1. Preis Geistes- und Kulturwissenschaften 2023
Samira Akbarian hinterfragt die Auffassung, dass ziviler Ungehorsam Demokratie und Rechtsstaat schadet. Vielmehr kann er als Verfassungsinterpretation verstanden werden, lautet die These der Juristin.
Die Forschung
Ziviler Ungehorsam ist Ausdruck einer lebendigen Verfassung
Text: Dorthe March
Fotos: Patrick Pollmeier
Als Samira Akbarian sich für ihr Promotionsthema entschied, hatten gerade zahlreiche Aktivist:innen für den Erhalt des Hambacher Forsts demonstriert, den der Energiekonzern RWE für die Erweiterung des Braunkohle-Tagebaus so gut wie vollständig abholzen wollte. Und dieser Protest ist nur einer unter vielen der jüngsten Vergangenheit. „Bilder von besetzten Wäldern, blockierten Autobahnen oder gestürmten Regierungsgebäuden sind in den Alltag politischer Berichterstattung eingegangen. Und doch lösen sie kontinuierlich kontroverse Diskussionen aus“, beschreibt die Juristin den Hintergrund ihrer Forschung, die damals noch eine echte Leerstelle in der Wissenschaft darstellte.
„Der Ungehorsam ist eine Protestform, die eine direktdemokratische Einflussnahme ermöglicht“, erläutert Akbarian. Unter zivilem Ungehorsam versteht die Juristin zunächst ein Protesthandeln, das von einer Richtigkeitsüberzeugung getragen wird – und insofern als zivil zu verstehen ist. „Ungehorsam ist dieses Verhalten, weil es sich gegen Gesetze, Institutionen, Unternehmen oder staatliche Maßnahmen richtet und weil es – zumindest potenziell – illegal ist“, erläutert sie.
Ausgleich via Artikel 8 des Grundgesetzes
Akbarian argumentiert, dass ziviler Ungehorsam in erster Linie ein Defizit thematisiere – und zwar Mängel in repräsentativen Mehrheitsdemokratien. „Viele Bürger:innen fühlen sich nicht ausreichend wahrgenommen“, sagt sie. Als Ausgleich für solche gesellschaftlichen Ungleichgewichte gebe es die Formen der direkten Einflussnahme, die auch von der Verfassung vorgesehen sind: Artikel 8 des Grundgesetzes, der allen Deutschen die Versammlungsfreiheit garantiert.
Die Folgen dieser Privilegien sind jedoch ambivalent, fährt Akbarian fort. Auf der einen Seite stehe die Gefahr, den demokratischen Rechtsstaat zu destabilisieren. Auf der anderen Seite zeichne sich die Demokratie eben genau dadurch aus, dass ihre Bürger:innen Dissens zeigen können und das demokratische Zusammenleben immer wieder neu verhandeln und verändern können. Mit ihrer Arbeit unternehme sie den Versuch, den zivilen Ungehorsam in seiner ambivalenten Funktion für den demokratischen Rechtsstaat fruchtbar zu machen. Ihr Vorschlag: Ziviler Ungehorsam sollte als eine Form der Verfassungsinterpretation betrachtet werden.
Drei Dimensionen des Ungehorsams
Akbarian macht drei Dimensionen aus, die verschiedene Funktionen des zivilen Ungehorsams hervorheben. Aus der rechtsstaatlichen Perspektive drücke ziviler Ungehorsam Loyalität zur Verfassung aus. Als Beispiel für diese Dimension nennt Akbarian die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. „Mit Aktionen zivilen Ungehorsams machten schwarze Bürger:innen ihnen verwehrte Rechte geltend, indem sie gegen Gesetze zur Rassentrennung verstießen.“
Die demokratische Dimension zeigt auf, dass und warum ziviler Ungehorsam stören darf. „Die Bewegung Black Lives Matter verdeutlicht schon mit ihrem Namen, dass eben nicht jede Person am gesellschaftlichen Leben gleichermaßen teilhaben kann“, sagt die Juristin. Hier eröffneten störende Proteste einen Raum für notwendige Veränderungen und eine dynamische Verfassungsinterpretation.
