Ukraine: Eine Nation unter Beschuss

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

  • History
  • Ukraine
  • 45 min.
  • 41. episode

Was hat der russische Angriff auf die Ukraine mit der imperialen Vergangenheit Russlands zu tun? Was sind die zentralen Bestandteile der ukrainischen nationalen Identität? Was ist der Antrieb für die enorme Widerstandskraft dieses europäischen Landes? Und welches Bild haben wir in Deutschland von der Ukraine beziehungsweise wodurch ist dieses Bild entstanden? Darüber sprachen wir mit der Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) Gwendolyn Sasse.

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„Diese Idee der Unabhängigkeit, die sich in diesem Staatsgebiet heute seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeigt, die bedingt auch eine Geschichtsschreibung der Verflechtungen in verschiedene Richtungen, in verschiedenen Grenzregionen der Ukraine. All das stellt nicht den heutigen Staat infrage, aber gibt den Anknüpfungspunkt für eine komplexere und zeitgemäßere Auffassung von Geschichte.“

Gwendolyn Sasse

Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)

Weiterführende Informationen

  • Hier finden Sie weitere Folgen unserer Podcast-Reihe “Das Imperium schlägt zurück”.
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Weiterführende Informationen zu dieser Podcast-Folge

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von History and Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Mein Name ist Gabriele Woidelko und ich leite in der Stiftung unseren Bereich Geschichte und Politik. Auch heute sprechen wir wieder mit einem Gast darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt.

Im Zentrum der heutigen Folge steht die Ukraine. Das Land, das seit Februar 2022 von seinem Nachbarn Russland überfallen und systematisch zerstört wird. Das Land, dem der russische Präsident Vladimir Putin und diejenigen, die in Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen, das Existenzrecht als eigenständige Nation aberkennen. Und das Land, dass sich nur verstehen lässt, wenn wir es unter der Perspektive von Vielfalt und Verflechtungsgeschichte betrachten.

Diese History & Politics Folge soll helfen, die Ukraine und ihre facettenreiche Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen: Was hat der russische Angriff auf die Ukraine mit der imperialen Vergangenheit Russlands zu tun? Was sind die zentralen Bestandteile der ukrainischen nationalen Identität? Was ist der Antrieb für die enorme Widerstandskraft dieses europäischen Landes? Und welches Bild haben wir in Deutschland von der Ukraine beziehungsweise wodurch ist dieses Bild entstanden? Im Rahmen unserer Podcast-Reihe „Das Imperium schlägt zurück“ habe ich darüber mit Gwendolyn Sasse gesprochen.

Gwendolyn Sasse ist Politikwissenschaftlerin und Slawistin. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin, seit 2021 darüber hinaus Einstein-Professorin für vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Gwendolyn Sasse beschäftigt sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit vor allem mit den Rahmenbedingungen gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderungsprozesse in Osteuropa, ihr besonderes Augenmerk gilt dabei der Ukraine. Gerade ist ihr aktuelles Buch „Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen“ erschienen.

Gabriele Woidelko: Liebe Frau Sasse, herzlich willkommen zum History and Politics Podcast der Körber-Stiftung.

Gwendolyn Sasse: Ich freue mich, dabei zu sein.

Frau Sasse, wir hören und lesen in den Medien – wir nehmen diesen Podcast Anfang Oktober 2022 auf – dass wir jetzt schon sieben Monate in diesem Krieg sind, den Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat. Ich wollte Sie trotzdem fragen, wann hat dieser Krieg angefangen?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Der Krieg hat eben nicht am 24.02.2022 angefangen, sondern 2014, als Russland die Krim annektiert hat und das sehe ich als die erste Phase dieses Krieges. Dann ging es mit dem Krieg im Donbas, in dem Russland ganz massiv lokale separatistische Bewegungen unterstützt hat, in die zweite Kriegsphase. Was wir seit der Invasion im Februar dieses Jahres sehen ist die dritte Kriegsphase.

Das bedeutet, wir haben nicht nur in unserer Wahrnehmung, sondern auch in unserem Sprechen über den Krieg einen Fehler begangen oder wir begehen einen Fehler, indem wir davon reden, dass der Krieg erst seit Februar stattfindet oder verstehe ich Sie da richtig?

Ja genau. Wir sagen immer wieder, der Krieg seit Februar 2022 und es ist wichtig, die Invasion aus verschiedenen Richtungen, den Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine in einen größeren Kontext einzuordnen. Das sehen wir heute klarer, aber es war schon 2014 ganz klar zu sehen, dass die Annexion eines Territoriums gegen das internationale Recht verstößt und ein Kriegsakt ist. Genauso ist Russlands Rolle im Donbas-Krieg keine verdeckte, sondern eine ganz offene finanzielle militärische Unterstützung gewesen und es ist ein Krieg. Es wirkte im Westen nicht wie ein Krieg sondern wie ein Konflikt – das klingt immer schon etwas weniger ausufernd – der an kleinen und unbedeutenden Orten stattfindet. Erst mit der Invasion in die gesamte Ukraine und die Anschläge auf Städte in der Westukraine, wird dann vollends klar, worum es geht. Natürlich sind die Annexion und der Krieg im Donbas, schon Kriegsakte.

Lassen Sie uns ein bisschen in die Gründe des Krieges gucken, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat. Es heißt oft, dass zumindest in der Motivation des russischen Präsidenten Vladimir Putin der Zerfall der Sowjetunion eine ganz große Rolle spiele. Nun haben wir aber auch gehört und gelesen über die sogenannte historische Einheit zwischen der Ukraine und Russland, zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk, in den Aufsätzen und Reden, die der russische Präsident selbst geschrieben hat, um diesen Krieg geschichtspolitisch zu untermauern. Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Motiv für diesen Krieg aus russischer Perspektive? Sowohl geschichtspolitisch als auch politisch?

