Aktivist:innen in Russland: Zwischen Untergrund und Friedensnobelpreis

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

  • 35 min.
  • 43. episode

Aufzuklären und aus der Geschichte lernen zu wollen, zieht sich als roter Faden durch das Leben und Engagement von Irina Scherbakowa und ihre Kolleg:innen. Nicht erst seit dem Friedensnobelpreis an die inzwischen im eigenen Land liquidierte russische Menschenrechtsorganisation Memorial International ist Irina Scherbakowa in Deutschland das Gesicht des „anderen Russlands“. Wie blickt sie zurück auf die Gründungsjahre, und was sind die Herausforderungen nach dem Verbot der Organisation in Russland und dem Angriffskrieg auf die Ukraine?

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„Als ich ein junges Mädchen war, habe ich gesehen, wie Menschen in die Lager gekommen sind für das Lesen von denselben Büchern, die ich auch gelesen habe. Nur für das Lesen und Weiterreichen von „Der Archipel Gulag“. Da bleibt ein sehr ungutes Gefühl, verschont geblieben zu sein. Warum es anderen so schlecht geht, und du bleibst in Freiheit.“

Irina Scherbakowa, Mitgründerin von MEMORIAL International

Weiterführende Informationen zu dieser Podcast-Folge

Leseempfehlungen

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von History and Politics, dem Podcast der Körber-Stiftung zu Geschichte und Politik. Mein Name ist Gabriele Woidelko und in der Körber-Stiftung leite ich den Bereich Geschichte und Politik. Auch heute sprechen wir wieder mit einem Gast darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt.

Aus der Lüge in die Wahrheit: Jahrzehntelang hat sich Memorial, die älteste russische Nichtregierungsorganisation, für historische Aufklärung und den Schutz von Menschenrechten eingesetzt, nicht nur in Russland, sondern auch darüber hinaus. Von Anfang an wurde Memorial kritisch beäugt: vom Staat und von offiziellen Stellen in Russland. Anfang 2022 wurde, nach langem Widerstand, Memorial International durch russische Gerichte endgültig liquidiert. Für ihre Arbeit wird die Organisation am 10. Dezember 2022 zusammen mit zwei anderen Organisationen, eine aus der Ukraine und eine aus Belarus, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Irina Scherbakowa war Mitbegründerin von Memorial International. Als Russlanderklärerin und als Gesicht und Stimme eines “anderen” Russlands ist Irina Scherbakowa seit langem eine gefragte Gesprächspartnerin. Mit der Körber-Stiftung verbindet sie eine lange Geschichte, und mit Memorial International verbindet die Körber-Stiftung eine lange Zusammenarbeit. Unter anderem hat Memorial International 2001 das europäische Geschichtsnetzwerk EUSTORY mitbegründet.

Kurz nach dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 hat Irina Scherbakowa so wie andere Kolleg:innen von Memorial Russland verlassen. Zuvor, am 25.2., hat Memorial in einer auch ins Ausland übertragenen Pressekonferenz in Moskau den russischen Überfall auf die Ukraine öffentlich verurteilt.

In diesem Podcast, den meine Kollegin Katja Fausser mit Irina Scherbakowa aufgezeichnet hat, wird es ganz persönlich: Bleiben Sie dran, wenn Sie wissen wollen, was sie und ihre Kolleg:innen antreibt, unbeirrt von manchmal übermächtigen Hindernisse an ihrer Mission festzuhalten. Welche Rolle spielt die eigene Familiengeschichte dabei? Und was bedeutet es, diese Arbeit jetzt im Exil fortzusetzen?

Darüber hat Katja Fausser mit Irina Scherbakowa gesprochen.

