Belarus: Was bleibt von den Protesten 2020?

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

  • Ukraine & Beyond
  • Internationale Politik
  • 30 Min.
  • 30. Episode

In Massen demonstrierten in Belarus Menschen im Sommer 2020 gegen das diktatorische Regime. Die Regierung reagierte brutal. Iryna Kashtalian, belarussische Historikerin, trägt Erfahrungen von Protestierenden in ihrem Interview-Archiv zusammen, um Einblicke in Motivation und Hoffnungen der Zivilgesellschaft in Belarus zu sichern.

In der neuen Folge des History & Politics Podcasts haben wir mit Iryna Kashtalian gesprochen. Zum Mit- und Nachlesen stellen wir ein Manuskript zur Sendung auf unserer Website bereit.

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„Wir sind die Mehrheit und wollen eine andere Zukunft. Ich hoffe, dass wir diese Situation gewinnen können, denn das ist nicht so einfach, da die Leute friedlich sind und die Regierung Gewalt benutzen will.“

Iryna Kashtalian, belarussische Historikerin

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Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von History and Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Mein Name ist Gabriele Woidelko und auch heute sprechen wir wieder mit einem Gast darüber, wie die Gegenwart von der Vergangenheit geprägt ist.

Die aktuellen Nachrichten sind schrecklich, der russische Krieg gegen die Ukraine ist ein weiterer Tiefpunkt für die Selbstbestimmung der Menschen im postsowjetischen Raum. Belarus spielt bei der Unterstützung Russlands in diesem Krieg eine wichtige Rolle. Im Sommer 2020 umrundeten Bilder einer starken Bürgerbewegung in Belarus die Welt. In großer Zahl haben damals Menschen gegen die umstrittene Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka demonstriert, der das Land seit 1994 diktatorisch regiert. Das Regime ging mit großer staatlicher Gewalt gegen die Proteste über die Wahlfälschungen vor, mehrere Zehntausend Menschen wurden zeitweilig verhaftet, viele Menschenrechtsverstöße dokumentiert. Durch ein immer drakonischeres Vorgehen gegen jede Form von öffentlichem Protest herrschte dann zwischendurch zumindest auf den ersten Blick eine gespenstische Ruhe im Land. Mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben aber viele Belarussinnen und Belarussen auch öffentlich mutige Zeichen des Widerstands gesetzt.

Dafür, dass diese für Belarus so einschneidenden Ereignisse im Sommer 2020 nicht in Vergessenheit geraten können, engagiert sich unsere heutige Gesprächspartnerin. Die belarussische Historikerin Iryna Kashtalian arbeitet am Aufbau eines wissenschaftlichen Oral History Archivs, in dem Interviews mit belarussischen Aktivist:innen über die Proteste in Belarus im Jahr 2020 für die Zukunft archiviert und aufbereitet werden. Damit sichert sie tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt von Protestierenden aus Belarus. Bleiben Sie also dran, wenn Sie mehr über das Leben im heutigen Belarus erfahren möchten. Oder wenn Sie sich fragen, was Menschen bewegt, die sich trotz großer Gefahren gegen politische Unterdrückung aufzulehnen versuchen.

Iryna Kashtalian ist promovierte Historikerin und Politikwissenschaftlerin aus Belarus. Sie studierte an Universitäten in Minsk sowie am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Ihr Spezialgebiet ist die Alltagsgeschichte in der stalinistischen Diktatur. Seit vielen Jahren forscht und arbeitet sie in Belarus wie auch in Deutschland mit der Methode der Oral History.

Wie stand es, wie steht es um die Zivilgesellschaft in Belarus? Wie kann ein Interviewarchiv das kulturelle Gedächtnis zukünftiger Generationen bereichern? Und was gibt es hinter der erzwungenen Ruhe im Land zu entdecken? Darüber hat meine Kollegin Katja Fausser mit Iryna Kashtalian gesprochen.

Dieser Podcast ist noch vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 aufgezeichnet worden. Wir sind Frau Kashtalian sehr dankbar, dass sie das Gespräch mit uns auf Deutsch geführt hat. Wenn Sie das Gespräch zusätzlich nachlesen möchten, empfehlen wir einen begleitenden Blick in das Manuskript zum Podcast.

