimdienste haben zu meinem Erstaunen wirklich sehr pragmatisch zusammengearbeitet. Es waren Kommandos der SS auf dem sowjetischen Territorium und haben dort zum Beispiel die Umsiedlung der Volksdeutschen organisiert. Es gab Kommandos des NKWD auf dem Territorium der deutschen Besatzungszone, also im Generalgouvernement. Und es gab immer wieder Animositäten, die so aus Alltagsproblemen entstanden, aber in der Übereinkunft, Menschen umzusiedeln, Menschen zu deportieren und auch Menschen umzubringen, in dieser Beziehung gab es keine Probleme.

Sie hatten beide ein Ziel: die polnische Intelligenz auszurotten.

Genau. Ein gemeinsames Ziel war, den polnischen Widerstand zu brechen, sich darüber auch zu informieren, sich auch gegenseitig zu unterstützen bei verschiedenen Aktionen. Das war vor allen Dingen in der Anfangszeit, als es auch noch polnischen Widerstand, militärischen, gegeben hat. Der musste sich dann erst wieder sammeln nach einer gewissen Zeit. Am Anfang gab es den noch. Polnische Elite und vor allen Dingen Deportation. Die Bevölkerung umzusiedeln und auch „Volksfeinde“ oder Feinde der jeweiligen Regime zu verfolgen. Da gab es eine große Übereinkunft.

Es gab viele Flüchtlinge, die hin und her geschickt wurden. Es gab auch Konferenzen, auf denen sie sich absprachen, wie die Unterdrückung, die Tötungsaktionen stattfinden sollten, aber nicht konkret, was man vorhatte?

Ich würde vermuten, dass man sich über die einzelnen Tötungsaktionen gegenseitig nicht in Kenntnis gesetzt hat. Das musste man gar nicht. Beide wussten auch voneinander, dass sie bereitwillig töteten. Dann muss man nicht mehr über die einzelnen Opfer und über die einzelnen Aktionen sprechen, das nicht. Es gab zu meinem Erstaunen ganz pragmatische Arbeitstreffen. Wenn man zusammen umsiedeln will und jeweils Kommandos des anderen auf das eigene Territorium lässt, dann muss man das mal miteinander besprechen. Es war ein Ausdealen dieser Zusammenarbeit. Diese Gespräche haben relativ häufig stattgefunden. Etwas größer war dieses Treffen in Zakopane, wo eine sowjetische Regierungsdelegation das Generalgouvernement besucht hat. Sie wurden dort von Otto Wächter begleitet, sie wurden von Josef Bühler begleitet, sie wurden von Hans Frank in Krakau mit einem Festempfang auch noch empfangen. Diese angebliche deutsch-sowjetische Freundschaft wurde gefeiert. Am nächsten Tag ist diese Regierungsdelegation nach Zakopane gefahren, diesem Winter-Kurort in der hohen Tatra, der auch ein Militärstützpunkt war. Dort gab es im Zweiten Weltkrieg auch eine Ausbildungsstätte der SS und der Sicherheitspolizei. Im Umfeld dieser Ausbildungsstätte, dieser Polizeiakademie, arbeitete dann auch diese Regierungsdelegation.

Es gab eine intensive Zusammenarbeit auch im Bereich der Wirtschaft?

Ja, es wurden Handelsabkommen geschlossen, also Wirtschaftsabkommen, das erste im Februar 1940. Auch nach langwierigen Verhandlungen, das hat eine ganze Weile gedauert. Aber ganz klar sind unzählige Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion in das Deutsche Reich erfolgt, und vor allen Dingen auch Fabrikanlagen, Maschinen von der deutschen Seite in die Sowjetunion. Zum Beispiel hat man die Grenzbahnhöfe auch modernisiert. Dort mussten die Gleise dann so umgebaut werden, dass die Züge jeweils mit dem anderen System weiterfahren konnten. Dort wurden riesige Wirtschaftsanlagen geschaffen, um das Öl aus den sowjetischen Waggons in die deutschen umzuleiten. Teilweise gibt es davon auch Fotos.