Sie betonen zurecht die Schlüsselrolle Vladimir Putins, und seiner eigenen Darstellung, einer Vorstellung von einer Einheit der russischen und ukrainischen Nation. Man müsste sagen, es geht nicht mehr um die Einheit, sondern es geht darum, die ukrainische Nation als unabhängige Nation auszulöschen und unter dem Begriff des russischen Volkes zu subsumieren. Zugleich ist es zu einfach, den Krieg auf die Rolle Putins und diesen Blick auf die Ukraine, auf diese Einheit oder dargestellte kulturelle politische Einheit Russlands und der Ukraine zu reduzieren. Es gehören verschiedene Entwicklungen dazu und dann ist Putin der entscheidende Katalysator, der diese Entwicklungen wirklich zu diesem Krieg eskalieren lässt. Ich denke, ganz zentral ist die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher politischer Modelle, dass in Russland seit vielen Jahren unter Putin eine zunehmende Autokratisierung stattgefunden hat. Hier ist es ein autoritäres System, das mehr und mehr am eigenen Selbsterhalt arbeiten muss oder musste. Zu diesem autoritären System gehören die imperialen Machtansprüche, die Putin in seiner eigenen Darstellung klar formuliert. Das ist ein essenzieller Teil dieses autoritären Systems. Man will verhindern, dass sich ein alternatives politisches Modell ausbreitet, nämlich das, was die Ukraine gewählt hat, eine Demokratie und eine Westanbindung, eine Westanbindung an Institutionen des Westens, aber vor allem eine Anbindung an die Werte, die mit dem Westen verbunden werden und mit der Idee der Demokratie. Dagegen richtet sich dieser Krieg, man will das Risiko, dass so etwas auf Russland überschwappen könnte, eindämmen. Man hat diesen Moment und Vladimir Putin hat diesen Moment genutzt, wo er dachte, er agiert noch aus einer Stärke heraus.

Sie haben, das fand ich ganz interessant, das alternative politische Modell erwähnt, die starke Westbindung der Ukraine, die starke Nähe zu Europa. Das bringt mich wieder zurück zum Zerfall der Sowjetunion und zur Rolle der Ukraine in diesem Zerfall, weil, wenn ich es richtig wahrnehme, die Ukraine ja schon sehr früh nach 1991 genau diese Bestrebungen in Richtung eines demokratischen Umbruchs deutlich gemacht hat. Ist da doch was dran, dass man diese Periode nach 91 sehr genau in den Blick nehmen muss, wenn man verstehen will, was diesen Krieg heute antreibt und was auch die Ukraine in ihrem Widerstand antreibt?

Auf jeden Fall. Ich sehe diesen Krieg als eine direkte Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, das ist eine der Spätfolgen. Es hat vor 1991 begonnen, wenn wir darauf schauen, dass es in der Ukraine im Vorlauf Bewegungen, Bestrebungen für Unabhängigkeit gab. Es gab schon eine demokratische Bewegung in der Ukraine, das gab es nicht in allen früheren Sowjetrepubliken. Es verbannt sich unter anderem mit der Tschernobyl-Reaktorkatastrophe 1986. Von der Ukraine, also von der ukrainischen Sowjetrepublik gingen zu diesem Zeitpunkt auch schon wichtige Impulse auf andere Teile der Sowjetunion aus, ebenso wie vom Baltikum. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine ist dann das Ende der Sowjetunion vorprogrammiert. Als nach dem Augustputsch die ukrainische politische Führung noch innerhalb der Sowjetunion zuerst auf das Unabhängigkeitsreferendum und dann auf die erste Präsidentschaftswahl schon im Dezember 1991 hinwirkt, ist es eine Frage von Tagen und Wochen, bis die Sowjetunion zerfällt. Das heißt, es ist ein wichtiger Moment in der Bewegung hin zum Zusammenbruch der Sowjetunion und auf dieser Grundlage wird dann aufgebaut. In diesem Referendum hatte sich die Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Also ein wichtiges Instrument, um das von Anfang an zu legitimieren. Es kommt auch zu einer Mehrheitsentscheidung in allen Regionen der damals noch bestehenden ukrainischen Sowjetrepublik, auch auf der Krim., zwar mit weniger Zuspruch als in anderen Regionen, aber immerhin mit einer Mehrheit von ungefähr 54 Prozent. Auf diesem Votum aufbauend wird ein inklusiver ukrainischer Staat gebaut. Man gibt allen Menschen, die auf dem Territorium der Ukraine leben, die Staatsbürgerschaft. Das ist nicht an andere Kriterien gekoppelt und das setzt auch ein wichtiges Signal. Seitdem geht es mal zwei Schritte voran und auch wieder zurück, das ist kein einfacher demokratischer Reformprozess gewesen, auch kein einfacher und kein abgeschlossener wirtschaftlicher Reformprozess, aber es geht Stück für Stück in diese Richtung.

Wie würden Sie die wichtigsten Etappen des ukrainischen, nennen wir es mal, Nationbuilding oder der ukrainischen Nationsbildung nach 91 skizzieren oder welche dieser Etappen sind besonders wichtig, um heute die Situation der Ukraine, die Widerstandskraft und die Aggression Russlands zu verstehen?