Katja Fausser: Frau Kashtalian, seit Dezember 2021 sind Sie mit einem Forschungsstipendium an der Universität in Bremen. Dort arbeiten Sie am Aufbau eines Oral History Archivs, einer Sammlung von Interviews, die Sie mit Menschen aus Belarus führen, die sich an den Protesten gegen Lukaschenka beteiligt haben. Wie entstand die Idee für Ihr Projekt?

Iryna Kashtalian: Vielen Dank für diese Frage. Die Geschichte ist kurz und lang. Auf der einen Seite bin ich Historikerin und habe über lange Zeit verschiedene Erinnerungen über das 20. Jahrhundert der russischen Geschichte gesammelt. Auf der anderen Seite suche ich immer Themen, bei denen persönliche Erinnerungen wichtige Ereignisse in der Geschichte ergänzend darstellen können. Deshalb sind die Ereignisse von 2020 sehr wichtig für die belarussische Geschichte. Es ist eine neue Phase unserer Geschichte, auf die ich und meine Kolleg:innen unsere Aufmerksamkeit lenken, sodass wir sie verstehen können und die Erinnerungen gespeichert werden.

Wir werden gleich noch etwas tiefer in die Erfahrungen und all das, was Sie in diesen Interviews erfahren haben, einsteigen. Aber können Sie am Anfang einmal für Menschen, die vielleicht keine Expert:innen für Belarus sind, kurz erklären, worum es bei den großen Protesten im August 2020 ging?

Wir haben unseren unabhängigen Staat schon seit 1991, aber seit 1994 haben wir Lukaschenka als »Leitung«. Nicht legitimiert durch die Gesellschaft, ist er seit 28 Jahren an der Macht und bewegt und verhält sich wie ein Diktator. Er ist eine Person, die früher sehr durch die Generation unterstützt wurde, die die sowjetische Union zurückhaben wollte. Mit der Zeit haben viele Leute in unserer Gesellschaft verstanden, dass sie eine andere Zukunft haben wollen. Sie haben Europa gesehen und sind viel gereist. Diese Leute waren 2020 einfach müde von dieser Regierung, der sie nichts vorschlagen konnten, und das war provoziert durch kleine Trigger. Ich denke, es war einfach an der Zeit. Viele Leute wollten in einem anderen Belarus leben. Das war eine der Ursachen für die Proteste. Diese waren verbunden mit den Präsidentschaftswahlen im August 2020.

Ihre Protagonist:innen beschreiben zum Beispiel ihre Motivation für die Beteiligung an Protesten, sie reflektieren über Erfolge oder auch Scheitern, sie sprechen über den Umgang mit Traumata, die sie erlitten haben oder über Herausforderungen im Exil. Welche Passagen dieser Gespräche, die Sie bisher geführt haben, sind aus Ihrer Sicht am stärksten, am relevantesten?

Ich arbeite schon sehr lange mit Erinnerungen und versuche jedes Schicksal, das ich höre, zu verstehen. Darum ist es mir wichtig, dass das Interview nicht kürzer als zwei Stunden ist. Für mich war es wichtig zu verstehen, wie schwer das Trauma dieser Leute ist, und ich habe verstanden, dass alle traumatisiert sind. Wir sollten sagen, Flucht ist auf jeden Fall ein Beispiel für Repression. Das ist ein Beispiel für Gewalt. Meine Protagonist:innen hatten verschiedene Strategien, das hängt sehr von der Person selbst ab. Eine Person sagte, dass sie jetzt lebt, wie es kommt.

Es gab sehr schreckliche Erinnerungen. Ich erinnere mich an eine sehr schwere Geschichte für mich, von einer Person, die Anfang August im Gefängnis war. Dort wurde er geschlagen und du hörst, wie er erzählt und verstehst, dass er für sich selbst einen Weg gefunden hat mithilfe der Rationalität zu überleben. Gleichzeitig fühlst du, wie schrecklich, wie schmerzhaft und wie schwer vorstellbar es ist, dass in unserem Land im 21. Jahrhundert so etwas passieren kann. Das ist emotional sehr schwer zu ertragen.