Katja Fausser: Irina, ich sitze grade am Standort der Körber-Stiftung in Hamburg. Unser Büro kennst du auch sehr gut, weil wir schon seit über 20 Jahren gemeinsam an Projekten arbeiten. Du führst dieses Gespräch aus deiner neuen Wohnung in Weimar. Nachdem du aus Russland ausgereist bist, arbeitest du seit diesem Sommer am Imre-Kertész-Kolleg als Senior Fellow. Bist du eigentlich schon komplett eingerichtet?

Irina Scherbakowa: Das ist eine ganz schwierige Frage, weil ich in Moskau geboren bin. Ich habe dort mein ganzes Leben verbracht und mein Leben ist im gewissen Sinne dortgeblieben.

Es geht mir gut in Weimar, das ist ein schöner Ort. Man kann sagen, dass ich in einem Museum wohne. Ich bin studierte Germanistin, und meine Dissertation hatte die politische Satire der Weimarer Republik zum Thema. Die Weimarer Republik ist hier wie vor meiner Nase und das Goethe Haus sowieso. Mein Deutsch hat mit Gedichten von Goethe angefangen, die ich mit sieben und sechs Jahren auswendig lernen musste.

Hier gibt es neben Buchenwald auch das Gauforum mitten in der Stadt. Das ist ein Zentrum für die Zwangsarbeiter:innen in Deutschland. Wir bei Memorial haben uns Jahrzehnte lang mit den Schicksalen der sowjetischen Zwangsarbeiter:innen beschäftigt, die während des Krieges aus Russland, der Ukraine und Belarus nach Deutschland oder in die Satellitenländer geschleppt worden sind. Das passt symbolisch unglaublich zueinander.

Du hast es gerade schon gesagt, du hast Germanistik und Kulturwissenschaften studiert, aber eigentlich hat dich doch die ganze Zeit Geschichte am meisten interessiert. Warum?

Für viele Menschen in meiner Generation und für mich ganz persönlich spielte die Vergangenheit eine sehr große Rolle. Man hatte das Gefühl, dass sie immer präsent ist und es einen Kampf um ihre Deutung gibt. Ich bin regelrecht in diesen Kampf geboren. Im Jahre 1956 wurde ich eingeschult. Das war nur ein paar Monate nach dem 20. Parteitag, der die Entlarvung Stalins bedeutete. In seiner berühmten Rede sagte Chruschtschow, dass Stalin grobe Fehler gemacht hat. Und zum ersten Mal sprach er über die Opfer und die Massenrehabilitierung. Ich war die erste Generation seit Jahren, die eine Fibel ohne Stalin bekommen hat.

Es gab politisch Tauwetter, als ich noch klein war. Als das zu Ende war, kam es zum Breschnew‘schen Frost. Aber in der Samisdat-Literatur, die heimlich gelesen wurde, blieb das ein Hauptthema: Die Geschichten, die die Opfer erzählt haben. Opfer hatte man fast in jeder Familie oder im engen Freundeskreis. Deshalb war Geschichte für mich von großer Bedeutung. Sie war allgegenwärtig, aber sehr ideologisiert. Die sowjetische Geschichte war sowieso eine verbotene. So wählte ich Germanistik. Zum Teil als Tarnkappe für mein Interesse an Geschichte, zum Teil weil mich die Geschichte des Nationalsozialismus sehr interessierte. Das hat sehr zueinander gepasst, weil viele menschliche Schicksale miteinander verbunden waren, man Ähnlichkeiten zwischen zwei Regimen sah und die Geschichte vom Nationalsozialismus bei uns auch absolut plakativ dargestellt wurde.

Deshalb war das für mich sehr interessant, viel wichtiger und interessanter als Amerikanistik oder Anglistik, was meine Freunde studiert haben. Ich war die Einzige, die Germanistik gewählt hatte. Mich haben viele gefragt: Warum diese hässliche deutsche Sprache, was findest du schön daran? Für mich war Deutsch nicht so sehr als Sprache bedeutend, sondern als Instrument und Mittel zur Beschäftigung mit der Geschichte.

