Krieg in der Ukraine: ein historischer Wendepunkt?

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

  • Ukraine & Beyond
  • History
  • 35 min.
  • 32. episode

Über die Rolle von Deutungen der Geschichte im Ukrainekrieg

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Welt verändert. Welche Rolle spielen Deutungen der Geschichte in diesem Krieg? Der ukrainische Historiker Andrii Portnov, die Europaabgeordnete Viola von Cramon und der Journalist Jörg Lau analysieren die Botschaften des „Hobbyhistorikers“ Vladimir Putin.

Weiterführende Links:

„Ich glaube, was viele in Deutschland machen und gemacht haben und ich schließe mich da ganz dezidiert mit ein, ist, wir haben eine lange Zeit die Ukraine durch eine russische Brille gesehen.“

Viola von Cramon, Mitglied des Europäischen Parlaments

Weiterführende Links

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von History & Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Mein Name ist Gabriele Woidelko und auch heute sprechen wir hier wieder darüber, warum Geschichte immer Gegenwart ist.

Im Mittelpunkt der Folge steht der Krieg gegen die Ukraine, den Russland am 24. Februar 2022 begonnen hat. Unter vielerlei Hinsicht ist dieser Krieg ein historischer Wendepunkt, denn damit greift Russland die Ukraine als Ganzes an, mit der Absicht, das Land und die Menschen, die dort leben, zu vernichten. Das ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein einmaliger Vorgang. Und dieser Krieg beendet auch die internationale Ordnung, die sich nach der europäischen Vereinigung 1989 und nach dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 etabliert hatte.

Bleiben Sie dran, wenn Sie mehr über die Bedeutung von Geschichte und Geschichtserzählungen in diesem Krieg erfahren möchten. Welche Botschaften sendet der „Hobbyhistoriker“ Vladimir Putin? Wie bewerten unsere Gesprächspartner:innen die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine? Und: wann genau hat dieser Krieg eigentlich angefangen?

Dazu haben wir in dieser Folge mit dem ukrainischen Historiker Andrii Portnov, der deutschen Europaabgeordneten Viola von Cramon und dem Journalisten Jörg Lau gesprochen. Wir, das sind meine Kollegin Nora Müller, die in der Körber-Stiftung den Bereich Internationale Politik leitet, und ich. Diese Sonderfolge von History & Politics ist aus dem Mitschnitt einer Diskussionsveranstaltung entstanden, die Ende April 2022 im KörberForum in Hamburg stattfand. Deshalb gibt es in unserer Folge, anders als sonst üblich, drei Gesprächsgäste anstatt nur einem. Und eben auch zwei Moderatorinnen.

Gemeinsam haben wir diskutiert, was genau der Begriff Zeitenwende im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine eigentlich bedeutet.

Nora Müller: Wir schreiben heute den Tag 61 dieses schlimmen Krieges. Es gibt Leute, die sagen: Wir sind im Moment in einer ganz entscheidenden, aber auch in einer besonders gefährlichen Phase dieses Krieges angekommen. Wie ist Ihre Einschätzung? Wo stehen wir im Moment in diesem Krieg?

Viola von Cramon: Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass Putin sich diesen Krieg ganz anders vorgestellt hat. Es war klar, es ging nicht darum in Anführungsstrichen nur den Donbass zu erobern, sondern es ging ihm natürlich um die gesamte Ukraine. Offensichtlich wurde ihm von seinen Geheimdiensten Informationen zugeliefert, die weit von der Wirklichkeit entfernt waren, sowohl was die militärische Widerstandskraft, aber auch die Bereitschaft der Ukrainer:innen, ihr Land zu verteidigen, betrifft. Das heißt, und deswegen sagen Sie gefährlich und wichtig zugleich, desto besser die Ukrainer:innen ihre Stellungen halten können, in der Lage sind, möglicherweise wieder Territorium zurückzuerobern, wie es im Moment aussieht, umso besser ist es. Dann können wir, wenn es zu dem Zeitpunkt kommen sollte, in eine Verhandlungslösung eintreten. Nur, wenn wir die Ukrainer:innen in einen Stand versetzen, bei dem sie sich wehren können und ihr Territorium auch wieder von den russischen Truppen befreien können, ist das überhaupt möglich. Die Ukrainer:innen sind derzeit, sagen wir, vorsichtig optimistisch, auch aufgrund der zugesagten Waffenlieferung, die zum großen Teil aus den USA, von Großbritannien, aber zunehmend auch von anderen EU-Partnern kommen.