Für mich war es auch sehr interessant zu sehen, ob die Leute so geblieben sind wie vorher, wie sie sich fühlen, also welche Selbstidentität sie gespeichert haben. Welche verschiedenen Formen von Protest sie gewählt haben. Einige Leute haben Vorträge im Hof gemacht, andere haben gesungen, andere haben sich als Freiwillige gemeldet, zum Beispiel in der Nähe von Gefängnissen. Sie waren da für Eltern oder Kinder, die inhaftiert waren, oder unterstützten, wenn diese Leute wieder frei waren.

Ich habe diese fünf Personen ausgewählt, weil es für mich sehr wichtig war, dass ich eine Stichprobe aus verschiedenen Gruppen, verschiedenen Geschlechtern und Berufen habe. Wir sehen in diesen Interviews sehr viele verschiedene Schichten. Wir können gleichzeitig aber auch etwas Gemeinsames darin finden und verstehen, warum diese Leute protestieren. Zum Beispiel war es für mich sehr interessant, diesen Prozess zu sehen. Wie sind die Menschen zu dieser kritischen Meinung gekommen? Die Proteste 2020 entstanden nicht plötzlich, es gab einen Weg dorthin: Einen psychischen Weg, das Verständnis, dass sie in einer Demokratie leben wollen und selbst wissen, was sie wollen.

Sie haben es gerade schon angesprochen: Das Regime von Lukaschenka währt schon sehr lange. Dann gab es ein, zwei Auslöser und plötzlich sind so viele Menschen auf der Straße und das Fass scheint übergelaufen zu sein. Sie haben gerade schon beschrieben, dass die Interviews auch einen guten Einblick geben in diesen Weg. Haben Sie schon aus den ersten Gesprächen eine These für Faktoren, die dazu geführt haben, dass die Proteste genau dort ausgebrochen sind?

Ende der 1980er oder Anfang der 1990er Jahre gab es auch sehr viele Proteste. Danach waren sie wieder weg. Die Regierung war repressiv, aber es gab Nischen, in denen man überleben und Dinge tun konnte. Die Grenze war klar. Sobald du politisch aktiv wirst, bekommst du Probleme. Aber du kannst etwas im Kulturbereich realisieren. Aber dann ändert sich 2020 alles.

Ich bin der Auffassung, dass es zu dieser Zeit eine neue Generation gab. Die hat verstanden, dass sie selbst Arbeit finden können, etwas für die Zukunft aufbauen können und diese selbst mit beeinflussen wollen. Sie waren »Träger:innen«, Vorbilder, die anderen einen Weg gezeigt haben, wie die Gesellschaft sich einigen kann. Dann kam die Covid-Situation im Frühling 2020. Die Regierung hat den kranken Leuten nicht geholfen und sich nicht um Ärzt:innen gekümmert. Danach haben wir viele neue Strategien gesehen, zum Beispiel Frauen auf der Straße und viel Kreativität. Das war überraschend für alle, auch für mich, obwohl ich schon lange in Verbindung mit den Protesten stehe und schon viele Demonstrationen gesehen habe. 2020 war auf jeden Fall etwas Überraschendes. Wir haben gesehen, wie die Geburt einer Nation abläuft. Die Gesellschaft hat gezeigt, dass wir uns einigen können, wenn wir einander schätzen ohne Verbindung zum »Offiziellen«.

Dann kam dieser Trigger bei der Gewaltsituation nach dem 9. August, als Leute auf der Straße waren und spezielle Granaten benutzt wurden. Einige wurden dort verletzt, viele Leute wurden festgenommen. Das war ein Schock für die Gesellschaft. Beim ersten Protest nach dieser Situation wusste niemand, wie viele kommen würden und es war überraschend, dass so viele Leute da waren.