Man ist zunächst versucht, insbesondere aus politikwissenschaftlicher Perspektive, das an verschiedenen Präsidenten und an den politischen Institutionen festzumachen. An den Präsidenten und ihrer Abfolge lässt sich auch ein außenpolitischer Kurs und ein Trend zu mehr zumindest halbautoritären Regierungsformen und dann wieder Demokratisierungsschübe festmachen. Ich halte die gesellschaftliche Dynamik insgesamt für wichtiger und ausschlaggebender und die sehen wir auch in diesem Krieg. Sie erklärt meines Erachtens einen Großteil dieser Widerstandskraft, sowohl der militärischen Widerstandskraft aber auch der zivilen Widerstandskraft. Ich würde deshalb vor allem auf Momente der Massenmobilisierung, der Massenproteste, die es in der Ukraine mehrfach gegeben hat, hinweisen. Damit geht es schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion los. Unter Präsident Leonid Kutschma, der, soweit es die Verfassung erlaubt hat, recht autoritär regiert hat, gab es Proteste gegen ihn Anfang der 2000er, dann insbesondere die orangene Revolution 2004 und der Euromaidan 2013/14. Das eine hat sich 2004 an einer gefälschten Wahl entzündet und 2013/14 stand als Auslöser die späte Entscheidung des damaligen Präsidenten Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht zu unterschreiben, im Mittelpunkt. Daran haben sich aber jedes Mal mehrere Themen und auch mehr Unzufriedenheit im Land festgemacht. Zum Beispiel ging es 2013/14 nicht nur um dieses Abkommen, obwohl das ein wichtiges Element ist, aber mit einer engeren Anbindung an die EU gehen auch Erwartungen und Hoffnungen, zum Beispiel was die eigenen Lebensstandards angeht, einher. Vor allem ist die Wahrnehmung einer korrupten Regierung sehr wichtig gewesen. Das war sowohl im Osten und im Süden des Landes als auch im Westen und in Kiew der Fall. Man denkt heute im Rückblick manchmal, das war eine Bewegung, die sich auf Kiew und vielleicht die Westukraine konzentriert hat, da haben wir die größten Proteste gesehen, aber der damalige Präsident war genauso unpopulär im Südosten zu dem Zeitpunkt wie im Westen oder eben in der Hauptstadt Kiew. Von daher sind diese Zyklen, wo wirklich hunderttausende von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft protestiert haben, generell schon ein sehr seltenes Ereignis. Wenn es aber mehrmals passiert und auch aufbauend auf vorherigen Wellen, baut das zum einen Hoffnungen, eine gewisse Übung in dieser Art des Protests, und natürlich auch Enttäuschungen, die danach kommen, auf. Das hat diesen Willen der Bevölkerung für den ukrainischen Staat, für die ukrainische Nation in einer inklusiven Definition dieser Nation einzustehen gestärkt, hat eine starke Zivilgesellschaft mitbegründet und die kann jetzt in einem Krieg sozusagen umgepolt, umgelenkt werden und hat zu dem Engagement in verschiedene Feldern geführt, sei es in den territorialen Verteidigungseinheiten, sei es in der ukrainischen Armee oder sei es in ganz vielen zivilen Versuchen, die Folgen dieses Angriffskrieges für die Bevölkerung zu mildern oder den Wiederaufbau von Infrastruktur. Die Reihe an Beispielen, die man geben kann, ist lang.

Finde ich ganz spannend, Sie haben diese Momente der Massenmobilisierung noch mal erklärt, die verschiedenen Etappen. Sie haben gesagt, es war immer verbunden mit einem Signal in Richtung Europa, wir gehören dazu. Es war sehr pro europäisch. Ich würde den Spieß jetzt mal umdrehen und fragen wollen, war denn die Reaktion der europäischen Union oder die Reaktion des Westens auf diese Massenmobilisierung angemessen? Also dem Wunsch, dem starken Wunsch der Ukraine, sich als europäisch, im Kern europäisch zu definieren. Sind wir, sind wir der Westen, die EU, sind wir dem ausreichend begegnet?

Nun ist es aus der Perspektive der EU verständlich, dass man schrittweise und auch zögerlich über EU-Erweiterung nachdenkt. Die Ukraine hat in der Tat die EU mehrfach durch diese Massenmobilisierungen unter Druck gesetzt. Die EU hat dann das getan, was sie immer tut, sie versucht, ihren bestehenden Prozess etwas anzupassen, die Ukraine wurde etwas hervorgehoben, bekam mehr Unterstützung, konnte sich schneller in einzelne Teile des Binnenmarktes integrieren und so weiter. Man ist aber nicht diesen nächsten Schritt gegangen, dazu hat es jetzt erst den großen Angriffskrieg auf die Ukraine gebraucht, zu beschließen, der EU diesen Kandidatenstatus zu geben. Ich denke, man sollte es nicht auf die Frage, EU-Mitgliedschaft oder nicht, verengen. Dazu muss ein Land selbst viel tun und ein Reformprozess läuft ja auch noch. Aber vor allem, denke ich, hat die EU, haben auch Gesellschaften in Westeuropa, in Südeuropa, in Nordeuropa die Ukraine überhaupt nicht richtig wahrgenommen. Es ist eher auf der Ebene der Wahrnehmungen, wie man über Ost- und Ostmitteleuropa nachdenkt. Die EU-Osterweiterung war ein Teil davon. Da hat man akzeptiert, ein Teil Ostmitteleuropas ist innerhalb der EU. Da wird vielleicht nicht immer so differenziert in der öffentlichen Wahrnehmung hingeschaut, aber was darüber hinausgeht, das ist weitgehend unbekannt. Das sehen wir jetzt in einer Extremsituation, wie wenig Wissen und überhaupt wie wenig Wahrnehmung von der Ukraine überhaupt vorhanden ist.