Nora Müller: Sie selbst haben gesagt, Sie glauben, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann?

Viola von Cramon: Sie werden ihn nicht verlieren. Es ist nur die Frage, zu welchen Kosten und wann.

Nora Müller: Die Frage steht im Raum, was tut Deutschland, und tut Deutschland genug? Wir liefern Waffen, wir beteiligen uns an den Sanktionen, wir unterstützen die Ukraine finanziell, aber die große Frage im Moment ist, reicht das? Was ist Ihre Antwort da drauf?

Jörg Lau: Die kurze Antwort ist: Deutschland tut viel, zumal gemessen daran, was Deutschland noch vor zwei Monaten bereit war zu tun. Was überhaupt denkbar war im Rahmen dessen, was in unserer Außenpolitik möglich ist. Es war ausgeschlossen, dass Waffen in Krisengebiete geliefert werden sollten. Es wurden von weiten Teilen der Politik Waffenlieferungen abgelehnt. Das hat sich krass geändert. Insofern passiert viel nach dem Maßstab der Deutschen intern. Gemessen an dem, was wir gehört haben, sicherlich nicht genug. Dieser Spalt dazwischen, ist das, was wir im Moment in der Debatte mit Verbündeten, mit unseren Partnern, vor allen Dingen in Osteuropa, erleben. Die sagen: mehr, mehr, mehr; ihr müsst Führen in dieser Frage. Das ist etwas, wo die Bundesregierung aus Gründen, die man verstehen kann, aus der Geschichte der deutschen Außenpolitik und aus ihrem Duktus heraus verstehen kann, zögert. Ich glaube, dass wird in dieser Lage nicht lange aufrechtzuerhalten sein.

Nora Müller: Frau von Cremon, ich würde mit Ihnen gerne noch mal über die Ziele dieses Krieges, die zumindest aus deutscher Perspektive verfolgt werden sollten, reden. Wir haben gesagt, die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren beziehungsweise Putin darf ihn auf gar keinen Fall gewinnen. Das ist sicherlich eine Position, die ganz viele teilen. Aber, es gibt auch noch andere Ziele, die man sich vorstellen könnte, zum Beispiel, dass der Krieg möglichst schnell endet, nicht noch mehr Leid entsteht und auch nach Möglichkeit nicht auf Deutschland und auf unsere Nachbarn übergreift. Frage an Sie, gibt es eine Priorisierung dieser Ziele? Gibt es auch möglicherweise Konflikte zwischen den einzelnen Zielen?

Viola von Cramon: Zum einen muss man einfach nochmal betonen, der Krieg läuft seit 2014. Wir haben die ganze Zeit gedacht, wenn das vor sich hindämmert, wenn wir die Ukraine ihre Soldaten verschleißen lassen, geht uns das nichts an. Ich stelle mal die These auf, hätten wir alle gemeinsam auch 2014 entschieden mit Sanktionen reagiert, auch mit Defensivwaffen, auch mit anderen Maßnahmen, wäre es nicht zu einem Ausbruch gekommen, den wir jetzt sehen.

Putin ist grundsätzlich kein risikoaffiner Mensch. Er geht es nur ein, weil er gesehen hat, wie in Afghanistan das NATO-Bündnis furchtbar gescheitert ist. Die Augustevakuierung war so desaströs, dass Putin für sich abhaken konnte, dass die militärisch noch nicht mal mehr in der Lage sind, ihre eigenen Leute und ihre eigenen lokalen Mitarbeiter:innen mit rauszunehmen. Das hat ihn auf jeden Fall bestärkt. Das hat man auch gesehen. Das war im August. Im Juli hat er den Artikel verfasst; und anschließend hat er sozusagen die Truppen und die gesamte Infrastruktur für den Krieg, den er braucht, immer weiter an die ukrainischen Grenzen gebracht.

