Der Zugabe-Preis 2021
Annette Habert (60), Dirk Müller-Remus (63) und Josef Martin (85) wurden am 8. Juni mit dem Zugabe-Preis der Körber-Stiftung ausgezeichnet. Alle drei haben erfolgreiche Sozialunternehmen gegründet und verbinden so die unternehmerische Kompetenz des Alters mit vorbildlicher gesellschaftlicher Wirkung. Sie erhielten je 60.000 Euro Preisgeld.
Annette Habert, 60: Flechtwerk 2+1 gGmbH
Annette Habert (60) stabilisiert Scheidungsfamilien: Ihre gemeinnützige GmbH Flechtwerk 2+1 vermittelt weit entfernt lebenden Müttern und vor allem Vätern private Gastgeber für die Übernachtung beim Besuch ihres Kindes, Räume für das Zusammentreffen und ehrenamtliche Coaches. Rund 1800 Gastfamilien öffnen ihre Türen für ca. 1400 geschiedene Eltern. Ihr Sozialunternehmen hat die Religionspädagogin 2012 gegründet; bis heute wachsen die Mitgliederzahlen. Seit 2020 beteiligen sich ihr Wohnort München und das Bundesfamilienministerium an den Kosten. Zu Beginn aber hatte Annette Habert eine eigene Erbschaft in ihr Sozialunternehmen eingebracht – und ihre Lebenserfahrung: Sie war selbst alleinerziehend, hatte ein Pflegekind aufgenommen und auf Missstände immer wieder persönlich reagiert, zum Beispiel durch Hilfstransporte im Jugoslawienkrieg. Das Unternehmertum, sagt sie, war ihr nicht in die Wiege gelegt, aber Verantwortung zu übernehmen, schon – und erst recht bei ihrem Lebensthema „Bindungen“. Von der „Analphabetin in der Unternehmensführung“ ist sie zur selbstbewussten Sozialunternehmerin gereift, die für die Bindungssicherheit von Kindern nicht nur erfolgreich kämpft, sondern ihre Stimme auch in der politischen Debatte erhebt.
„Mutig und erfolgreich hat sich Annette Habert als Unternehmerin auf Neuland gewagt, sie übernimmt in vorbildlicher Weise Verantwortung, wo sie Defizite sieht, und hat auch für ihr Sozialunternehmen geschaffen, was ihr Lebensthema ist: verlässliche Bindungen und ein tragfähiges Netzwerk.“
Juror Rudolf Kast
Vorstandsvorsitzender des Demographie-Netzwerks e.V.
Dirk Müller-Remus, 63: auticon GmbH und Diversicon GmbH
Dirk Müller-Remus (63) ist ein gleich mehrfach erprobter „Senior Social Entrepreneur“. Mit der auticon GmbH und der Diversicon GmbH vermittelt der Berliner vorrangig Autisten in den Arbeitsmarkt. Der Wirtschaftsinformatiker hatte bei seinem eigenen Sohn ihre speziellen Stärken erkannt – wie Logik, Mustererkennung, Fehlersuche und Präzision. Aber er musste auch erfahren: 70% aller Autisten in Deutschland sind arbeitslos. Seit 2011 vermittelt deshalb die auticon GmbH Autisten als IT-Fachkräfte in den ersten Arbeitsmarkt. Mit großem Erfolg: Über 400 Arbeitsplätze wurden bereits geschaffen und auticon ist in der IT-Branche fest etabliert. Die IT-Unternehmen gewinnen gute Mitarbeiter, aber auch Erfahrung mit Inklusion. auticon trägt sich durch seinen Umsatz so gut selbst, dass Dirk Müller-Remus 2017 ein zweites Unternehmen gründen konnte: die Diversicon GmbH, ein Personaldienstleistungsunternehmen für Arbeitslose mit neurodiversen Hemmnissen, neben Autismus zählt dazu z.B. auch ADHS. Dirk Müller-Remus ist stolz auf seinen unternehmerischen Erfolg, hat aber auch noch viele neue Ideen für weitere visionäre Gründungen. Dirk Müller-Remus Gründergeist beweist, dass Start-ups zu Unrecht nur mit Jüngeren verbunden werden. Auch ältere Gründer „wollen noch etwas bewegen und die Gesellschaft verbessern“.