Nun könnte man ein bisschen zugespitzt formulieren, dass das, was Sie beschreiben, nämlich dieser sehr eingeschränkte Blick auf die Ukraine, auch die eingeschränkte Wahrnehmung, Teil oder eine Folge des russischen imperialen Blicks und Narratives ist. Zugespitzt formuliert, ist es der russische Blick, der unseren Blick auf die Ukraine lange Zeit geprägt hat? Könnten Sie das so unterschreiben?

Ich glaube, da ist die Kausalität in eine Richtung vielleicht zu eindeutig formuliert. Ich würde sagen, es kommt aus zwei Richtungen und es trifft sich. Dann gibt es auch die Quellen, über die genau die russische Perspektive verbreitet wird und die verfängt auch. Es kommt aus zwei Richtungen. Natürlich ist es das russische Narrativ, aber aus westlicher Perspektive oder auch westeuropäischer Perspektive, insbesondere in Deutschland würde ich sagen, ist die Sowjetunion als Russland weitergedacht worden und dann blieb auch wieder nicht viel Platz für die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Wir sehen es auch in unserem Sprachgebrauch, wenn wir immer vom postsowjetischen Raum gesprochen haben, dann verschwindet alles hinter dieser Vorstellung, es gab die Sowjetunion und dann fehlt nicht viel, um das als Russland irgendwie weiterzudenken. Das hat nicht nur mit Russlands Narrativ oder auch mit Desinformation zu tun, sondern mit unserem Blick auf die Geschichte und was ausgeblendet wird.

Könnte man jetzt sagen, dass mit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat im Februar, auch dieses postsowjetische Zeitalter, die postsowjetische Epoche endgültig zum Ende gekommen ist?

Ja, die Epoche war vorher schon zu Ende gegangen, aber jetzt ist uns hoffentlich allen klar, dass dieser Begriff nicht viel taugt und wir ihn auch so nicht mehr verwenden sollten und dass man genau das benennen sollte, auf was man guckt, entweder ist es ein Land wie die Ukraine oder Moldau oder Georgien oder man benennt das Thema, auf das man sich konzentriert. Aber man sollte nicht immer von diesem postsowjetischen Zusammenhang sprechen. Das soll nicht heißen, dass keine Hinterlassenschaften aus dieser Zeit nachwirken. Aber es muss gelingen, einen differenzierteren Blick zu entwickeln und es nicht dem immer unterzuordnen, sondern genau zu überlegen und zu erforschen, was sind gewisse Hinterlassenschaften, die nachwirken und was sind aber längst schon andere Hinterlassenschaften der über 30 Jahre Transformation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Jetzt stehen wir wieder an einer Zäsur, die noch mal viel verändert.

Dann gucken wir mal ein bisschen genauer hinein in die Ukraine und vor allen Dingen in die Diskurse über die nationale Geschichte, die in engem Zusammenhang zu der russischen Aggression oder zu der Transformation nach 91 stehen. Was würden Sie sagen, welche Rolle oder welche Elemente der ukrainischen Geschichte sind besonders bedeutsam, wenn es um die Herausbildung des ukrainischen, sagen wir es mal, nationalen Selbstverständnisses in den letzten 20 Jahren angeht oder wenn es darum geht.

Zunächst einmal ist die Ukraine nicht so anders. Die meisten Staaten bauen sich eine Geschichtsschreibung, die linearer aussieht als sie ist. Im Fall der Ukraine ist seit 1991 auch selbst von ukrainischen und ukrainisch stämmigen HistorikerInnen oft die Frage so provokant gestellt worden, hat die Ukraine eine Geschichte? Damit meint man nicht, dass sie keine Geschichte hat, das hat sie auf jeden Fall, aber hat sie sozusagen genug Staatlichkeit in ihrer Geschichte nachzuweisen, so dass man dort eine Kontinuität aufzeigen könnte. Davon hängt heute sehr wenig ab. Es gibt einen ukrainischen Staat und das ist die Grundlage. Es gibt in der ukrainischen Geschichte nur wenige Bezugspunkte auf kurze Phasen der Unabhängigkeit oder der staatlichen Unabhängigkeit. Es gibt natürlich auch Versuche, bis zur Kiewer Rus zurückzugehen und dann eine Kontinuität aufzuzeigen und wie gesagt, da ist die Ukraine auf keinen Fall der einzige Staat, der das versucht. Man kann an Elemente von Staatlichkeit anknüpfen, von Unabhängigkeit und würde vor allem auf die Zeit um das Ende des Ersten Weltkriegs und dann die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg schauen, also die Zeit zwischen 1917 und 1920. Das ist eine kurze Zeit und findet auch nicht im heutigen Staatsgebiet der Ukraine insgesamt statt. Das heißt, das ist ein wichtiger Punkt, der auf verschiedene Weise entweder etwas zu linear gedacht wird, aber dann doch auch in einer kritischen Diskussion die Geschichtsdiskurse seit 91 stark prägt. Es gibt einzelne Momente der Geschichte, die bewusst und auch zurecht in den Mittelpunkt gerückt wurden. Ein Schlüsselereignis ist die künstlich herbeigeführte Hungersnot Anfang der 1930er Jahre unter Stalin, der Holodomor, der auch in unserer Wahrnehmung erst in den letzten Jahren durch die produktive Geschichtsforschung in der Ukraine auftauchte. Dann wurde die Hungersnot auch international mehr in den Blick genommen und das ist auf jeden Fall ein sehr wichtiges Schlüsselelement der Geschichte, nicht nur der ukrainischen, auch der sowjetisch-ukrainischen Geschichte, auf das Bezug genommen wird.