Stalin hat bis zum Schluss geliefert?

Ja, Stalin hat bis zum Schluss geliefert und das war ein Punkt seines Kalküls, diesen Angriff, der für ihn unvermeidbar war, ihm war klar, dass dieser Krieg beginnen würde, aber so lange wie möglich raus zu zögern und vor allen Dingen auch der deutschen Propaganda keinen Grund zu liefern, warum dieser Krieg oder der Angriff erfolgen sollte. Er wollte sich da ganz „rein“ halten. Natürlich hat er gleichzeitig auch im Frühjahr 1941, das wissen wir, schon Verhandlungen mit Großbritannien geführt. Das ist auch eine kleine Begebenheit dieser Geschichte, dass am Vorabend des 22. Juni Churchill mit dem US-amerikanischen Botschafter in London auf dem Landsitz sich befindet, in Chequers. Und dort die dann siegreiche Allianz zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion eigentlich schon ausgehandelt ist und eigentlich schon feststeht, bevor die ersten deutschen Bomben fallen auf sowjetisches Gebiet.

Heißt das, dass vielleicht auch irgendwann die Rote Armee das Deutsche Reich angegriffen hätte?

Nein, Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Stalin das Deutsche Reich angegriffen hätte. Das hätte er nicht getan. Warum? Warum sollte er das tun? Aus den zahlreichen Besatzungsregimen der Sowjetunion und der Art und Weise, wie sie von statten gingen und wie sie legitimiert wurden, glaube ich, dass Stalin es immer vermieden hat, als Aggressor aufzutreten oder als Besatzer. Sondern meist hat die Rote Armee sich ja versucht, als Befreier oder dann als Verteidigungsmacht zu inszenieren.

Wie wurde dieses Zusammengehen fast zwei Jahre lang nach dem Krieg in der sowjetischen Propaganda gerechtfertigt?

Bis in die Gegenwart ist das das Narrativ: Der Pakt ist gerechtfertigt, da Stalin und die sowjetische Regierung so den Krieg, der ohnehin unvermeidbar war, rauszögern konnte. Es wird immer mit diesem zeitlichen Argument gearbeitet. Stalin hat Zeit gewonnen, wir wussten natürlich, Hitler war ein Antibolschewist, ein Antikommunist, er würde irgendwann die Sowjetunion überfallen. Und wir haben noch 21 Monate gewonnen. Dieses Argument ist zutreffend. Ja, tatsächlich konnte so Zeit gewonnen werden, und dass Hitler irgendwann die Sowjetunion angreifen würde, war auch nicht aus der Welt. Das ist zutreffend. Meine Kritik an diesem Narrativ ist, dass es eben nicht das einzige Motiv war. Sondern dabei dann immer auch unterschlagen wird, dass es Stalin natürlich darum ging auch, die Gebietsverluste, die man im Ersten Weltkrieg und dann in den Folgekriegen in der Zwischenkriegszeit, also dem Polnisch-Sowjetischem Krieg, diese Gebietsverluste, die man da erlitten hatte, wieder wettzumachen. Und dass es auch ein sehr imperiales Vorgehen von Stalin gab, das wird in diesem Narrativ vergessen, das wird unterschlagen. Aus diesem Grund ist natürlich auch dieses legendäre geheime Zusatzprotokoll, wo beide Seiten die Aufteilung der Gebiete vereinbart haben, in der sowjetischen Historiografie über Jahrzehnte geleugnet worden und dann erst im Zuge der Perestroika von Gorbatschow wieder aufgetaucht.

Auf der anderen Seite, in der deutschen Reflektion dieser Zeit, wie wurde das dort gesehen?