Da hätte ich gleich auch nachfragen wollen, weil deine Familie auch einen jüdischen Hintergrund hat. In der Phase zu entscheiden, die Sprache der Täter zu lernen und sich damit intensiv zu beschäftigen, die im zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion für so viel Leid und Elend verantwortlich waren. War das in der Familie auch mal kritisch gesehen worden?

Meine Germanistik? Bei meinem Vater, der im Krieg war und mit 19 zu einem Kriegssinnvaliden geworden ist, nicht. Grade diese deutsche Seite interessierte ihn am meisten. Er hatte Deutsch gelernt. Die deutsche Sprache war die meistverbreite Fremdsprache, die man in den sowjetischen Schulen gelernt hat, nur ein ganz bisschen Französisch, kaum Englisch. Vor dem Krieg lernte man in alten russischen Gymnasien Französisch und Deutsch. Meine beiden Eltern und Großeltern konnten ziemlich gut Deutsch. Mein Großvater hatte es geschafft, noch zwei Jahre in Österreich-Ungarn Chemie zu studieren, bevor der erste Weltkrieg angefangen hat. Das war alles auf Deutsch.

Für meinen Vater war es ganz verständlich, dass mich dieser Krieg und seine „andere Seite“ interessiert hat. Er hat alles, was möglich und übersetzt worden war, damals ins Russische, Romane, von Böll, von Remarque, auch Erfahrungsliteratur aus dem Zweiten Weltkrieg, gelesen.

Du hast die jüdische Seite angesprochen. Es war ein absolut existenzieller Krieg, nicht nur für Jüd:innen, auch für die Menschen in Russland. Es war ein Vernichtungskrieg für die Juden und ein Krieg der absoluten Versklavung der russischen Bevölkerung. Aber ich sah später die Traumata dieses Krieges auch bei den Siegern. Sie hatten alle ein Trauma von diesem Krieg.

Deshalb war es für mich alles von sehr großer Bedeutung. Für mich war völlig klar, dass ich die Ursprünge, die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, begreifen will. Die Germanistik war Ersatz für den Geschichtsunterricht. Allein schon deshalb, weil ich so viel lesen konnte, auch über den Nationalsozialismus, was in Russland gar nicht zugänglich war. Dort gab es ein sehr plakatives und sehr ideologisiertes Bild vom Nationalsozialismus.

Nach all dem, was du schon über dein Geschichtsinteresse gesagt hast, auch die Verbindung deiner Familiengeschichte mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist es nicht mehr überraschend, dass du während Perestroika und Glasnost Ende der 1980er Jahre bei den Anfängen von Memorial, bei der Gründung dieser großen russischen zivilgesellschaftlichen Organisationen dabei gewesen bist. Gab es einen offiziellen Eintritt, oder wie erinnerst du diesen Start?

Man hörte, obwohl alles heimlich war, ein bisschen voneinander. Ich begann, Jahre vor Perestroika, Interviews mit den Opfern aufzuzeichnen. Erstmal mit den Menschen, die ich einfach kannte. Dann wurde der Kreis immer größer und so waren es ziemlich viele Menschen, die ich auf meinem Gerät aufgenommen habe. Ich gehörte nicht zu denen, die auf der Straße standen und Unterschriften für ein Denkmal sammelten, aber ich kannte sie. Man hat mich gebeten und das werde ich nie vergessen, zu erzählen, was für Schicksale von Menschen ich gesammelt habe. Was habe ich herausgefunden? Wie hat die Erinnerung funktioniert, was denken diese Menschen? Wie erzählen sie? Das war mein erster Vortrag Anfang 1988 in einem Keller, wo man sich versammelt hat. Dort waren viele Menschen dabei, die Memorial gegründet haben und bei Memorial geblieben sind. Das waren sozusagen die Anfänge. Das war die erste öffentliche Vorlesung damals.

Dann hat man mich gebeten – es gab kein Internet oder gar nichts – die Einladungen zu der ersten Konferenz zu verschicken. Diese sollte im Jahr 1988 eine Gründungskonferenz sein. Man hatte Angst vor dieser Gründung. Das Politbüro machte Sitzungen und Gorbatschow fragte, was soll das? Was ist das für eine Initiative? Was wollen diese Menschen? Sie wollen ein Denkmal? Gut, dann soll vielleicht ein Denkmal für die Opfer entstehen. Wir wussten, das wird nicht funktionieren.

Ich musste erste Adressen zusammenstellen und das waren sehr viele, und das ging alles per Post. Ich musste erstmal diese hunderten Adressen zusammenstellen. Meine Schwiegermutter, die eine sehr energische Frau war, hat mir geholfen, weil ich ein Kind hatte, das zwei Jahre alt war. Sie hat gesehen, wie ich mich abplage mit diesen Adressen, und gesagt, ach pass auf, ich mache das alles schnell. 600 oder 700 Einladungen haben wir zusammengestellt und verschickt.

Es mussten zwei Monate vergehen und das war wirklich ein Kampf. Andrei Sacharow, der zum ersten Vorsitzenden von Memorial wurde, hat es durch seine Telefonate und seine Hartnäckigkeit hinbekommen, dass im Januar 1989 endlich offiziell alles stattgefunden hat. Über tausend Menschen sind zur Gründung gekommen, darunter hunderte von verschiedenen Organisationen, aus allen Republiken, aus Georgien, Kasachstan und aus der Ukraine. So hat unsere Geschichte angefangen.

Du hast schon gesagt, dass dieses Misstrauen des Staates von Anfang an diese Organisation und eure Arbeit begleitet hat. Wir fragen uns bei diesem Podcast immer, wie Geschichte die Gegenwart prägt. Du hast mal gesagt, in Russland haben die Menschen durch die Geschichte ein Angstgedächtnis geerbt. Kannst du kurz sagen, was das ist und wie du dein eigenes los geworden bist – oder hast du nie eins gehabt?

Jeder, der unter sowjetischen Verhältnissen aufgewachsen ist, hat mehr oder weniger diese Angst gehabt. Diese Angst offenbarte sich nur auf verschiedene Weise. Zum Beispiel darin, dass man wusste, was oder was man nicht laut sagt. Dass man nicht auf die Straße geht mit einem Plakat mit Aufschriften wie „Nieder mit Breschnew“ oder „Nieder mit der Partei“. Und dass nur fünf, acht Menschen es gewagt haben damals 1968 auf den Roten Platz zu gehen, um gegen den russischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zu protestieren. Es gab immer wieder kleine Demos. Es gab Untergrundgeschichten und geheime Texte, die man gelesen hat, und es wurde Geld gesammelt für politischen Häftlinge.

Aber: es war natürlich eine geheime Arbeit. Man wusste, jeder Schritt, den man versucht öffentlich zu machen, endet mit Repressalien. In diesem Sinne hatte man Angst. Diese Angst haben die Menschen geerbt, und durch die Schutzlosigkeit vor dem Staat haben die Menschen gelernt, sich nicht offen aufzulehnen und lieber zu verstecken. Diese Muster, diese Lebensweise, keinen Widerstand zu leisten, sich anzupassen, beobachten wir ganz massiv. Wir hatten vermutet, dass dies sehr schnell wieder die russische Gesellschaft erfassen könnte.

Das war leider keine schlechte Prognose. Memorial hat in den mehr als 20 Jahren seiner Arbeit, vor allem in der Aufarbeitung der russischen und europäischen Geschichte viel getan, aber sich eben auch eingesetzt für Menschenrechte, für Opfer von aktueller staatlicher Gewalt und Repressionen. Seit 2016 wurdet ihr zum ausländischen Agenten erklärt. Anschließend haben die Repressalien gegen euch, Verleumdungsaktionen, Attacken, auch Gerichtsurteile immer weiter eure Arbeit erschwert. Du selbst bist nicht festgenommen worden für dein Engagement in der Zeit, anders als dein Mann oder vor allem auch vielen Kolleg:innen, die sich für die Menschenrechtsarbeit eingesetzt haben. Kann man sagen, die Geschichtsaufklärung ist am Ende dann doch unpolitischer?

Nein, das war gerade umgekehrt und war für unsere Menschenrechtler:innen zum Beispiel nicht immer ganz klar. Im tschetschenischen Krieg, zu Jelzins Zeiten, waren sie diejenigen, mit denen unsere Macht sehr unzufrieden war. Sie haben sich eingemischt, Kriegsverbrechern entlarvt, waren unbequem. Da entstand manchmal das Gefühl, Historiker: innen werden zwar nicht wirklich in ihrem Aufarbeitungsprozess unterstützt, bekommen beispielsweise kein Geld, aber können mehr oder weniger machen, was sie wollen.

Sobald die Putin‘sche Zeit begann, ist nach ein paar Jahren klar geworden, dass die ganze staatliche Geschichtspolitik auf der Basis von „Patriotismus“ und nationalem Stolz aufgebaut wurde. Wir standen im Wege, und das wurde immer deutlicher: Die Historiker:innen, vor allem wir in unserer Bildungs- und Aufklärungsarbeit, wurden immer mehr zu den Hauptfeinden dieser Macht. Unser Schülerwettbewerb, den Memorial seit 1999 führt, und das hatten wir uns auch überhaupt nicht vorstellen können, wurde immer mehr zu einer sehr gefährlichen Initiative in Augen von unserer Obrigkeit. Deshalb wurde unser Schülerwettbewerb praktisch einer der wichtigsten Gründe für unsere Liquidierung.

Die Entwicklung, die du grade beschrieben hast, und der russische Angriff auf die Ukraine hat dazu geführt, dass du und auch viele weitere Mitarbeiter:innen von Memorial Russland sehr schnell danach verlassen haben. Was ist, glaubst du, jetzt die größte Herausforderung für Memorial im Exil?

Erstmal haben wir für Russland gearbeitet. Wir haben absolut ein Gefühl dafür, wie gefährlich es ist, wenn man die Geschichte verdrängt und was passiert, wenn die Geschichte nicht als Wissenschaft oder Fakten gesehen wird, sondern nur als Quelle für ganz gefährliche Mythen, nationalistische Verdrehung und Fälschungen von der Geschichte benutzt wird, um Propaganda zu untermauern, um sogar diesen Krieg zu rechtfertigen. Bei der Gründung von Memorial gab es nichts, keine Museen, keine Ausstellungen, nichts. Deshalb wurde Memorial zur Insel der Erinnerung. Wo die Menschen das hingebracht haben, was sie aufbewahrt hatten, damit es zum Allgemeingut wird, zusammen mit unseren Ausstellungen, mit unserem Archiv, das mit allen Dokumenten für jeden zugänglich war, mit unserer Bibliothek und vieles mehr.

Es ist kein Zufall, dass wir uns „Internationale Memorialgesellschaft“ genannt haben. Wir wussten, dass man im Gulag alle möglichen Nationalitäten treffen konnte. Es war ein Massenterror und in diesem Sinne hatte er keine Grenzen. Das war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, dann muss es auch von der ganzen Menschheit wahrgenommen werden. Es ist für uns absolut verständlich, dass sich Memorialorganisationen auch in Deutschland, in Frankreich, in der Tschechischen Republik, in Italien gründete, auch in der Ukraine. Diese Arbeit hatte nie nationale Grenzen.

Es muss vieles neu gedacht werden, auch die Formen unserer Arbeit. Wie erreichen wir die Menschen, gerade jetzt auch in Russland? Wie gestalten wir unsere Arbeit neu? Das ist eine sehr schwierige Aufgabe.

Du hast es am Anfang schon gesagt, du bist mit eher kleinem Gepäck aus Russland ausgereist. Dein Mann lebt aktuell noch in Israel, deine Kinder schon lange im Ausland, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten. In deiner Wohnung, eurer jahrzehntelangen Familienwohnung, hat es einen Brand gegeben während deiner Abwesenheit. Hast du manchmal in deinem Leben das Gefühl gehabt, dass der Preis, den du zahlst für dein gesellschaftliches und politisches Engagement, vielleicht doch sehr, sehr hoch ist?

Eher umgekehrt. Ich habe immer gedacht, dass diese Vergangenheit ein solcher Klotz ist, dass so viele Menschen Opfer geworden sind, dass das alles irgendwie zu wenig ist.

Als ich ein junges Mädchen war, habe ich gesehen, wie Menschen in die Lager gekommen sind, für das Lesen derselben Bücher, die ich auch gelesen habe, nur in dem man das Buch „Der Archipel Gulag“ [von Alexander Solschenizyn] gelesen und jemandem weitergereicht hat. Da hat man immer ein sehr ungutes Gefühl, warum man verschont bleibt. Warum geht es denen so schlecht und du bleibst in Freiheit. Das eigene Schicksal spielt dabei keine wirklich große Rolle, weil man so sehr in dieser Geschichte verwachsen ist, dass man sich selbst auch als Teil davon sieht, und das ist nicht immer gut.

Am 10. Dezember erhält Memorial in Oslo zusammen mit der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties und dem belarussischen Menschenrechtler Ales Bialiatski den Friedensnobelpreis. Was glaubst du, kann das ändern für eure Arbeit?

Es ist wirklich eine Anerkennung unserer Arbeit. In dieser Ohnmacht, der Verzweiflung und dem Zorn, von dem ich schon gesprochen habe, könnte man das Gefühl bekommen, dass wir bei Memorial nicht alles gemacht haben, dass wir zu viel versäumt haben, dass die Menschen uns nicht mehr glauben wollten und so weiter. Womöglich war es überhaupt nicht möglich in Russland, das zu machen, was wir versucht haben? Dieser Preis war die Antwort: Nein! Sie glauben daran, dass das wichtig war und dass es wichtig ist. Besonders auch in dieser Gemeinsamkeit. Nicht, dass wir gemeinsam diesen Preis bekommen: alle Länder, die sich aus der Sowjetunion entweder befreit haben oder sich in einer Diktatur befinden. Aber es ist sehr wichtig, was alle gemacht und was wir alle in allen Ländern versucht haben zu machen.

Der zweite Aspekt ist, dass man glaubt und unterstützen will, dass wir durch diese Anerkennung auch genug Kraft haben werden, unsere Arbeit fortzusetzen. In diesem Sinne ist der Preis vielleicht wichtiger, als er es vor fünf Jahren gewesen wäre – wir waren ja auch früher schon mehrmals alleine für den Nobelpreis nominiert. Ich glaube, dass diese Konstellation in diesem schrecklichen Jahr das Richtige und auch das einzig Mögliche ist.

Jetzt stehen bei euch neben den Gründer:innen fast schon zwei neue Generationen bereit, um die Arbeit von Memorial weiterzuführen. Wie ist das Miteinander von den Jüngeren und älteren Aktivist:innen, Mitarbeiteri:nnen? Welche Perspektiven von Jüngeren hat dich vielleicht am Anfang erstmal überrascht?