Andere Bezüge zum Zweiten Weltkrieg sind durchaus kontrovers, auch in der Ukraine, diskutiert worden und werden weiterhin diskutiert, insbesondere die Zeit des Zweiten Weltkriegs, wo die Ukraine keine guten Auswahlmöglichkeiten hatte. Zum einen vis à vis Moskau und der Sowjetunion und andererseits gegenüber Nazideutschland. Das ist eine komplexe Geschichte, die häufig auch in der Außenwahrnehmung verkürzt wird. Das sind vielleicht Schlüsselmomente, aber diese Idee der Unabhängigkeit, die sich in diesem Staatsgebiet heute seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeigt, die bedingt auch eine Geschichtsschreibung der Verflechtungen in verschiedene Richtungen, in verschiedenen Grenzregionen der Ukraine. All das stellt nicht den heutigen Staat infrage, aber gibt den Anknüpfungspunkt für eine komplexere und zeitgemäßere Auffassung von Geschichte und das wird ganz aktiv auch in der Ukraine betrieben. Man darf die Ukraine nicht festschreiben auf eine zu lineare und auf Momente der Unabhängigkeit reduzierte Geschichte.

In Ihrem Buch, was jetzt im Oktober erscheint, schreiben Sie, dass man die ukrainische Geschichte und Gegenwart nur verstehen kann, wenn man dieses Land unter der Perspektive der Verflechtungsgeschichte anschaut. Sie haben eben selbst von Verflechtungsgeschichte gesprochen. Vielleicht können wir darüber noch einen Moment sprechen. Die Verflechtungsgeschichte hat ja nicht nur zu tun mit der Periode seit dem frühen 20. Jahrhundert, die Sie eben skizziert haben, sondern hat vor allen Dingen auch damit zu tun, dass die Ukraine oder das Staatsgebiet der heutigen Ukraine lange Zeit von unterschiedlichen Imperien geprägt war: Vom Habsburger Reich, vom osmanischen Reich, vom zaristischen Russland. Inwieweit ist dieses imperiale Erbe des 18. und 19. Jahrhunderts auch prägend für diese inklusive Identität, die Sie beschrieben haben, die die Ukraine heute prägt.

Ich denke, das ist ein ganz wichtiges Element, dass die Geschichte der Ukraine geprägt hat. Auch da ist die Ukraine wieder kein Einzelfall, aber wir sehen es sehr deutlich am Beispiel der Ukraine, dass verschiedene Imperien zu verschiedenen Zeitpunkten oder in verschiedenen Epochen die Ukraine geprägt haben und sich diese Auswirkungen heute überlappen. Natürlich kann man sich auch aus der Geschichte und diesen Bezugspunkten etwas herausgreifen und ein Imperium oder überhaupt Geschichte, Hinterlassenschaften wirken nicht automatisch. Sie müssen immer aktiviert werden und es braucht Akteure, die ganz bewusst diesen Zusammenhang herstellen. Ansonsten wäre es zu einfach zu sagen, nur weil es Teil eines Imperiums war, wirkt das nach. Es ist wie generell bei Hinterlassenschaften, die müssen aktiviert werden.

Da gibt es in der Ukraine ganz viele Anknüpfungspunkte und es geht auf jeden vor das 20. Jahrhundert zurück. Wir sehen es zum einen in Russlands Argumentation heute, dass wir beim russischen Zarenreich sind und dass die Bezüge und die Kontinuitäten in diese Richtung gedacht werden und der Anspruch aus dieser Zeit abgeleitet wird. Aber wir sehen sowohl in der Ukraine als auch in anderen Teilen Ostmitteleuropas Bezüge auf das Habsburger Reich und auch diese werden zum Teil selektiv erinnert oder benutzt und es könnte zum Teil auch einer Unterfütterung der Westorientierung und eines besseren lokalen Verständnisses von zumindest protodemokratischen Formen sein, also man kann auch schnell etwas zu ideal darstellen. Diese Auswirkungen gibt es, die können aktiviert werden und vor allem zeigt es, dass die Ukraine nicht, wie es aus dem russischen Narrativ herausklingt, immer dem russischen Imperium untergeordnet war und alles schon immer russisch war. Ganz extrem ist die Argumentation auf der Krim vorhanden und verfängt auch bei uns, weil wir andere Dinge wie das Osmanische Reich, das Krimkhanat gar nicht so genau kennen oder nicht in den Blick nehmen. Das ist, glaube ich, das Wichtige, zu sehen, dass diese verschiedenen Imperien verschiedene Teile der Ukraine geprägt haben und aus all diesen Zeiten gibt es Hinterlassenschaften, die nachwirken können.

Lassen Sie uns noch mal einen Moment über den Mythos Krim sprechen. Das passt jetzt ganz gut, Sie haben es eben selbst angesprochen. Der Krieg, haben wir vorhin gesagt, hat schon 2014 begonnen mit der Annexion der Krim. Es gibt dieses russische Narrativ von der Krim, die immer russisch war und die zu Russland gehört, das verfängt auch bei uns. Wie schätzen Sie die Bedeutung der Krim sozusagen aus ukrainischer Sicht ein, in der aktuellen Situation, in dem Konflikt mit Russland, also was bedeutet die Krim für die Ukraine?