Es ist jetzt nicht wichtig, ob du schon davor aktiv warst oder erst seit dieser Zeit. Wir sind die Mehrheit und wollen eine andere Zukunft. Ich hoffe, dass wir diese Situation gewinnen können, denn das ist nicht so einfach, da die Leute friedlich sind und die Regierung Gewalt benutzen will. Wir haben verstanden, dass die Regierung bereit war, Waffen einzusetzen. In diesem Fall hätte es viel Blut und viele Tote gegeben, und ich bin sehr froh, dass wir friedlich waren. Das ist natürlich ein sehr langer Prozess, niemand weiß, wie viele Jahre und wie viele Verletzte noch folgen werden. Auf jeden Fall war der Moment, dass viele Leute nicht aggressiv waren, unser Sieg. Der Grund, warum wir nicht so viel Gewalt und Tote hatten.

Ich möchte noch einmal auf die Methode, die Sie gewählt haben, und Ihr Projekt, ein Oral History Archiv aufzubauen, zu sprechen kommen, denn damit schaffen Sie für zukünftige Historikerinnen und Historiker einschlägige Quellen über diese Proteste. Neben der Emotionalität und den Gefühlen, den Reflexionen der Menschen, ihren Sichtweisen enthalten Ihre Interviews auch viele sehr detaillierte Informationen. Zum Beispiel zur Frage, wie genau denn die Wahlen manipuliert wurden, wie die Proteste organisiert wurden oder welche Reaktionen der Staats- und der Sicherheitsbehörden es auf welchen Plätzen gegeben hat. Ich frage mich, verlieren diese Informationen vielleicht an Wert für zukünftige Historikerinnen und Historiker, weil Sie die anonym archivieren werden?

Wenn es darum geht, die Verantwortung von Schuldigen nachzuweisen, sollte man bei Gericht Beweise haben und diese sollten spezifische Informationen geben, das wäre nicht anonym. Wir sind aber nicht in der Situation, dass wir etwas überprüfen müssen. Unsere Entscheidung zur Anonymität lag an der jetzigen Situation. Wir wollen, dass niemand gefährdet wird oder Probleme bekommt. Obwohl unsere Leute im Ausland sind, nicht in Belarus, haben sie gleichzeitig Verwandte, die dann Probleme bekommen können. Ich hoffe, dass die Situation in der Zukunft besser ist, und wir vielleicht sagen können, dass Anonymität nicht mehr notwendig ist.

Sie haben es gesagt, Ihre Gesprächspartner:innen leben inzwischen im Exil, in Litauen, in Polen, auch in Deutschland. Was sind da die größten Herausforderungen?

Es ist eine große Herausforderung, sein Leben von Null auf neu zu organisieren. Ein großer Faktor ist die Sprache, und ob eine Person in ihrem Beruf bleiben kann. Eine andere Herausforderung ist, wenn wir feststellen, dass sie ihr Land nicht freiwillig verlassen haben und bis jetzt sehr großes Heimweh haben, aber nicht in ihre Heimat zurückfahren können. Zugleich kann ich über meine Protagonist:innen sagen, dass sie alle versuchen, ihr Leben selbst zu organisieren so wie früher, und sich so wenig wie möglich von anderen Personen abhängig machen. Sie sind aber sehr dankbar für Hilfe.

Menschen, die jetzt diesen Podcast hören: Gäbe es für sie etwas, was sie tun könnten, wenn sie die Freiheitsbewegung in Belarus oder die Akteur:innen im Exil unterstützen möchten? Hätten Sie da einen Tipp oder eine Empfehlung?

Vielen Dank für diese Frage, sie ist sehr wichtig, weil die repressive Maschine arbeitet, und es gibt mehr und mehr politische Häftlinge. Wir fragen so viele Leute wie möglich für die Unterstützung dieser Familien, die Begleitung der Häftlinge oder für die Organisationshilfe für Flüchtlinge direkt. Wir haben zum Beispiel in Deutschland die Organisation »Razam«, die die belarussische Diaspora vorstellt. Sie haben ein Konto, wo man Geld als Spende für Flüchtlinge oder für Familien von politischen Häftlingen überweisen kann. Eine andere Hilfe kann sein, dass man über diese Seite an politische Häftlinge Briefe und Postkarten zur Unterstützung schicken kann. Und ich empfehle auch, die Nachrichten aus den großen Städten zu sehen. Die belarussische Diaspora organisiert zudem verschiedene Veranstaltungen, an denen man auch hier teilnehmen kann.