Nora Müller: Sagen Sie noch mal ganz kurz was zu dem Artikel.

Viola von Cramon: Es gab am 12. Juli – und das kann der Historiker Andrii Portnov gleich vielleicht noch ein bisschen genauer erklären – von Wladimir Putin, der nämlich Hobbyhistoriker geworden ist, einen 21-seitigen Artikel mit der Perspektive: Ich erkläre euch mal die Welt und erkläre der Welt auch, warum die Ukraine nicht existiert. Warum die Ukraine als Nation gar keine Berechtigung hat, und warum es keine ukrainische Kultur, keine Sprache, nichts gibt. Die Ukrainer sind eigentlich Russen, aber das wissen sie noch nicht. Wenn sie trotzdem meinen, sich weiterhin als Ukrainer:innen zu bezeichnen, sind sie Nazis, und Nazis muss man auslöschen. So ungefähr lassen sich diese 21 Seiten übersetzen, und er hat es uns relativ einfach gemacht, er hat den Text nämlich auch auf Englisch, auf Deutsch und in vielen anderen Sprachen veröffentlicht. Es war also möglich für die Welt, ihn zu lesen und sich mental schon mal drauf vorzubereiten, was er damit meinen könnte.

Wenn wir die Ukraine nicht halten können oder sie zu einem Rumpfstaat zusammenschrumpft, und Moldau mit fällt, ist das nicht das letzte Land. Das heißt, es betrifft uns alle ganz unmittelbar. Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Land, was sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entscheidet, was danach strebt, in die EU kommen zu wollen, zu stabilisieren, dann ist die EU als solche in Gefahr. Ich glaube, das müssen Menschen auch in Hamburg, in Berlin und in anderen Städten verstehen.

Nora Müller: Das Ziel, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, ist aus Ihrer Sicht ein untergeordnetes Ziel?

Viola von Cramon: Der Krieg muss beendet werden, aber die Maßnahmen, die getroffen werden, sind offensichtlich politisch noch nicht so mehrheitsfähig. Wenn Herr Lau sagt, es wird etwas getan, stimmt das aus der Perspektive der deutschen Außenpolitik, aber die Notwendigkeit, der blutige Krieg vor Ort erfordert viel mehr Engagement und ich weiß nicht, worauf die Bundesregierung, worauf das ganze Land noch wartet. Wir werden nicht mehr ernst genommen, wir sind komplett isoliert. Hinter vorgehaltener Hand sagen das auch alle. Nur weil sich niemand mit Deutschland anlegen will, weder in Washington noch in Paris, schweigen sie, und das ist langfristig kein gesundes Zusammenarbeiten.

Nora Müller: Wir wollen gleich noch über Deutschland reden und die Zeitenwende. Aber jetzt liebe Gabi, gebe ich an dich ab zu den historischen Wurzeln dieses Konfliktes.

Gabriele Woidelko: Unbedingt, denn Frau von Cramon hat praktisch schon den roten Teppich für Andrii Portnov ausgerollt. Das, was der russische Präsident in diesem Artikel ausgeführt hat, ist eine Version der Geschichte, in der Belaruss:innen, Weißruss:innen, Ukrainer:innen und Russ:innen zur dreieinigen russischen Nation gehören. Das ist ein Bild aus dem 17. Jahrhundert, also der russischen Imperialgeschichte. Was sagt es über die politische Vision eines Präsidenten heute aus, wenn er in die imperiale Geschichte des 17. Jahrhunderts zurückgeht?

Andrii Portnov: Danke schön. Es gibt mehrere Texte von Putin dazu, nicht nur diesen Artikel, der aber besonders wichtig ist. Ein erster ganz wichtiger Artikel von Putin ist interessant, publiziert am 30. Dezember 1999, ein Tag vor seiner Ernennung, vor Jelzins Neujahrsrede, in der er gesagt hat, ich bin zu krank, Vladimir, mach weiter. Schon in diesem alten Text von 1999 standen viele interessante Sachen. Da ist schon die Rede über Großstaatlichkeit, über Patriotismus, den man im russischen Sinne verstehen muss. Damals hat das überhaupt niemand wahrgenommen, nur als ein kleines Propagandastück im Wahlkampf. Meine These ist, dass Putin interessanterweise, im Vergleich zu anderen Politikern dieser Tage, in diesen Texten relativ konsequent ist. Man kann mehr oder weniger verstehen, welcher Schritt als nächstes kommt. Das ist kein Geheimnis, das ist keine spontane Entscheidung.

Gabriele Woidelko Sie sagen, seit 1999 liegt die Ideologie auf dem Tisch, verstehe ich Sie richtig?

Andrii Portnov: Zum Teil, aber damals gab es nur erste Elemente. Ich kann das kurz erzählen, wenn Sie wollen. Es gibt meiner Meinung nach eine, mindestens zwei ganz wichtige, sagen wir Zeitenwenden. Erstens die orangene Revolution in der Ukraine 2004. Damals hat Putin Wiktor Janukowytsch zweimal als neu gewählten ukrainischen Präsidenten begrüßt. Dann ist zweimal nichts passiert. Dann gab es die orangene Revolution und Juschtschenko ist als Präsident gewählt worden. Das war ein großer Schock.

Das zweite Datum, was ich ganz wichtig finde, ist 2020 mit dieser wichtigen und tragischen Verfassungsänderung in Russland. Seit dieser Entscheidung 2020 hat Putin das Recht, so lange wie er will Präsident der Russischen Föderation zu bleiben. Was bedeutet das für uns, für die EU, für diesen Krieg? Meiner Meinung nach bedeutet es, dass Putin nach dieser Verfassungsveränderung eine neue symbolische Legitimierung für seine Politik und für seine neue Position, brauchte. Vorher hatte zum großen Teil die Okkupation und Annexion der Krim diese Rolle gespielt.

Das war vor sechs Jahren, jetzt brauchte man etwas Neues. Es wurden Afghanistan, die Ukraine, Transnistrien. Ich glaube, wenn wir verstehen, dass Putin versucht, seinem Regime eine neue Legitimität zu verschaffen, bedeutet das, und das ist eine ganz tragische Nachricht, dass Putin nicht zurückkann. In diesem Sinne ist dieser Krieg weitgehend irrational und sehr schwierig zu stoppen, weil Putin nicht sagen kann, Leute ich habe einen Fehler gemacht. Jetzt kann er nur noch nach vorne gehen, und das ist in vieler Hinsicht unglaublich gefährlich: territorial, politisch, ökonomisch.

Jetzt zurück zu der Dreieinigkeit des russischen Volkes.

Gabriele Woidelko: Ja, die Frage nach der politischen Vision.

Andrii Portnov: Genau. Ich habe alle Artikel von Putin vor einigen Wochen wieder gelesen. Es gibt auch einen Artikel über Polen, mit schrecklichem Inhalt: Das Land habe den zweiten Weltkrieg begonnen, genauso steht es da. Das ist eine klare politische Bedeutung. Es geht um seinen Versuch, zu zeigen, dass Russland diese ganze Sicherheitsarchitektur ganz neu oder ganz alt wieder aufzieht. Es ist bemerkenswert, dass alle Artikel zum „dreieinigen russischen Volk“ historisch und philosophisch betrachtet unglaublich archaisch sind. Es gibt zum Beispiel Zitate – dazu schreibe ich vielleicht mal einen Aufsatz – von Slawophilen Mitte des 19. Jahrhunderts in Putins Texten. Es gibt Zitate, die klingen genauso wie dieses berühmte Solschenizyn-Buch, wie man Russland neu entdecken kann. Das heißt, historisch-philosophisch bringt Putin uns oder Russland nichts Neues, aber seine Argumentation ist sehr altmodisch, archaisch und unmodern, was es schlimmer und noch irrationaler macht. Diese Irrationalität müssen wir anerkennen und wahrnehmen. Das sind nicht Witze oder Missverständnisse, sondern das ist Weltanschauung, ein Glaubenskonzept.

Gabriele Woidelko: Wir haben jetzt mit Andrii Portnov über das archaische Geschichtsbild, über diese archaischen Bezüge gesprochen. Frau von Cramon hat bereits das Stichwort genannt, die Ukrainer:inner seien Nazis. Ich würde gerne mit Ihnen, Herr Lau, darüber sprechen, welche Rolle der Sieg der Roten Armee über den Faschismus, der in Russland am 09. Mai in jedem Jahr gefeiert wird, für die Geschichtspolitik des russischen Präsidenten innehat.

Jörg Lau: So, wie ich das verstehe, schnurrt es zusammen auf einen Moment der nationalen Größe. Das war der Moment, an dem die russische Nation, das ist schließlich die Folie, vor der das hier stattfindet, geschichtswirksam war, das Böse besiegt und ein Moment der Macht hatte. Jetzt pervertiert er diesen in der Tat historischen Sieg, an dem die Sowjetunion, aber nicht nur Russ:innen, sondern sehr viele Völker, unter anderem auch Ukrainer:innen beteiligt waren, in eine Legitimation für einen imperialistischen, rassistischen Angriffskrieg. Das ist für die deutsche Geschichtspolitik, die deutsche Vergangenheitsbewältigung und unsere Erinnerung eine ungeheure Provokation. Es verdreht alle Lehren der Geschichte, die wir geglaubt haben, gezogen zu haben. Das ist ein Angriff auf die deutsche Erinnerung, das muss man auch sehen. das spielt noch zu wenig eine Rolle. Im Moment haben wir noch zu viel Grauen, als dass wir uns mit dieser Metaebene beschäftigen, das müssen wir aber. Er greift die deutsche Vergangenheitsbewältigung und letztlich auch das Gedächtnis der Welt an mit dieser hanebüchenen Rechtfertigung für diesen Krieg.

Mir fiel gerade eine Szene ein, die ich auf einem Flug mit dem Bundeskanzler nach Kiew erlebt habe, bei dem Versuch, eine Woche bevor der Krieg los ging, zwischen Kiew und Moskau zu vermitteln. Da gibt es für Journalist:innen die schöne Situation, dass der Bundeskanzler im Flugzeug nach hinten kommt und man Fragen stellen kann. Das findet im Hintergrund statt, es darf also nicht zitiert werden. Ich werde auch nicht zitieren. Aber eine Sache darf man erwähnen: der Aufsatz, von dem Sie gerade gesprochen haben, hat Olaf Scholz zweimal von sich aus erwähnt.

Das hat ihn offenbar kurz vor dem Krieg beschäftigt, dieses Dokument hat ihn unglaublich ins Stutzen gebracht, ob man mit dem Mann noch verhandeln kann. Das ist jetzt meine Deutung. Er wollte ja verhandeln in Moskau. Er fing an zu referieren, was in diesem Aufsatz drinsteht und was für ein Geschichtsbild präsentiert wird. Mit anderen Worten, er ist auf einen Akteur gestoßen, der ein völlig anderes Programm hat, und den wir vielleicht nicht mehr erreichen können. Insofern ist es ein Krieg, der auch auf einer mythischen Ebene stattfindet. Das ist für die Bundespolitik unfasslich schwierig, mit so etwas sind wir nicht mehr gewohnt umzugehen. Wir unterstellen andere Motive. Er will an die Rohstoffe, er will seinen Machtbereich erweitern, nein, er will etwas Mythisches erreichen und das ist für unsere Politik ein Schockmoment ohnegleichen.

Gabriele Woidelko: Frau von Cramon, jetzt hat der Herr Lau über den Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur gesprochen und auf die Art und Weise, wie wir mit unserer Geschichte umgegangen sind, angespielt. Das baut eine schöne Brücke zur Frage der historischen Verantwortung. Die historische Verantwortung ist seit Kriegsausbruch in Deutschland mehrfach unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen diskutiert worden. Mal werden Waffenlieferungen unter dem Gesichtspunkt der historischen Verantwortung Deutschlands abgelehnt, mal eher nicht. Welche Art von historischer Verantwortung sehen Sie, wenn wir auf Deutschland gucken, gegenüber der Ukraine ganz konkret? Wo stehen wir da?

Viola von Cramon: Ich glaube, was viele in Deutschland machen und eine lange Zeit gemacht haben, ich schließe mich da dezidiert mit ein, ist, die Ukraine durch eine russische Brille zu sehen. Wir haben den Fehler gemacht, den der Historiker Timothy Snyder, wie ich finde, auch immer wieder sehr stark beschrieben hat, die Sowjetunion mit Russland zu verwechseln, wir setzen das gleich. Wir machen uns nicht die Mühe, im Zuge unserer Aufarbeitung zu gucken, was die deutsche Wehrmacht und all die, die noch das Elend über die Sowjetunion gebracht haben, genau wo verursacht. Timothy Snyder hat das Buch „Bloodlands“ geschrieben, also Blutland oder Blutboden und da, ca. 600 Seiten, steht ziemlich gut drin, wie die deutsche Verantwortung insbesondere auf dem Boden der Ukraine auszusehen hat und dass wir uns dem nicht entziehen können.

Ich habe mir auf dem Weg hierher noch mal eine Veranstaltung angesehen, die meine Kollegin Marie-Luise Beck 2017 im Deutschen Bundestag genau zu der Frage, Deutschlands Verantwortung in der Ukraine organisiert hat, wo der Gastredner Timothy Snyder war. Alle, die das interessiert, müssen das unbedingt nachschauen, weil er wirklich mit sehr einfachen Worten beschreibt, was unser Problem ist. Putin schreibt quasi das Befreiungsnarrativ Russland, und den Ukrainer:innen die Kollaboration mit den Nazis zu. Tatsächlich aber, ohne dass man das wirklich quantifizieren kann und darf, haben die Ukrainer:innen als Soldat:innen, als Zivilist:innen unter den Jüd:innen in Zahlen viel mehr unter diesem Naziregime gelitten, aber eben auch weil sie Kornkammer waren.

Sowohl die Sowjets als auch die Deutschen hatten es immer wieder auf die Ukraine abgesehen und wollten die Ukraine aus unterschiedlichen Gründen vernichten. Das heißt, wenn wir uns schützend vor jemanden stellen, dann müssen die Deutschen sich immer an die Seite der Ukrainer:innen stellen. Die waren immer diejenigen, die von der Auslöschung bedroht waren und ich glaube, die geschichtliche Aufarbeitung, auch unserer eigenen Geschichtsbücher, auch unsere Lehrerinnenausbildung muss mehr dahin gehen.

Ich ertappe mich selbst dabei, ich war 1991 in Russland und 1993 in Russland. Nach Kiew bin ich erst 1996 gekommen und habe dann erst verstanden auch, was der Unterschied ist und was auch diese quasi somatische Markierung, so nennt man das in der Verhaltensökonomie, also wenn man irgendwo hinfährt, macht diese Reise mit einem was. Das heißt, alle, die sich für das Thema interessieren - und hoffentlich ist der Krieg bald vorbei - kann ich nur ans Herz legen, mal in die Ukraine zu fahren, fahren Sie nach Dnipro, fahren Sie nach Charkiw, fahren Sie an die Orte, wo die deutsche Geschichte so viel Unheil, so viel Tragik angerichtet hat und reden Sie mit den Menschen. Und dann, glaube ich, tut sich auch hier was. Dann ist mehr Empathie da, dann ist mehr Bereitschaft da, dann ist auch der Wille da, die Ukrainerinnen und Ukrainer zu mehr Wehrhaftigkeit und zu mehr militärischer Abwehrbereitschaft zu mobilisieren auch hier, glaube ich, gegeben.

Gabriele Woidelko: Beenden wir mal fürs Erste den Exkurs in die Geschichte und gehen in die Gegenwart, zur Zeitenwende.

Nora Müller: Herr Lau, Sie sind ja kein Politiker, sondern schreiben über die Politik. Ich wollte mit Ihnen noch mal über die Frage der Aufarbeitung deutscher Russlandpolitik reden. Ich glaube, Sie waren mit dabei, als der Bundespräsident in Polen war und dann von seiner Ausladung in die Ukraine erfahren hat. Er hat auch selbst viel eingestanden bei der Einschätzung Russlands. Sie haben mal so schön gesagt, ich zitiere, viele müssen durch die Tür gehen, die Steinmeier mit seinem Eingeständnis eigener Fehler aufgemacht hat. Frage an Sie, worin bestehen denn diese Fehler der Vergangenheit und was sollten wir für die Zukunft daraus lernen?

Jörg Lau: Das ist ein weites Feld. Das betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die deutsche Wirtschaft, die Gesellschaft, die Medien wahrscheinlich auch, die nicht richtig hingeschaut haben. Ich würde sagen, was Steinmeier angefangen hat, nehmen wir mal die Pipeline Nord Stream 2, die kurz vor dem Krieg noch beendet, begraben wurde. Daran kann man die Fehler, glaube ich, gut festmachen.

Die Pipeline ist 2014 angeschoben und 2015, nach der blutigen Niederschlagung des Maidan und der Besetzung der Krim, einfach fortgesetzt worden. Wenn man bis dahin noch mit sehr viel gutem Willen glauben konnte, Putin werde doch seine wirtschaftliche Basis nicht gefährden, indem er herumzündelt und Grenzen verschiebt, dann musste man dann doch hellhörig werden und sagen, wir werden uns nicht noch mehr abhängig machen von diesem Russland, das wir gleichzeitig mit Sanktionen belegen. Wie passt das zusammen, diese Politik, heftige Sanktionen in Europa durchzusetzen und zugleich eine zweite Pipeline zu bauen?

Da ist eine Mischung aus Naivität und wirtschaftlicher Gier, billige Energie aus Russland zu importieren, die uns in eine Situation gebracht hat, in der Deutschland außenpolitisch nicht handlungsfähig ist. Das ist die Wahrheit darüber, wo wir aktuell stehen. Wir werden permanent getrieben und gedrängt. Die Bundesregierung sieht schlecht aus, und wir werden über Klippen gestoßen, weil wir uns in diese Abhängigkeit begeben haben. Das muss aufgearbeitet werden.

Ich sehe da einen großen Krater, wo vor einigen Monaten noch unsere schöne deutsche Außenpolitik zu sein schien. Das muss inspiziert und es müssen Konsequenzen gezogen werden. Die Zeitenwende, die Sie zitiert haben, ist ein Versuch, Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen zu ziehen.

Nora Müller: Zu der kommen wir auch gleich noch Herr Lau. Ich wollte noch mal nachhaken, es gibt in Amerika den Begriff des Monday Morning Quarterbacking. Das heißt, montagmorgens sind immer alle ganz schlau und wissen genau, was am Samstag bei dem Footballspiel hätte gemacht werden sollen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass in unserer Diskussion über die Russlandpolitik und alle Fehler, die genannt worden sind und die Sie auch auf das Tableau gebracht haben, sind bestimmte echte Fehler, aber wieviel davon hätten die handelnden Akteur:innen in der Situation wirklich schon wissen können?

Jörg Lau: Ja, da neige ich zu einer gewissen Gnadenlosigkeit, weil das einer meiner Hauptjobs war in diesen Jahren, darüber zu schreiben. Ich persönlich bin hier nicht Monday Morning Quarterback, ich kann Zitate bringen, dass das kein Wissen ist, dass man nicht haben konnte. Man hat aus verschiedenen Gründen weggesehen, weil das bequemer war, oder weil man dachte, das wird schon nicht so schlimm kommen, oder weil es auch enorme Profite gebracht hat. Das muss man eben auch sehen.

Das war ein sehr profitables Geschäft mit dem russischen Gas. Insofern weise ich das von mir, aber es gilt sicherlich nicht für alle, die sich jetzt an der Debatte beteiligen. Man muss da durch. Ein bisschen Besserwisserei ist nicht so schlimm wie das Nicht-Darüber-Nachdenken und dann in die nächste Falle zu stolpern mit dem nächsten problematischen Land, an das wir uns binden, China. Da wollen wir heute nicht drüber diskutieren, aber es gibt Analogien.

Nora Müller: Herr Portnov, Ihr Blick auf diese Zeitenwende in Deutschland, wie ist der? Es gibt Leute, die sagen, es sind andere Zeiten, aber es ist immer noch das gleiche Land. Würden Sie diese Einschätzung teilen und wie weit ist dieser Paradigmenwechsel auch der mentale Paradigmenwechsel, den Herr Lau ansprach? Wie weit ist der aus Ihrer Sicht tatsächlich gediehen?

Andrii Portnov: Als Historiker, kann ich sagen, dass wir mit solchen Fragen vorsichtig umgehen müssen. Im Moment der entscheidenden Entwicklungen verstehen die Leute nicht genau, was eigentlich passiert. Namen werden auch erst später vergeben. Für diesen Krieg wird es bestimmt auch einen Namen geben. Aber später, nicht jetzt. Deshalb bin ich nicht hundert Prozent sicher, dass wir schon jetzt, hier in Deutschland, über eine Zeitenwende reden dürfen. Noch nicht.

Im Moment gibt es diese besondere Aufmerksamkeit in der Ukraine auf die deutsche Politik, die deutsche Gesellschaft und die deutschen Medien. Und deshalb ist das eine wichtige Frage für uns hier: Ist für Deutschland die Ukraine, die Ukrainische Gesellschaft, wirklich wichtig und strategisch relevant? Oder ist sie nur eine Peripherie, die wir nicht so brauchen?

Wenn zum Beispiel Herr Scholz und Herr Steinmeier und sogenannte Intellektuelle diese Frage ernst nehmen und antworten, dann glaube ich, dass die deutsche Debatte über die Ukraine anders sein kann.

Und dieses Interesse, diese Aufmerksamkeit in DEutschland wird in der Ukraine noch nicht so wahrgenommen. UNd das will ich unbedingt noch unterstreichen, denn ich glaube auch unser heutiges Gespräch wir morgen in der Ukraine kommentiert. Das ist auch für mich neu, denn ich bin nun in dieser Rolle eines Übersetzers, die ich nie vorher gespielt habe.

Und ich hoffe sehr, dass Deutschland jetzt die Entscheidung über die Ukraine, die automatisch auch Osteuropa und Europa als Ganzes betreffen wird. Und meine Hoffnung ist, wenn ich das so sagen darf, dass diese Entscheidung nicht zu spät kommt.

Das war die Sonderfolge unseres History & Politics Podcasts zum Krieg in der Ukraine. Wir haben bei der Veranstaltung in Hamburg Ende April auch noch über weitere außen- und sicherheitspolitische Facetten dieses Krieges gesprochen, die in diesem Podcast keinen Platz finden konnten. Wenn Sie die Videoaufzeichnung des gesamten Gesprächs ansehen und auch noch mehr über unsere Gesprächsgäste erfahren möchten, finden Sie das Video in der Mediathek auf der Website der Körber-Stiftung. Den direkten Link dorthin finden Sie auch in den Shownotes.

Alle weiteren Informationen zur Arbeit des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung finden Sie auf unserer Stiftungswebsite. Da gibt’s natürlich auch alle aktuellen Folgen des History & Politics Podcasts. Vielen Dank fürs Zuhören, hoffentlich bis zur nächsten Folge, machen Sie es gut in diesen schwierigen Zeiten!

Artwork: Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

Spotify YouTube Apple Podcasts Feed