Das hat sich über die Zeit hinweg verändert. 1991 hat man sozusagen die Krim als Teil des neuen ukrainisches Staates erst entdeckt. Zu Sowjetzeiten hat das wenig oder weniger bedeutet. Die Krim gehörte seit 1954 zur ukrainischen Sowjetrepublik. Es war eine Grenzverschiebung sowjetischer Art, aber schon damals mit zumindest etwas mehr Bedeutung als an anderen Orten, wo Grenzen auch regelmäßig verschoben wurden. Dennoch ist es in der Praxis und insbesondere in der russischen Sowjetrepublik erst um 1991 herum, etwas vorher und dann vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wirklich ins Bewusstsein gedrungen, was das heißt. Also dass die Krim, die sich aus russischer Sicht mit all ihrer Symbolik, mit historischen Ereignissen, meistens verlustreichen Kriegen, insbesondere dem Krim-Krieg, aber doch mit einer Symbolik aufgeladen sind, die eng mit der Identität des Russischen Reiches und einer russischen Identität verwoben war. Das hat zu Konfliktpotenzial geführt. In den 1990ern, wo dieses Konfliktpotenzial hätte aufbrechen können, ist es durch verschiedene Faktoren, auch durch die Art, wie Kiew die Beziehung zur Krim, also mit Simferopol insbesondere, gemanagt hat, entschärft worden. Man hat es geschafft, einen politischen Aushandlungsprozess in Gang zu setzen, der in einem sehr schwachen, aber immerhin in der Verfassung verankerten Autonomiestatus der Krim gemündet ist. Die Krim ist weiterhin russischsprachig geblieben, aber auf der Krim, wie auch in anderen Teilen des Südostens der Ukraine, macht sich eine Identität, die auf den Staat gemünzt ist, nicht an Sprache fest. Das wird von außen häufig falsch eingeschätzt. Die Krim hat sich politisch genauso verhalten wie andere Teile des Südostens der Ukraine. Man kann auch im Rückblick sagen, dass die Krim nicht immer die entwicklungspolitische Priorität Kiews gewesen ist. Auch die Krimtataren haben ihren Status als indigenes Volk erst jetzt nach dem Beginn des Angriffskrieges offiziell erhalten. Das heißt, das war nicht immer eine Priorität, man hat gedacht, das Thema sei abgeschlossen. Zugleich muss man betonen und das wird von Russland anders dargestellt und häufig bei uns missverstanden, 2014 oder vor 2014, vor der Annexion, gab es keine Mobilisierung auf der Krim für einen Anschluss an Russland oder überhaupt irgendeine Mobilisierung für mehr Autonomie. Man hatte sich also in diesem Staat eingefunden. Das ist ganz wichtig, denn das wird anders dargestellt und verwischt in unserer Erinnerung an diese Annexion.

Das bedeutet, wenn ich Sie richtig verstehe, nicht nur mit Blick auf die Krim, sondern mit Blick auf die gesamte Ukraine ist dieses Narrativ, was wir auch hier in Deutschland lange Zeit bedient haben, von der Spaltung der Ukraine zwischen Osten und Westen oder zwischen verschiedenen angeblich pro-russischen Bevölkerungsgruppen und pro ukrainischen und pro- europäischen Bevölkerungsgruppen, die sich auch, aber nicht nur, an Sprachlichkeit festmacht, ein großes Missverständnis?

Ja, zu großen Teilen. In dieser Fokussierung auf Ethnizität und Sprache spiegelt sich auch unser Blick auf Osteuropa wider. Warum suchen wir vor allem nach diesen ethnischen und sprachlichen Trennlinien? Diesen Maßstab legen wir nicht überall an. Da wirken auf jeden Fall auch koloniale Perspektiven bei uns nach. Die Ukraine ist ein sehr diverses Land, was sich, wie wir schon besprochen hatten, insbesondere aus dieser Geschichte ableitet, dass sie von verschiedenen Imperien geprägt war, viele Grenzverschiebungen erlebt hat, viele Völker entweder durch das Gebiet, wie auf der Krim, durchgezogen sind, aber sich auch angesiedelt haben, es gab Bevölkerungsverschiebungen. All das gab es, das heißt, die Ukraine ist ein regional sehr diverses Land und ja, es gibt russischsprachige Menschen in der Ukraine, es gibt Menschen mit russischem ethnischem Hintergrund. Viele haben aber auch einen gemischten ethnischen Hintergrund. Diese Mischkategorien, auch die Kategorie der Bilingualität ist häufig nicht erfasst worden. Wenn wir zurückgehen, wie in einer Volksbefragung, im Zensus, Sprache und Ethnizität erfasst wird, dann vermittelt das zunächst einen Eindruck von eindeutigen Kategorien. Aber zum einen sind sie nicht so eindeutig und waren es auch seit 1991 nicht, viele Leute sprechen beide Sprachen, dieser Trend hat zugenommen über die Jahre im Südosten der Ukraine, im Westen spricht man vor allem ukrainisch. Mit diesen sprachlichen und kulturellen Unterschieden hat sich aber auf keinen Fall ganz eindeutig eine politische Identität verbunden. Wenn man dann auf Wahlkarten schaut, hat man bei vielen Wahlen, die Präsidentschaftswahlen sind immer so der einfachste Einblick, bei Parlamentswahlen ist es schon etwas komplexer, da sieht man eine Ost-West- Spaltung der Ukraine bis hin zur 2019-Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten, da bricht das völlig zusammen diese Ost-West-Spaltung. Diese Spaltung ist nicht deckungsgleich mit russischsprachigen ukrainischen Staatsbürgern, Staatsbürgerinnen oder eben einer Sprachpraxis, sondern sie drückt vor allem auch sozioökonomische Unterschiede zwischen den Regionen aus. Politische Eliten im Südosten der Ukraine haben in Wahlen auch die Sprachenfrage bemüht, aber eigentlich ging es ihnen hauptsächlich um wirtschaftliche Interessen und auch Sorgen der Bevölkerung, die sich in Umfragen durchaus widerspiegeln, auch größere Sorgen im Südosten über eine Annäherung an die EU sind, wenn man genauer hinschaut, eher sozialer und wirtschaftlicher Art. Das heißt nicht, dass sie gleichbedeutend sind mit einer proaktiven Orientierung gen Russland, dass man Teil Russlands sein wollte oder nur Beziehungen in diese Richtung haben wollte. Das heißt, es braucht wirklich einen differenzierteren Blick und die Zuschreibung von Konflikt, der auf Ethnizität oder Sprachen, sprachlichen Unterschieden oder bilingualer Realität fußt, greift viel zu kurz.