Vielen Dank, wir werden ein paar Links im Internet dazu veröffentlichen. Ich hatte bei der Lektüre einiger Interviews das Gefühl, sehr eindrücklich zu verstehen, wie zynisch das Regime den Preis der Freiheit ermittelt hat. Denn mehrere Interviewpartner:innen von Ihnen haben berichtet, dass sie und viele andere die Gefahr einer zehntägigen oder kurzen Haft durchaus auf sich genommen haben. Als das Regime aber dann begann, Protestierende als Extremist:innen oder auch Putschist:innen zu verurteilen und ihnen lange Haftstrafen drohten, konnten sich viele dem nicht mehr so direkt aussetzen. Wie ist Ihre Einschätzung: Ist die Protestbewegung am Ende im Moment? Es ist doch deutlich ruhiger geworden, zumindest wenn man vom Ausland schaut.

Wenn man vom Ausland drauf schaut, ist vielleicht nicht viel zu sehen. Die Frage ist auch, wer informiert, und worüber informieren die Massenmedien. Ich weiß, das sind zuallererst Ereignisse, die die Europäische Union beeinflussen. Zum Beispiel gab es im letzten Jahr über die Migrationskrise oder über die Flugzeugentführung mit Raman Pratassewitsch, aber nicht so viel über das, was im Land passiert. Jetzt sehen wir zum Beispiel, dass viele russische Soldaten in Belarus sind. Dieser Fakt erhält aber nicht viel Aufmerksamkeit. Es ist eine Besatzung von Belarus. Was wird aus der Ukraine, aber eben auch: was wird aus Belarus?

Ich lese jeden Tag so viele Nachrichten, es werden viele schlechte und schlimme Geschichten über die belarussische Situation geschrieben. Zum Beispiel auch, dass Leute probieren zu protestieren, aber das ist nicht so einfach. Es ist wie Sie gesagt haben, der Preis ist sehr hoch. Darum sind die Wege zum Protest im Gegensatz zu früher andere geworden. Es sind nicht mehr so große Demonstrationen. Wir wissen, sie haben Waffen und töten einfach Leute oder machen andere Sachen. Wir sagen, wir sehen die Proteste nicht, aber der Protest kann nicht aus den Herzen der Menschen gerissen werden.

Danke, dass Sie uns da noch mal drauf aufmerksam machen. Sie haben schon gesagt, was Sie sich wünschen würden, was sich vielleicht an der Berichterstattung ändern könnte. Was würden Sie sich von der deutschen Regierung, von der EU oder auch von anderen Staaten, zum Beispiel Russland oder den USA, wünschen?

Ich denke, wir sollten die Situation in Russland und in den anderen Ländern unterscheiden. Ohne Putin und die russische Regierung, das ist meine private Meinung, die aber, denke ich, viele unterstützen können, hätten wir vielleicht jetzt keinen Lukaschenka. Diese repressive Beeinflussung durch Russland ist sichtbar. Wir leiden darunter, zu sehen, wie Russland hilft, dass dieser Diktator bleibt. Auch dass Leute in Russland festgenommen werden, die früher protestiert haben. So kann man nicht in Sicherheit sein in Russland.

Wir können sagen, was die Europäische Union machen kann. Ich kann nur sagen, das hängt vom jeweiligen Staat ab. Wir können sagen, dass Litauen und Polen viel machen. Sie sind Nachbarn und verstehen etwas von der sozialistischen Zeit, was sie bedeutet und warum man helfen soll.

