Jason Stanley: Faschismus damals und heute

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

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Womit er arbeitet, wie er wirkt

Jason Stanley definiert in seinen Büchern faschistische Strukturen, was sie ausmacht und wie deren Propagandisten versuchen, damit an die Macht zu gelangen. Mit dem Philosophen sprechen wir in dieser Folge darüber, wie Propaganda und Faschismus entstanden, was sie ausmachte. Wo wir beiden heute begegnen und was wir dagegen tun können.

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Heiner Wember: Was ist Faschismus? Im engen Sinn ist damit der namengebende Faschismus in Italien unter Benito Mussolini gemeint. Den Nationalsozialismus in Deutschland als Faschismus zu bezeichnen, kann hingegen schon problematisch werden, weil beide politischen Systeme auch gravierende Unterschiede aufwiesen, vor allem, was den Umgang mit jüdischstämmigen Minderheiten betraf. Heute politische Systeme als faschistisch zu bezeichnen, ist noch problematischer, weil die Definitionen nicht klar sind. Jason Stanley versucht einen anderen Weg. Er definiert in seinen Büchern faschistische Strukturen. Was sie ausmacht, und wie deren Propagandisten versuchen, damit an die Macht zu gelangen. Merkmale, die er für Faschismus und Propaganda beschreibt, sind anwendbar auf heutige politische Auseinandersetzungen. In den kommenden 20 Minuten wollen wir über diese Merkmale sprechen mit einem Philosophen, dessen Erkenntnisse sehr praktischer Natur sind.

Herzlich Willkommen, Jason Stanley. Ihre in den USA sehr beachteten Bücher haben ja Drei-Wort-Titel, »How Propaganda works« und »How Fascism works«. In diesem Podcast wollen wir besprechen, wie Propaganda und Faschismus entstanden, was sie ausmachte. Wo wir beiden heute begegnen und was wir dagegen tun können. Haben Sie heute schon Propaganda erlebt, an diesem Tag?

Jason Stanley: An diesem Tag schon. Ich habe ein Plakat für die AfD gesehen und darauf steht: »Ein Europa für Freiheit«. Aber was bedeutet »Freiheit« auf diesem Plakat? Freiheit heißt religiöse Freiheit, freie Bewegung der Menschen. Freiheit bedeutet hier etwas ganz anderes. In diesem Zusammenhang heißt Freiheit irgendetwas wie: »Unsere Meinungen sollen mehr Gewicht haben als andere Meinungen«. Das ist klassische Propaganda. Das ist ein Begriff, Freiheit, ein zentraler Begriff – benutzt, um Unfreiheit zu fördern.

Nicht der Begriff ist Propaganda, sondern die Benutzung des Begriffes.

Genau. In diesem Fall ist die Benutzung des Begriffes Propaganda.

Warum beschäftigen Sie sich als Philosoph mit Propaganda und Faschismus?

Platons »Der Staat« ist eine Diskussion zwischen Sokrates und Thrasymachos. Thrasymachos meint, dass alles Macht ist. Und Sokrates versucht zu zeigen, dass Wahrheit und Justiz, nicht Macht wichtig sind. Er streitet gegen die Ansicht, dass alles Macht ist. Philosophie ist begründet in dem Kampf gegen Faschismus.

Sie haben auch einen familiären Zugang zu dem Thema.

Mein Vater ist in Berlin geboren und aufgewachsen bis er sieben war. Meine Mutter ist in Polen geboren und hat dann den Krieg in Russland und Polen durchlebt. Als ich jung war, haben wir immer über die Zeichen des Faschismus gesprochen. Meine Eltern haben über die Sprachverwandlungen, zum Beispiel diesen Missbrauch des Begriffs Freiheit, gesprochen. Sie haben immer gesagt: Das kann überall passieren. Mein Vater und seine Mutter waren deutsche Juden aus Berlin, und sie haben Deutschland sehr hoch geschätzt. Und wenn es in Deutschland passieren konnte, dann kann es überall passieren.

Ihr Vater war ein sehr mutiger Mann, der sehr offen auch für Freiheit eingetreten ist, also eine sehr kämpferische Natur, während Ihre Mutter eher damit gerechnet hat, dass es ständig wieder neu passieren könnte und eigentlich immer die Fluchtwege gesucht hat. Also eigentlich vor der Gefahr fliehen wollte. Ist das richtig?