Wir haben am Anfang unseres Gespräches schon ein bisschen darüber geredet, wie sehr sich die Menschen in der Ukraine identifizieren mit ihrem Land, was zu einer großen Widerstandsfähigkeit, Widerstandskraft, und auch Mobilisierung in Zeiten des Krieges führt. Wie würden Sie die Identität der Ukrainerinnen und Ukrainer skizzieren? In Ihrem Buch schreiben Sie von der staatsbürgerlichen Identität. Dieses Staatsbürgertum ist das, was die Bindekraft in der Ukraine hat?

Ja, so sehe ich das. Das beginnt 1991 mit einer wirklich inklusiven Definition, wer ukrainischer Staatsbürger, ukrainische Staatsbürgerin werden kann, nämlich alle, die auf dem Territorium gelebt haben. Das haben andere ehemalige Sowjetrepubliken anders gemacht, haben andere Kriterien eingefügt, insbesondere Sprachkriterien oder eine gewisse Zeit auf dem Territorium gelebt zu haben war ein Kriterium. Aber hier eben nicht, es geht also inklusiv los. Man hat eine Sprachenpolitik bewusst nicht forciert, hat mit dieser Bilingualität und einer russischen Sprachrealität gelebt. Man hat nicht versucht, das zu begrenzen. Sprachgesetzgebung kommt später und es gibt einen Trend zur Stärkung der ukrainischen Sprache als der einzigen Staatssprache. Dieser Prozess läuft und der hat sich fortgesetzt und beschleunigt sich jetzt im Krieg, auch durch eine Entscheidung, wir wissen noch nicht genau wie groß der Trend ist, dass mehr Leute, die in ihrem Alltag mehr oder nur russisch gesprochen haben, umsteigen auf das ganz bewusst Ukrainische. Der Grundgedanke ist das Festmachen an einer Staatsbürgerschaft, also Staatsbürger oder Staatsbürgerin zu sein und da ist es egal, welche Sprache man spricht oder welcher Ethnizität man ist. Das ist meiner Ansicht nach das wichtigste Element der Identität. Das ist über den Zeitraum seit 1991 und durch die Massenmobilisierung gewachsen und, danach fragten Sie vorhin kurz, auch ganz konkret durch Russlands Aggressionen weiter gestärkt worden. Dieser Tage hört man häufig, dass sich seit Februar 2022 vor unseren Augen die ukrainische Nation konstituiere. Dem würde ich widersprechen, die gab es vorher, auch in diesem Verständnis einer Staatsnation. Natürlich hat 2014 die Krim-Annexion, der Donbas-Krieg und insbesondere die Invasion dieses Gefühl nur stärken können.

Lassen Sie uns noch mal kurz den Blick wegnehmen, also die Innenperspektive der Ukraine verlassen und noch mal nach Deutschland schwenken, in unserer Betrachtung. Wir haben kurz angesprochen, dass es sehr viele nebulöse und manchmal auch Fehlwahrnehmungen gab, was die Ukraine betrifft, hier bei uns in Deutschland. Was würden Sie sagen, was sind nach wie vor die größten blinden Flecken in unserer Wahrnehmung, in unserem Reden und Denken über die Ukraine und welche blinden Flecken müssen ganz schleunigst beseitigt werden?

Ja, wenn wir mit der Geschichte anfangen, dann ist in Deutschland der Zweite Weltkrieg an sich, aber auch, wie man sich insbesondere gegenüber Russland mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg positioniert hat, ein wichtiger Anknüpfungspunkt für das Umdenken, dass in dieser Hinsicht die Sowjetunion nicht als das heutige Russland fortgeschrieben werden kann, sondern dass der Zweite Weltkrieg und die damit verbundenen Opfer sich nicht auf Russen und Russinnen beschränken, sondern dass es für viele auch in Deutschland immer noch unbekannt ist, dass der Holocaust über Deutschlands Grenzen hinweg stattgefunden hat. Dass, wie Timothy Snyder es benannt hat, in diesen Bloodlands, das ist nicht nur die Ukraine, aber ein größerer Teil von Zentralpolen bis Westrussland und dazu gehört ganz zentral auch die Ukraine, eine wichtige Rolle gespielt hat. In diesem ganzen Gebiet, da sind wir auch wieder bei Verflechtungsgeschichte, schätzt er die Opferzahl auf ungefähr 14 Millionen. Das geht sowohl um die Naziherrschaft, aber auch um die Folgen der Sowjetherrschaft, das wird zusammen gedacht in dieser Hinsicht. Man kann das verschieden herunterbrechen, ich möchte es nicht auf eine Opferzahl reduzieren, aber ich glaube, so macht man am besten deutlich, dass der Zweite Weltkrieg, sowohl die Naziherrschaft aber auch die Sowjetunion in der Ukraine höchste Kosten verursacht hat und dass das in unserem Blick kaum vorkommt. Und es doch ein entweder sehr auf Deutschland fokussierter Blick auf den Zweiten Weltkrieg oder auf die Sowjetunion, was auf Russland reduziert wird, ist. Das ist ein wichtiger, nicht mehr ganz ein blinder Fleck, aber das ist erst in den letzten Jahren stärker in unserm Bewusstsein angekommen. Da gibt es noch viel zu tun. Zu den blinden Flecken gehört insgesamt der Blick auf die ukrainische Geschichte und Dinge, die wir schon ansprachen, wie der Holodomor, sind nur zum Teil bekannt.