Mit dem Luther-Zitat „Hier stehe ich und kann nicht anders“ überschreibt Akbarian schließlich die ethische Dimension des zivilen Ungehorsams – und damit die Haltung „von moralisch integren Individuen, die sich für ihre Überzeugungen einsetzen und den Mut aufbringen, die Wahrheit zu sagen“. Als Beispiele aus der Geschichte nennt Akbarian Gandhi oder Martin Luther King, heute verkörpere Greta Thunberg die ethische Dimension des zivilen Ungehorsams.
Die Verfassung scheidet Gut und Böse
Mit den skizzierten Dimensionen geht Akbarian der Frage nach, „wie politische Gemeinschaften, Gerichte, Verwaltungsbehörden und Politiker:innen, aber auch Aktivist:innen mit ihren Verantwortungslagen umgehen sollten“ – also entscheiden können, welcher Protest die Ordnung des demokratischen Rechtsstaates befördert und welcher ihr schadet.
Dafür schlägt sie ein Kriterium vor, mit dem „gute“ von „schlechten“ Interpretationen unterschieden werden können. „Verstehen wir zivilen Ungehorsam als Verfassungsinterpretation, dann eröffnet die Interpretationsseite der These die Offenheit für stetigen Wandel. Die Verfassungsseite der These gibt aber einen Rahmen vor, unter welchen Bedingungen das politische Handeln und der Konflikt über unterschiedliche Interpretationen stattfinden kann“, sagt sie. Dieser Konflikt setze einen Konsens darüber voraus, wer wie am Konflikt teilhaben kann – die Verfassung, die Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller.
„Samira Akbarian versteht in ihrer exzellenten Forschungsarbeit die Möglichkeit zum Dissens als zentrales und zukunftsweisendes Element der Demokratie.“
Dr. Elisabeth von Thadden, Mitglied der Jury
„Zweischneidige Rolle für Demokratie und Rechtsstaat“
Vor diesem Hintergrund kommt Akbarian zu dem Schluss, dass die politische Gemeinschaft der Demokratie eine Gemeinschaft ist, „die den Konflikt organisiert: den Konflikt über plurale Interessen, über die Grenzen der Gemeinschaft, über den Umgang mit Ressourcen, über die Aufteilung von Teilhabemöglichkeiten et cetera“. Die Verfassung erklärt sie zur Ordnung dieses Konflikts. „Ziviler Ungehorsam erfüllt seine zweischneidige Rolle für Demokratie und Rechtsstaat, weil er diesen Konflikt lebt.“
Akbarians Arbeit nimmt viele Aspekte aus der politischen Theorie auf, verknüpft sie mit Verfassungstheorie und wendet sie auf Rechtsfälle an. Trotzdem will die Juristin persönlich nicht darüber urteilen, welche Formen des zivilen Ungehorsams geahndet werden müssen und welche nicht. Vielmehr hofft sie, mit ihrer Grundlagenforschung eine Perspektive aufgemacht zu haben. Sie selbst wird weiterhin Fragen rund ums Versammlungsrecht und zu Kriminalisierungstendenzen bearbeiten – als Post-Doc mit dem Ziel der Habilitation.
Die Preisträgerin
Samira Akbarian (32) studierte Politik und Gesellschaft sowie Rechtswissenschaft an der Universität Bonn. Das Jura-Studium setzte sie an der Universität zu Köln fort. Zudem absolvierte sie in der Domstadt ihre beiden Juristischen Staatsexamina, bevor sie von 2018 bis 2022 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main promovierte. Heute ist sie Post-Doc an ihrer Promotionsuniversität.
Beitragstitel: Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation
Samira Akbarian
Promotion an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft