Deutschlands Sicherheit wird auch im Mathe-Unterricht verteidigt

Nora Müller, Bereichsleitung Internationale Politik, Julia André, Bereichsleitung Bildung, und Matthias Mayer, Bereichsleiter Wissenschaft, haben im Zusammenhang mit der Diskussion um Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie einen Beitrag mit dem Titel „Deutschlands Sicherheit wird auch im Mathe-Unterricht verteidigt“ verfasst. Sie sind überzeugt: Deutschlands Bildungskrise verbaut nicht nur die Zukunftschancen junger Menschen und senkt die Wirtschaftsleistung des Landes. Sie gefährdet auch die nationale Sicherheit.

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Deutschlands Sicherheit wird auch im Mathe-Unterricht verteidigt

Deutschlands Bildungskrise verbaut nicht nur die Zukunftschancen junger Menschen und senkt die Wirtschaftsleistung des Landes. Sie gefährdet auch die nationale Sicherheit.

Seit dem 24. Februar 2022 diskutieren Expert:innen, Politik und die Zivilgesellschaft in Deutschland viel über die militärische Dimension von Sicherheit. Zu Recht, denn der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europas Post-Kalte-Kriegs-Sicherheitsordnung zerstört und nur ein wehrhaftes Deutschland kann seine und die Sicherheit seiner Verbündeten angemessen verteidigen. Richtig bleibt indessen auch, dass ein moderner Sicherheitsbegriff weit über das Militärische hinausgeht. ​„Sicherheitspolitik ist mehr als Militär plus Diplomatie“, gab Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung der ersten deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie im März 2022 zu bedenken. Seltsam unterbelichtet in der aktuellen Debatte ist allerdings, dass die nationale Sicherheit auch von einem funktionierenden Bildungssystem, vor allem in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, den sogenannten MINT-Fächern, abhängt. Ja, die Sicherheit eines Landes wird auch im Mathe-Unterricht verteidigt.

„Wer mündige Bürger:innen will, der muss vor allem eines tun: in politische Bildung investieren.“

Julia André, Matthias Mayer & Nora Müller

In den USA wird schon seit geraumer Zeit über den Zusammenhang zwischen (MINT-) Bildung und nationaler Sicherheit diskutiert. Eine von dem renommierten US-Think Tank Council on Foreign Relations geförderte, unabhängige Expert:innen-Gruppe warnte bereits 2012: ​„In diesem Jahrhundert wird Humankapital der entscheidende Machtfaktor sein. Vermag Amerika es nicht, dieses Kapitel zu produzieren, ist auch seine nationale Sicherheit in Gefahr“. Die Logik der Argumentation ist ebenso einfach wie bestechend: Mangelt es an gut ausgebildeten Fachkräften, sinken wirtschaftliche Produktivität, technologische Innovationsfähigkeit und womöglich auch militärische Schlagkraft, denn moderne Armeen sind zunehmend auf Ingenieur:innen, Informatiker:innen und Programmier:innen angewiesen. Also allesamt Faktoren, die angesichts der neuen Systemkonkurrenz zwischen Demokratien und autokratisch regierten Staaten maßgeblich darüber entscheiden, wer im globalen Wettlauf zu den Siegern gehört – und wer nicht. Hinzu kommt: Nur eine aufgeklärte Öffentlichkeit ist in der Lage, mit Angriffen auf offene Gesellschaften wie Fake News und Desinformation angemessen umzugehen. Wer mündige Bürger:innen will, der muss vor allem eines tun: in politische Bildung investieren.

Mittelmaß überwinden

Und Deutschland? Die Bundesrepublik sieht sich nicht nur mit einer, sondern mit multiplen ​‚Zeitenwenden‘ konfrontiert. Hinter den oft bemühten Schlagworten ​Digitalisierung und ​Dekarbonisierung verbergen sich enorme wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Transformationsaufgaben. Daran entscheidet sich Deutschlands zukünftiger Wohlstand, aber auch seine Fähigkeit, international Einfluss auszuüben und die Sicherheit seiner Bürger:innen zu gewährleisten. Bewältigen lassen sich diese Herausforderungen nur mit einem soliden wirtschaftlichen Fundament und gut ausgebildeten, innovativen Köpfen. Doch gerade im Bildungssektor schrillen seit Jahren die Alarmglocken. Studie um Studie belegt das sinkende Leistungsniveau der Schüler:innen an deutschen Schulen. Zuletzt hat der IQB-Bildungstrend eine erschreckende Abwärtsbewegung offengelegt. Bis zu einem Drittel der Viertklässler:innen verfehlt mittlerweile die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen. In Mathematik hat sich der Anteil mit 22Prozent in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch an den weiterführenden Schulen. Gerade in den besonders innovationsrelevanten MINT-Fächern regiert das Mittelmaß. Die deutschen Schülerinnen und Schüler schneiden im OECD-Vergleich zwar noch leicht überdurchschnittlich ab. Im Vergleich mit den Spitzenleistungen ihrer Altersgenoss:innen in vielen asiatischen Ländern – allen voran China – hinken sie aber weit hinterher. Besonders besorgniserregend auch hier: die große Anzahl derjenigen, die kaum die grundlegenden Kompetenzen erreichen. In Mathematik und den Naturwissenschaften lag der Anteil dieser Risikogruppe zuletzt bei einem Fünftel, bei den digitalen Kompetenzen sogar bei einem Drittel der Schüler:innenschaft.