Die Hungersnot von Stalin verursacht.

Die künstlich herbeigeführte Hungersnot Anfang der 30er Jahre. Wir können das weiterdenken bis zu den Themen, die wir gerade besprochen haben. Sowohl das historische als auch das heutige Verständnis von der Ukraine hat blinde Flecken, wenn wir, wie wir gerade diskutiert haben, vor allem in ethnischen und in sprachlichen Kategorien denken und daraus politische Orientierungen ableiten. Die Krim haben wir auch schon gestreift. Die Annahme, die Krim sei immer russisch gewesen, weil man sich nicht wirklich auskennt mit der Geschichte der Krimtataren zum Beispiel, ist ein weiterer blinder Fleck.

Was denken Sie, wenn wir über diese vielen blinden Flecken oder Fehlwahrnehmungen, über die wir jetzt gesprochen haben, welche Handlungsoptionen leiten sich daraus für Deutschland ab? Wie sollte Deutschland Verantwortung übernehmen in der aktuellen Situation, in der die Ukraine sich befindet, die Invasion seit sieben Monaten, große Zerstörung, viele Kriegsverbrechen, die wir sehen, was muss Deutschland, was sollte Deutschland tun?

Deutschland hat in diesen Monaten recht klar formuliert, dass es eine Zeitenwende ist und die ist nicht nur auf die militärische Unterstützung für die Ukraine bezogen, sondern geht darüber hinaus. Wenn man das ernst meint, bedeutet das, es hat ein paar Monate gedauert, aber was ja dann durchaus auch formuliert wurde, dass Deutschland seiner Rolle gerecht werden muss, die man von Deutschland innerhalb der EU und der Nato erwartet. Man ist so weit gegangen, zu sagen, man will auch führen. Dann müssen dem eben auch Taten folgen. Die sind schon gefolgt. Zum einen sollte man es nicht nur an militärischer Unterstützung festmachen und mit bedenken, dass es nicht stimmt, dass Deutschland in den vergangenen Jahren vor der Invasion diesen Jahres die Ukraine nicht unterstützt hätte, gerade bei ihren Reformprozessen, gerade bei einem sehr wichtigen Dezentralisierungsprozess in der Ukraine. Solche Dinge sind wichtig und die sind auch ein Teil, sie erklären, warum wir die Ukraine jetzt in ihrer Widerstandsfähigkeit so sehen wie sie da ist. Seit Februar werden ganz andere Dinge gebraucht, auch finanziell, da muss Deutschland auf jeden Fall mehr machen, die ukrainische Wirtschaft ist in einer Talfahrt und monatlich werden schon Summen gebraucht, die keiner aufbringen kann. Das heißt, euphemistisch von Wiederaufbau zu sprechen, das scheint in dieser Hinsicht viel zu früh, es bricht gerade so viel weg über die eigentliche Zerstörung hinweg. Das heißt, da wird Deutschland unter anderem, nicht nur, aber besonders stark gefragt sein. Was im jetzigen Moment, das kann man einfach nur so klar sagen, gebraucht wird, ist militärische Unterstützung. Da hat die deutsche Politik und auch die deutsche Bevölkerung schnell umlernen müssen. Schnell in Bezug auf die deutsche Geschichte, aber zu langsam für den Moment jetzt. Das wird sich noch länger fortsetzen. Da ist eine Verantwortung Deutschlands, die sich zum Teil, aber ich glaube nicht nur, aus der Geschichte ableiten lässt. Das wird manchmal etwas zu vereinfacht dargestellt, weil wir jetzt ein anderes Bewusstsein der Opfer und der Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg haben.

Daraus leitet sich die Verantwortung ab. Das tut sie zum Teil, aber sie tut es auch aus dem Selbstverständnis, das Deutschland haben muss, heute in der EU und in der NATO, seinen Beitrag zu leisten. Das ist also genauso wichtig, über die geschichtliche, historische Verantwortung hinaus. Man muss sich darauf einstellen, dass dieser Krieg noch lange andauern kann und da braucht es einen langen Atem. Das heißt, dass neben militärischer Unterstützung, finanzieller Unterstützung, auch die Kommunikation in die Gesellschaft hinein sehr wichtig ist. Wir nähern uns dem Winter, alle Preise gehen hoch, das Gas wird knapp. Momentan ist die deutsche Bevölkerung für die Unterstützung der Ukraine, zeigt sehr viel Empathie auch mit den Geflüchteten. Aber so etwas kann wieder brechen und in eine andere Stimmung umschwingen. Da kommt es auf die Erklärung an, warum das nicht ein Krieg ist, der in der Ferne stattfindet, sondern das ist ein Krieg, der uns angeht. Da muss Deutschland nach innen kommunizieren, aber auch nach außen seinen Beitrag leisten.

Das war unser History and Politics Podcast mit Gwendolyn Sasse zur Ukraine, ihrem nationalen Selbstverständnis und zu historischen und politischen Hintergründen des russischen Angriffskrieges.

Weiterführende Links finden Sie in den Shownotes und auf unserer Website, wo Sie auch das Manuskript zur Folge nachlesen können.

Wenn Sie an Informationen zu den Aktivitäten des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung interessiert sind, finden Sie diese ebenfalls auf unserer Stiftungswebsite. Da gibt’s natürlich auch alle weiteren Folgen unseres History and Politics Podcasts.

Haben Sie Fragen, oder Anregungen zu unserem Podcast? Dann schreiben Sie uns gerne eine Email an gp@koerber-stiftung.de.

Vielen Dank fürs Zuhören, hoffentlich bis zur nächsten Folge, machen Sie es gut!

Artwork: Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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