Ich kann sagen, was das Problem mit Deutschland ist. Es ist bis jetzt nicht anerkannt, dass die Leute einen Flüchtlingsstatus brauchen, wenn sie aus Belarus kommen. Nur wenige Personen beantragen das; diesen Status zu bekommen ist schwer. Letztes Jahr gab es nur eine begrenzte Zahl von Visa aus humanitären Gründen. Es gab einen Moment für mich im August, da hatte ich Probleme. Es wurde gesagt, dass das Limit schon ausgeschöpft ist. Das ist verrückt, wenn Leute ständig unter der Gefahr von diesen Repressionen leben müssen. Was soll man machen? Wer kann überhaupt nach Deutschland kommen, wenn man kein humanitäres Visum oder den Flüchtlingsstatus hat? Nur Stipendiat:innen, und Stipendien sind begrenzt. Sehr oft gibt es das nur einmal pro Jahr für ein, zwei, drei Personen. Wer kann das beantragen? Forscher:innen. Aber es gibt auch NGO- Aktivist:innen, wohin können die sich retten?

Lukaschenkas Regierung begrenzt die Möglichkeit auszureisen, viele Leute sind eingeschlossen im Land. Sobald eine Person Probleme hat, ist die Flucht eine große Herausforderung. Es gab Fälle, da sind Leute durch Wälder, Seen oder Flüsse gegangen, illegal, weil sie nicht die richtige Unterstützung gefunden haben.

Sie sind gerade am Anfang dieses Projektes, wie geht es weiter? Kennen Sie schon die nächsten Schritte?

Ich weiß, dass es bei den Interviews wichtig ist, so methodisch professionell wie möglich vorzugehen, weil das in Zukunft eine Quelle sein wird für verschiedene Forscher:innen und Interessierte. Meiner Meinung nach können wir das als Teil des Archivs der Forschungsstelle Osteuropa machen. Ich hoffe, dass das klappt. Das wird interessant, weil sie schon den Protest in der Ukraine und auch den in Russland haben. Belarus dazu wäre gut für den Blick auf die Region. Gleichzeitig will ich die Ergebnisse und Quellen analysieren, auch in Verbindung mit anderen Quellen, zum Beispiel visuellen. Welche Telegram-Kanäle sind entstanden, welche Typen von Postern, Musik und so weiter. Auch diesen Prozess zu zeigen, dass die Proteste nicht einfach überraschend an diesem Ort auftauchten, sondern dass es ein Weg dahin war. Ich hoffe auch, dass die Situation in Zukunft mit wenigen Opfern und so schnell wie möglich erfolgreich beendet wird, das ist mein Traum.

Sie sind Historikerin und keine Futurologin, aber ja, den Wunsch, dass die Menschen bald in der Lage sind, freier, selbstbestimmter ihr Schicksal zu gestalten, haben Sie schon durchgängig formuliert heute. Wollen Sie noch eine Zukunftsperspektive wagen für Belarus? Oder ist es gerade wirklich zu offen?

Vielleicht zu offen. Ich denke, die Gesellschaft verändert sich, als Vergleich, die Paste kann nicht in die Tube zurück, also dass es nicht zurück in eine Diktatur geht, das hoffe ich und dass wir auf jeden Fall eine gute Zukunft haben werden. Die Frage ist, wann.

Frau Kashtalian, vielen Dank für das Gespräch, für Ihre Offenheit! Für Sie persönlich und für Ihr Forschungsvorhaben wünsche ich Ihnen viel Energie, viel Erfolg, machen Sie es gut.

Vielen Dank.

Das war unser History and Politics Podcast mit Iryna Kashtalian, die durch den Aufbau eines Interviewarchivs Erfahrungen während der Bürgerproteste in Belarus vom Sommer 2020 für die Nachwelt festhält. Links mit weiteren Informationen zu Frau Kashtalian und zu belarussischen Hilfsorganisationen finden Sie unter dem Manuskript der aktuellen Sendung. In Kürze finden Sie dort ebenfalls einen Link zu zwei aufbereiteten Auszügen aus Interviews von Iryna Kashtalian.

Alle weiteren Informationen zur Arbeit des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung finden Sie auf unserer Stiftungswebsite. Da gibt’s natürlich auch alle aktuellen Folgen des History and Politics Podcasts. Vielen Dank fürs Zuhören, hoffentlich bis zur nächsten Folge, machen Sie es gut!

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Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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