Ich habe ja schon gesagt, dass dieser Pakt für beide Seiten irgendwie unangenehm war. Goebbels äußert sich in seinem Tagebuch, er sagt: Wir sind in Not, und da fressen wir wie der Teufel Fliegen. Wir wollen Polen überfallen, wir brauchen jetzt irgendwie einen Verbündeten, also machen wir diesen Pakt. Aber ihm ist unwohl. Und Alfred Rosenberg sowieso, er kann diesem Pakt überhaupt nichts abgewinnen. Auch ein Diplomat wie Ulrich von Hassell schreibt, dass Deutschland jetzt Mitglied einer Gangsterbande ist. Er vergisst natürlich, dass die deutsche Regierung schon lange eine Gangsterbande ist, nicht nur die Sowjetunion. Man fühlt sich unwohl. Man mag diesen Pakt nicht unbedingt. 1941, im Juni, passiert dasselbe. Wenn man sich die Erklärung Hitlers anschaut, wie er den Überfall begründet oder vielmehr das Ende des Paktes, das macht er gemeinsam mit Goebbels, sie sitzen und schreiben diese Erklärung gemeinsam, kommen Worte vor wie: Wir haben sehr schwer getragen, wir haben 21 Monate eigentlich unter diesem Pakt gelitten. Wir wollten ihn nicht haben. Und jetzt endlich, jetzt haben sie ihn so oft verraten, sie haben so viel Grenzprovokation gemacht, jetzt sehen wir uns gezwungen, jetzt müssen wir den Bolschewismus besiegen. Es gab immer so ein Unwohlsein mit diesem Pakt. Eigentlich hat sich das, glaube ich, auf eine sehr eigentümliche Art und Weise dann auch auf die Zeit nach 1945 übertragen. Während des Kalten Krieges, aber auch in Westeuropa bleibt dieser Pakt etwas, mit dem man sich am liebsten nicht beschäftigen möchte. Man muss ihn anerkennen, ihn hat es nun mal gegeben, und dann springt man ganz schnell zu 41 und zwischendurch schauen wir mal lieber nicht, oder schauen uns nur Hitlers Blitzkriege an. Und das hat natürlich was mit der folgenden Geschichte zu tun. Von 41 bis 45 sind sie Gegner und die Sowjetunion gewinnt diesen Krieg. Die Sowjetunion möchte überhaupt nicht an dieses Bündnis erinnert werden, und auch für Westeuropa wird es zunehmend schwieriger, diesen Hitler-Stalin-Pakt zu behandeln. Er ist noch mal ein Thema auf dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, auf dem Nürnberger Tribunal. Dort gibt es diese berühmte Szene, in der der langjährige Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Friedrich Gaus, dieses Erinnerungsprotokoll des geheimen Zusatzprotokolls macht. Das verschwindet dann und wird nicht weiter thematisiert. Alle wissen, dass die deutsche Seite mit diesem Pakt eigentlich auch ein Argument in der Hand hat, zu sagen: Die auch, die Sowjetunion auch, und die haben auch Kriegsverbrechen verübt. Das ist natürlich unangenehm, schon mal angesichts dieser monströsen Verbrechen und des Holocaust. Mit den 68ern, 70er, 80er Jahre ist mit der Thematisierung des geheimen Zusatzprotokolls auch immer so ein bisschen diese Angst verbunden, damit die Verbrechen der Deutschen zu relativieren. Also wenn wir jetzt die sowjetischen Verbrechen benennen oder wenn wir jetzt auf die Zeit schauen, in der Hitler und Stalin Verbündete waren und was sie zusammen auch getan haben, relativieren wir da nicht das, was danach kam? Diese Furcht, glaube ich, hat dazu geführt, dass man sich dieser Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes für die Weltkriegsgeschichte lieber entzogen hat.

Kleinere europäische Länder, vor allen die Polen, haben ja erlebt, was passiert, wenn die Deutschen und die Sowjets damals zusammengingen. Hat das bis heute Implikationen auf die Politik und auf die Empfindung von Geschichte?