„Mit seiner unbeirrbaren Leidenschaft, Benachteiligung in individuellen wie gesellschaftlichen Gewinn zu verwandeln, steht Dirk Müller-Remus Modell für kreative Start-ups älterer Gründer:innen.“
Juror Rudolf Kast
Vorstandsvorsitzender des Demographie-Netzwerks e.V.
Josef Martin, 85: Seniorengenossenschaft Riedlingen
Der Agrar-Ingenieur Josef Martin (85) lebt seine Zugeber-Karriere bereits seit fast 30 Jahren. Schon 1991, damals 56 Jahre alt, hatte er die Folgen des demografischen Wandels erkannt: die Landflucht der Jungen sowie mögliche Armut und fehlende Versorgung der Alten. Um seine Heimatstadt Riedlingen am Rand der schwäbischen Alb demografiefest zu machen, gründete er die Seniorengenossenschaft Riedlingen, organisiert als Verein. Sie war nicht nur die erste ihrer Art in Deutschland, sondern als Beispiel bürgerschaftlicher Selbsthilfe das Modell für viele spätere Seniorengenossenschaften im ganzen deutschsprachigen Raum. In Riedlingen bietet Josef Martins Gründung den Älteren barrierefreie Wohnungen, eine Demenztagespflege, Hilfe im Haushalt, Essens- oder Fahrdienste zu bezahlbaren Preisen. Neben 22 Fachkräften erbringen auch über 100 ältere Bürgerinnen und Bürger diese Leistungen und erhalten für ihr Engagement eine Vergütung oder eine Gutschrift auf ein Zeitkonto. Von 10.000 Einwohnern sind heute 850 Mitglieder der Seniorengenossenschaft. Josef Martin ist noch immer ihr ehrenamtlicher Vorsitzender. Als Pionier ist er bis heute vom Nutzen und auch der Wirtschaftlichkeit des solidarischen Genossenschaftsgedankens überzeugt. Seinen unternehmerischen Einsatz trägt er auch in die Politik – ihr empfiehlt er, sorgende Gemeinschaften von Bürgerinnen und Bürgern viel stärker zu fördern.
„Josef Martin sprüht auch Jahrzehnte nach seiner Gründung vor Ideen und verkörpert den Unternehmergeist des Alters par excellence.“
Die Zugabe-Jury über Josef Martin
Preisverleihung 2021
Auf den Spuren des Stifters Kurt A. Körber
Auch im dritten Jahr seiner Vergabe wurde das Besondere des Zugabe-Preises deutlich: Er geht an Menschen, die mit frischem Unternehmergeist, aber auch der Kraft ihrer gesammelten Lebenserfahrung gesellschaftliche Defizite wahrnehmen und persönlich dagegen angehen. Damit seien die Preisträger:innen ganz auf den Spuren des Unternehmers und Stifters Kurt Körber unterwegs, so Dr. Lothar Dittmer, der Vorsitzende des Vorstands der Körber-Stiftung, in seinem Grußwort.
Nichts werde besser „durch Predigen, sondern nur durch vorgelebte Taten“, hatte Körber stets betont und dabei gerade dem Unternehmertum „optimale Handlungsfähigkeit“ attestiert, aus eigener Initiative für die Gesellschaft zu wirken. Profit habe Körber nie nur ökonomisch gewertet, sondern immer auch als einen Gewinn zur Zukunftssicherung der Gesellschaft. Lothar Dittmer verwies auf diese Aussagen des Stifters und Unternehmers, die heute wie ein Motto für den Zugabe-Preis seien.