„Gerade in den besonders innovationsrelevanten MINT-Fächern regiert das Mittelmaß.“

Julia André, Matthias Mayer & Nora Müller

Diese nicht sehr beruhigende Diagnose setzt sich im Hochschulsektor leider fort. Nach einem gewissen Aufwärtstrend der Studienanfänger:innenzahlen in den MINT-Fächern, weist dieser zumindest in den technischen Fächern seit 2015 schon wieder nach unten. Und auch wenn die drastischen Rückgänge im Jahr 2020 sicherlich auf starke Corona-Effekt zurückzuführen sind, zeichnen sich doch mindestens zwei grundsätzlichere Probleme ab: Zum einen werden wir in den nächsten Jahren wieder mit geburtenschwächeren Jahrgängen zu rechnen haben, die die Hochschulreife erlangen – eine Trendumkehr ist hier erst wieder in den Dreißigerjahren zu erwarten. Zum anderen ist das Verhältnis von Anfänger- zu Absolvent:innenzahlen in den MINT-Fächern nach wie vor besonders prekär. Für 2020 beziffert das Institut der deutschen Wirtschaft die Wechsel- und Abbruchquote auf erschreckende 52 Prozent. Eine wesentliche Ursache hierfür ist übrigens die hohe Hürde der Mathematik, an der viele Studierende scheitern. Und angesichts dessen, dass auch in der Sicherheitspolitik Cyber-Security eine der größten Herausforderungen ist, ist es besonders besorgniserregend, dass ausgerechnet die Zahl der Lehramtsstudierenden im Fach Informatik drastisch hinter den Erwartungen zurückbleibt. Damit ist dann in einer fatalen Spirale die fehlende Ausbildungsfähigkeit der Schulen für diesen Bereich mindestens auf mittlere Frist besiegelt. Keine guten Aussichten für die Wehrbeauftragte Eva Högl, die im letzten Jahr allein über 1400 offene Feldwebelstellen für IT-Spezialist:innen vermeldete.

Zivilklausel überdenken

Neben der Lehre spielt aber an den Hochschulen, zumindest ihrem überwiegenden Selbstverständnis nach, die Forschung eine noch entscheidendere Rolle. Auch hier würde sich ein neuer und genauerer Blick auf sicherheitspolitische Aspekte lohnen. Da wäre zunächst einmal die Tatsache, dass sich eine große Zahl von Hochschulen auf Zivilklauseln verpflichtet hat, sprich ausschließlich für zivile Zwecke forschen darf. Dietrich Wörner, der Präsident der deutschen Akademie für Technikwissenschaften forderte unter dem Eindruck der russischen Invasion die Hochschulen deshalb schon auf, darüber nachzudenken, ​„ob ihre Zivilklauseln noch zeitgemäß sind oder im Verständnis einer friedlich ausgerichteten Verteidigungspolitik neu formuliert werden sollten.“ Die pauschale Ablehnung jeglicher Forschung, die militärischen Zwecken dient oder Forschung, die einen sogenannten dual useermöglicht – also sowohl ziviler als auch militärischer Nutzung dienen kann – sieht sich mit einer plötzlich existentiell gewordenen Frage konfrontiert: Ist die ​Wehrhaftigkeit der Demokratie nicht ganz unmittelbar auch auf Forschungsprojekte angewiesen, die eben diese Wehrhaftigkeit auch zukünftig garantieren werden? Dass sich dabei Kriegs- und Verteidigungsforschung kaum säuberlich voneinander trennen lassen, ist nur eines jener unbequemen Dilemmata, vor denen wir jetzt realpolitisch plötzlich stehen. Grund genug also, im Hinblick auf die Bildung unter dem Signum der ​Zeitenwende nicht nur die MINT-Fächer, sondern ebenso auch die Orientierungswissenschaften im Blick zu behalten.

Kernpunkte:

Das sinkende Niveau an deutschen Schulen und Universitäten, besonders in den MINT-Fächern, gefährdet langfristig die nationale Sicherheit.

Deutsche Forschungsinstitutionen sollten überdenken, wie zeitgemäß die Zivilklausel noch ist.

Deutschlands Bildungskrise setzt nicht nur die Zukunftschancen junger Menschen und die wirtschaftliche Prosperität des Landes aufs Spiel. In letzter Konsequenz gefährdet sie auch seine nationale Sicherheit. Dieser Zusammenhang verdient mehr Beachtung – auch und vor allem wenn die Bundesregierung in wenigen Wochen Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie vorstellt.