Ja, das hat natürlich ganz große Spuren hinterlassen. Das ist auch nicht zufällig, dass gerade von den osteuropäischen Staaten dann in den 90er Jahren der Hitler-Stalin-Pakt und das geheime Zusatzprotokoll noch mal besonders thematisiert worden ist und auch die Forderung damit verbunden war, auch die Verbrechen des Stalinismus anzuerkennen. Also wirklich auf diese gemeinsame Geschichte zu schauen. Ich muss sagen, dass gerade auch die baltischen Historiker und Historikerinnen als auch die polnischen empirisch zu dieser Zeit schon viel mehr gearbeitet haben als die westeuropäischen oder die deutschen Historiker. Die haben eine ganz hervorragende empirische Grundlagenforschung zu dieser Zeit gemacht, zu einem Zeitpunkt, in dem die Archive eben noch zugänglich waren. Heute ist das sehr viel schwerer. Das ist mir noch ganz wichtig zu sagen, dass ich diese Furcht davor, wenn wir uns die gemeinsame Verbrechensgeschichte anschauen, wir damit diese Singularität der deutschen Verbrechen relativieren, diese Furcht kann ich verstehen. Und ich muss sagen, dass bei meinen Arbeiten sie mich am Anfang auch befallen hat und ich dachte: Kann ich das jetzt wirklich so schreiben? Kann ich das jetzt wirklich so machen? Und ich habe mich aus zwei Gründen vor allen Dingen entschlossen, das zu tun. Der eine Grund ist: Ich werde den Opfern nicht gerecht. Warum soll ich die Opfer verschweigen, die in ihrer Verzweiflung von einer Besatzungszone in die andere migriert sind, ihre Familien verloren haben, das sind ganz tragische Geschichten, in der Sowjetunion deportiert wurden? Ich möchte diese Opfer nicht verschweigen, die diesem Bündnis und beiden Seiten zum Opfer gefallen sind, und ich möchte diese komplexe Geschichte entdecken. Der andere Grund ist, dass, wenn man es zulässt und sich mit dieser Zusammenarbeit beschäftigt, es überhaupt keine Relativierung des Holocausts ist, weil man dann zu dem Schluss kommt, dass tatsächlich die systematische Ermordung der europäischen Juden, der Vernichtungskrieg tatsächlich ein deutsches Phänomen war und ein nationalsozialistisches Ereignis. Während die polnischen Juden, die auf das sowjetische Territorium geflüchtet sind, auch Repressionen unterlagen, auch deportiert wurden, eine große Leidensgeschichte hatten, und paradoxerweise, das hat Stalin nicht gewollt, aber das war das Ergebnis seines Handelns, diese polnischen Juden gerettet wurden durch die Deportation. Sie wurden eben nicht systematisch in Vernichtungslagern vernichtet, und es kam keine Endlösung.

Die Singularität des Holocaust?

Ja, es bestätigt sich. Es gibt überhaupt keine Relativierung. Man kann dieser Geschichte doch wirklich ruhig ins Auge sehen. Man muss keine Angst davor haben.

Sie sprachen von der Grundlagenforschung, die in den osteuropäischen Staaten stattgefunden hat. Das hatte auch eine antisowjetische Komponente – also klarzumachen, dass da etwas passiert ist. Es gibt aber auch noch eine Angst, dass Deutsche und heute Russen wieder einmal zusammengehen könnten, zum Beispiel bei einer Erdgas-Pipeline. Da werden auch alte Reflexe dann wieder bedient.

Ja, das werden sie. Man sieht das sehr schön an den Diskussionen um Nord Stream 2. Das verwundert mich auch nicht, weil geografische Lagen, die scheinen uns Historikern immer so essentialistisch und darum finden wir sie so wenig wissenschaftlich. Gleichwohl kann man sie nicht wegdiskutieren. Dass Polen und die Ukraine zwischen Russland und Deutschland liegen, das ist geografisch so. Ebenso wie man die geografische Lage des Baltikums nicht wegdiskutieren kann. Bis zu einem gewissen Grade kann ich den Befürchtungen, auch im Baltikum, wenn man sich die derzeitige russische Außenpolitik anschaut, durchaus folgen. Dass es da einen Phantomschmerz gibt oder eine Angst davor, dass sich bestimmte Dinge wiederholen könnten, das kann ich nachvollziehen und als Historikerin muss ich sagen: Es ist nicht etwas, das nicht möglich ist. Es kann auch wieder passieren.

Können Sie auch die russische Seite verstehen, diese Bedrohungsszenarien, dass der Westen, weiter nach Osten drängt und das Land bedroht?

Ich glaube, dass es so ein ganz ähnlicher historischer Phantomschmerz ist, wie es ihn eben auch in den osteuropäischen Ländern gibt. Und es gibt tatsächlich dieses russische oder sowjetische Bedürfnis nach einem Sicherheitskorridor. Das mag man legitimieren oder das mag man nicht legitimieren. Man kann sagen: Wozu braucht es eigentlich diesen Sicherheitskorridor? Aber der russischen Seite gibt es dieses Bedürfnis nach diesen Raum, nach dieser Sicherheitszone. Historisch betrachtet muss man sagen, dass Russland das häufig von den Großmächten zugestanden worden ist in der Geschichte. Also nach 1945 ja auch von den Westmächten, die in Jalta, oder auch Churchill mit seinem Percentages agreement vom Oktober 1944, Russland diese Sicherheitszone durchaus zugestanden haben. Aber die andere Frage, ob es jetzt noch mal so ein Zusammengehen zwischen Deutschland und Russland geben kann: Insofern wiederholt sich die Geschichte nicht, als dass wir es jetzt nicht mit diesen Ideologien zu tun haben. Das glaube ich nicht. Manchmal in Podiumsdiskussion finde ich es sehr befremdlich, wenn dann Fragen kommen oder Anmerkungen wie „Wir müssen mit den Russen zusammenarbeiten, weil, wir wissen doch, wenn die Deutschen und die Russen nicht zusammengearbeitet haben in der Geschichte, ist es ihnen immer schlecht gegangen, und wenn sie zusammengearbeitet haben, ist es ihnen immer gut gegangen“. Das kommt gelegentlich aus dem Publikum in Podiumsdiskussionen – und ich erschrecke dann immer ein bisschen innerlich, weil, das ist Ribbentrop. Das hat Ribbentrop gesagt, gerade im Zuge des Nichtangriffpaktes. Das war dann auch Teil der nationalsozialistischen Propaganda. Das ist ein bisschen schwierig mit diesem Satz.

Wenn man so ein großes Projekt angeht, hat man ja eine These im Kopf, mit der man vielleicht in die Recherche hineingeht. Was war die größte Überraschung für Sie?

Die größte Überraschung war tatsächlich diese ganz pragmatische Zusammenarbeit der Geheimdienste auf der Arbeitsebene. Teilweise sind das Leute wie Odilo Globocnik oder auch Bruno Streckenbach, die dann nach 1941 in der Sowjetunion die grausamsten Kriegsverbrechen verüben und vorher, vor 1941, eben die NKWD-Delegation im Generalgouvernement betreut haben. Diese Personen zu finden in meinen Akten, von denen ich eigentlich weiß, dass sie fürchterliche Kriegsverbrecher in der Sowjetunion waren, das hat mich erschrocken. Und eine große Überraschung war für mich auch, wie sehr aus den Akten, die ich im Auswärtigen Amt gelesen habe oder im Bundesarchiv hier in Berlin-Lichterfelde, wie sehr die deutschen Stellen zugegeben haben, in welchem Ausmaß sie doch von der Sowjetunion und von den NKWD-Deportationen lernen können. Das hat mich auch überrascht.

Frau Weber, herzlichen Dank für das spannende Gespräch.

Danke.

Literatur:
Weber, Claudia: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, Verlag C. H. Beck

Artwork: Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

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Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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