Das ist richtig. Mein Vater war ein Soziologe, Soziologieprofessor, meine Mutter hat im Gericht gearbeitet als Sekretärin. Und meine Mutter hat in unserem Justizsystem gesehen, wie Minderheiten, insbesondere schwarze Amerikaner, behandelt wurden, und hat Ähnlichkeiten gesehen. Sie war immer konfrontiert mit »amerikanischem Faschismus«, würde ich sagen. Unser Justizsystem wird benutzt, um unsere schwarze amerikanische Bevölkerung zu unterdrücken.

Mein Urgroßvater war Ober-Kantor in der Fasanenstraßen-Synagoge zwischen 1912 und der Zerstörung der Synagoge in der Reichskristallnacht in 1938. Wir haben ein Bild gehabt an unserer Wand, meine sechsjährige Großmutter, Blumen in der Hand, neben Kaiser Wilhelm auf den Treppen der Fasanenstraße-Synagoge am Tag der Eröffnung.

Ich habe gelernt, dass Faschismus eigentlich ein kommunistischer Kampfbegriff war. In meiner Jugend. Da wurde alles drunter subsummiert, was nicht kommunistisch war, einschließlich der westlichen Demokratien.

Und Sie sind aus der DDR?

Nein, ich komme aus dem Westen. Aber trotzdem haben wir es so beigebracht bekommen, dass man fein unterscheiden muss zwischen Faschismus, vor allen Dingen dem italienischen Faschismus, und dem Nationalsozialismus. Es gibt vom Institut für Zeitgeschichte Thomas Schlemmer, der sagt: Im Kohlenkeller des Faschismus wirft Hitler einen wesentlich dunkleren Schatten als Mussolini, weil es dort keinen Holocaust gab.

Auf jeden Fall. Meine Antwort ist immer: Oswald Mosley hat keinen Holocaust gefordert. Ich meine, es gab viele Faschisten in den 1930er Jahren, die nicht Hitler waren. Hitler war eine sehr extreme Version. Faschismus hat immer auf Ultranationalismus basiert, aber Antisemitismus und Rassenhass, also Rassenlob ist immer zentral für Faschismus. Aber Hass und Massenmord sind nicht unbedingt dabei.

Was gehört denn unbedingt zum Faschismus?

Faschistische Regierungen sind sehr unterschiedlich. Wenn faschistische Ideologen zur Macht kommen, dann machen sie verschiedene Sachen. Mein Interesse ist die Ideologie, die benutzt wird, um an die Macht zu kommen. Ich betrachte Faschismus als eine Strategie. Und Faschismus hat zehn Teile nach meinem Buch »Wie Faschismus funktioniert«. In faschistischer Politik sagt man immer: Unsere Vergangenheit war groß, wir sollen keine Schande empfinden über unsere Vergangenheit.

Früher war alles besser.

Ja genau.

So wie Mussolini das römische Imperium erneuern wollte.

Genau. Und wie heute die AfD sagt: Wir sollen stolz auf unsere Vergangenheit sein. Und das ist einfach normal. Trump sagt auch: Make America great again.

Sind beide für Sie faschistisch, sowohl Trump als auch auf die AfD?

Sie benutzen dieselben Strategien. Die AfD benutzt diese Strategien, also: Stolz auf Deutschland, ein Ultranationalismus, Panik und Angst vor Immigration. Immigranten werden immer als Verbrecher und faul dargestellt, wie Juden in den 30er Jahren als Verbrecher und faul dargestellt wurden. Das letzte Kapitel von meinem Buch heißt »Arbeit macht frei«. Die Minderheiten sind immer faul, sie müssen wieder aus dem Land rausgeschmissen werden oder Zwangsarbeit leisten.

Was macht noch ein faschistisches System, faschistische Methoden nach Ihrer Definition aus?

Diese Struktur. Hitlers Buch heißt »Mein Kampf«. Der Kampf ist zentral. Die Idee ist, dass eine Gruppe mehr leistet als andere Gruppen. Und deshalb sind sie mehr wert. Deshalb ist es sehr gefährlich, dass Deutsche immer noch denken, dass Griechen faul sind und Deutsche leistungsfähig.

Wir haben jetzt diesen dritten Punkt, die Überlegenheit über andere Gruppen, Völker und so weiter. Was noch? Haben Sie noch weitere Punkte?

Die Städte sind Orte von Dekadenz. Das neunte Kapitel heißt »Sodom und Gomorra«. Und die Leute, die auf Bauernhöfen und auf dem Land leben, haben die echten Traditionen. Kapitel zwei von »Mein Kampf« heißt »Meine Zeit in Wien«. Und Wien ist dargestellt als ein Ort, wo Minderheiten leben und Schwule und Homosexuelle und Dekadenz, und dass die echten Traditionen immer noch auf dem Land zu erkennen sind. Und dass die Städter irgendwie problematisch sind. Das ist ein Teil von dieser Politik.

Gibt es noch weitere Punkte oder haben wir die wichtigsten?

Das Patriarchat ist fundamental, also die Idee: Wir müssen immer mehr Kinder haben von unseren Frauen und der Führer wird die Bevölkerung verteidigen vor den Ausländern, die hierhergekommen sind, um unsere Frauen zu vergewaltigen.

Das Patriarchat?

Ja, das Patriarchat, genau. Das Patriarchat ist zentral. Was interessant ist, man sieht jetzt bei diesen rechtsradikalen Parteien auch weibliche Führerinnen, zum Beispiel Frauke Petry in Deutschland bei AfD oder Marie Le Pen. Das ist ein bisschen anders als in der Vergangenheit. Es ist unvorstellbar, dass Hitler weiblich gewesen wäre oder Mussolini zum Beispiel.

Wir haben eine AfD-Politikerin, die sogar in einer lesbischen Beziehung lebt.

Ja, aber das bedroht nicht so sehr wie männliche Homosexualität.

Ein schwuler Führer bei der AfD wäre nicht möglich.

Kompliziert, kompliziert. Denn es gibt auch das, was sie Pinkwashing nennen. Die AfD hat ein sehr starkes islamophobes Element. Pinkwashing heißt, wenn Homosexualität benutzt wird als eine Waffe gegen den Islam.

Das habe ich noch nicht verstanden.

Pim Fortuyn zum Beispiel in den Niederlanden sagte: Im Islam verbieten sie Homosexualität, also müssen wir Homosexualität verteidigen, und so benutzen wir Homosexualität als Waffe. Das heißt Pinkwashing.

Ist es nicht gefährlich, zu schnell von faschistischen Strukturen zu sprechen? Dass manchmal dann auch Kritik, auch harte Kritik, damit sofort diskreditiert werden kann?

Gefährlich ist, die Strukturen nicht richtig zu beschreiben. Wenn man diese sozialen Strukturen sieht, diese Überlegenheit zwischen Gruppen, das Patriarchat, diese Idee von Arbeit und Wert. Als deutscher Jude muss ich sagen, wie erschreckend es ist, diese Ideen wieder in meines Vaters Heimatland zu sehen. Wenn man das beschreibt als Populismus oder Antiglobalismus. Nein, Populismus reicht nicht für das, was wir jetzt sehen.

Würden Sie Trumps Regime auch als faschistisch bezeichnen?

Trumps Regime und Trumps Politik sind zwei verschiedene Sachen. Meine Arbeit geht über die Politik. Wie er spricht, wie er seine Unterstützer anspricht, die Ideologie, die er teilt. Und diese Ideologie würde ich faschistisch nennen. Unser System ist nicht faschistisch, obwohl wir faschistische Elemente haben. Zum Beispiel: 25 Prozent aller Gefangenen in der Welt sind in amerikanischer Gefangenschaft. Aber unsere Regierung ist nicht faschistisch. Aber was Trump macht, ist weiße Überlegenheit, seine Ideologie und seine Propaganda sind faschistisch. Ich habe keine Angst, es so zu beschreiben. Aber natürlich haben wir ein demokratisches System, das ihn einschränkt.

Sie haben ja zwei Bücher geschrieben, eins über Faschismus, eins über Propaganda. Was ist denn der Unterschied?

Propaganda kann für verschiedene Ziele benutzt werden. Propaganda kann für andere Formen von Totalitarismus benutzt werden. Zum Beispiel Kommunismus. Und man kann Propaganda auch für »gute« Ziele benutzen.

Gibt es »gute« Propaganda?

Ja, zum Beispiel, wenn ein Teil der Bevölkerung unter den Folgen von Ideologie leidet, zum Beispiel von rassistischer Ideologie oder islamophobischer Ideologie, dann ist das schwierig, einfach Vernunft zu benutzen. Denn Vernunft funktioniert nicht unter solchen Bedingungen. Und so muss man irgendwas anderes machen. Und in solchen Fällen benutzen Leute Kunst, sie benutzen Musik, sie benutzen Gefühle. Sie benutzen Kunst und Gefühle, um zu versuchen, die Ideologie anzugreifen.

Sie würden das auch als Propaganda bezeichnen, Musik und Kunst?

Ja, in der schwarzamerikanischen Tradition wird das Wort oft benutzt, um Musik und Kunst und Literatur zu beschreiben. In unserer Freiheitstradition, im schwarzamerikanischen Kampf für Freiheit, wird Kunst als Waffe, Propagandawaffe oft benutzt.

Das klingt, als wenn Propaganda nicht nur negativ wäre.

Genau. Daphne Brooks, meine Kollegin in Yale, spricht über »Abolition Propaganda«. Abolition ist die Abschaffung, die Freiheit von Sklaverei. In dieser Literatur wird vorausgesetzt, dass Propaganda gut sein kann. Martin Luther King hat das verteidigt. Ich meine, Martin Luther King hat Propaganda benutzt in der Civil Rights Bewegung.

Nämlich?

Er hat es so geplant, dass er zum Beispiel auf den Märschen von Selma nach Montgomery 1965, einen Ort gefunden hat, wo die Leute besonders gewalttätig waren und hat es so arrangiert, dass viele Fernsehsender und Journalisten dabei waren. Er wusste, dass es zu Gewalt kommen würde. Er hat es so geplant. Ist das Propaganda? Er hat Amerika gezeigt, wie gewalttätig der rassistische Süden war, die Bevölkerung.

Demnach war Gandhi auch ein Propagandist.

Wenn man keine Waffen hat, was sollte man dann benutzen? Man kämpft gegen Ideologien, die sagen, dass die eigene Gruppe keine Fähigkeit zur Vernunft hat, die Gleichheit nicht verdient hat, nicht bereit für Demokratie ist. Wie kann man dagegen kämpfen? Man muss durch Gefühle wirken.

Sie sind ein Spezialist, Herr Stanley, in den Fragen, wie Propaganda wirkt. Was kann man denn dagegen tun, gegen Propaganda?

Das ist eine sehr wichtige Frage. In letzter Zeit, glaube ich, merken viele, dass wir ein Problem mit Rechtsradikalismus haben. Ich bin besser als Beschreiber des Problems denn als Löser des Problems. Aber ich glaube, dass Journalismus wichtig ist. Wir brauchen Journalisten. Diese rechtsradikalen Politiker, diese Bewegungen fördern falsche Hoffnungen. Das ist sehr wichtig anzuerkennen. Wir brauchen Journalisten, die hinter diese Bewegungen gucken und sehen, was der Unterstützungsmechanismus für diese Bewegungen ist.

Social Media hat drei Wirkungen. Einmal ist es kürzer, die Botschaften sind kürzer, es geht schneller, dann fehlt häufig die Intensität, die Substanz, und es ist eine unglaubliche Breitenwirkung, die Social Media erzielen kann. Was kann man tun, um die Pressefreiheit zu erhalten, die Freiheit der Rede, und gleichzeitig vor Hetze zu schützen, vor Propaganda und Faschismus?

Propaganda geht immer mit der neuen Technologie. Goebbels wollte, dass jedes Haus ein Radio hat. Und jetzt sehen wir Facebook und Twitter und WhatsApp. Es muss sein, dass Facebook, dass diese sehr großen Firmen, offener werden. Dass wir Öffentlichkeit haben, sodass wir sehen: Wer kauft diese Werbungen, die Brexit zum Beispiel unterstützt haben? Wer steckt hinter diesen Werbungen? Jetzt, wo alle Leute auf Facebook sind, sollte das alles öffentlich sein. Facebook ist, was wir ein Utility nennen, ein Public Utility.

Ein Werkzeug.

Ein Werkzeug.

Wenn Sie die Situation der Welt gerade betrachten, bleiben Sie trotzdem optimistisch oder haben Sie eine pessimistische Weltsicht?

Ich bin amerikanisch, und in meinem Land gibt es eine wahnsinnige Unterdrückung von Schwarzamerikanern. Aber sie haben 200 Jahre gekämpft und nie aufgegeben. Und man sieht, diese rechtsradikalen Ideologien sind schwierig zu vernichten. In meinem Land gibt es eine Gruppe, die so lange gegen Unterdrückung gekämpft hat, dass es unmöglich für mich ist, nicht optimistisch zu sein.

Vielen Dank, Jason Stanley, für dieses interessante Gespräch.

Danke sehr.

Literatur:
Stanley, Jason: How Facism works. The Politics of us and them (Random House, 2018)
Stanley, Jason: How Propaganda works (Princeton University Press, 2016)

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Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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