Generationsgeschichten sind schwierig. Wenn es ruhige Zeiten gewesen wären, hätten es vielleicht etwas schärfere Konflikte gegeben. Die muss man nicht unbedingt negativ sehen. Das ist das Leben, solange es keine Konflikte sind, die alles zerreißen und die Arbeit vernichten. Das passiert auch, aber wenn es Konflikte gibt, Diskussionen, auch mal Streit darüber, was wichtig und was nicht so wichtig ist, welche Sprache wir nutzen, was die Themen und die Methoden sind, ist das gut. Wir machen vielleicht das, was ihr nicht gemacht habt. Das habt ihr falsch gemacht und wir machen es auf anderer Weise. Eure alte Sprache spricht die jüngeren Menschen nicht mehr an. Das haben wir auch im Schülerwettbewerb gesehen. Das kann alles umgekehrt sehr konstruktivsein. Ich habe immer ein gutes Gefühl, wenn ich mit den Jüngeren in diesen Streitgesprächen bin.

Durch diesen fürchterlichen Druck ist etwas entstanden, was eigentlich fantastisch war: Man will uns vernichten, aber wir werden zusammenhalten. Da war das absolut kein Problem. Wir hatten einen Feind, der uns vernichten wollte, in dieser Situation ging es nicht darum, irgendwelche Grundsatzkonflikte auszutragen.

Jetzt sind wir in viele Länder zerstreut und es ist nicht so einfach, die Arbeit fortzusetzen. Da sehe ich auch Probleme. Unsere jüngeren Kolleg:innen haben ihre Arbeit immer sehr konkret definiert: Recherchen, Digitalisierung, Interviews sammeln, Websites erstellen, Aktionen organisieren. Das ist absolut gut und richtig, denn ohne Inhalte ist alles nur Phrase. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass gerade Inhalte sie interessieren.

Was ich mir etwas mehr wünschen würde, wäre ein politischerer Blick. Nicht in dem Sinne, dass man irgendeine Partei oder eine Regierung im Exil unterstützt oder so. Das ist nicht die Aufgabe von Memorial. Aber unsere Aufgabe ist trotz allem eine politische, sie ist politisch geworden. In dieser Hinsicht würde ich mir ein bisschen mehr Unterstützung wünschen bei den Versuchen, die Menschen auch politisch aufzuklären.

Du hast es vorhin schon gesagt, du warst und bist seit langem für die Jugendbildungsaktivitäten und den Schülerwettbewerb von Memorial zuständig. Was würdest du mit deinen Erfahrungen einem jungen geschichtsinteressierten Russen für die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte mitgeben wollen, oder vielleicht auch einer Geschichtsstudentin aus der Ukraine: Wie sollen sie das tun? Wie können sie das tun? Was sollen sie vielleicht nicht tun?

Ich würde sagen, man sollte versuchen, einen klaren Kopf zu behalten und nicht mit Glauben, sondern mit Wissen Geschichte zu verstehen: Ohne Voreingenommenheit, ohne Flucht vor den Fakten und mit Mut. Wenn man schon nicht, denn das ist unglaublich schwer im heutigen Russland, auf die Straßen geht. Männer sind sowieso in der Gefahr, in die Armee einberufen zu werden, und das bedeutet ein absoluter Horror. Nicht zulassen, dass die Geschichte als Quelle von Verschwörungstheorien und Entmenschlichung der Menschen dient.

Natürlich habe ich kein gutes Gefühl dabei. Wir haben so gelebt, vor allem im Westen, dass man gedacht hat, wir hinterlassen diese Gesellschaft für jungen Menschen in einer guten Form. Alles, was Menschenrechte anbetrifft, geht mehr oder weniger bergauf. Diese Freiheiten und Menschenrechte sind alle so selbstverständlich, dass man sich nur langweilt. In Russland wollte man überhaupt nicht glauben, dass es für etwas nützlich ist. Unsere Gesellschaft in Russland ist sowieso eine schreckliche Katastrophe, aber im Westen steckt sie auch in großen ideologischen Schwierigkeiten.

Die jungen Menschen heute müssen mit ansehen, wie zerbrechlich alles, was man unter Menschenrechten, Freiheit, Demokratie verstanden hat, ist. Wie muss man das schützen, damit das wirklich funktioniert? Das sind existenzielle Aufgaben.

Du hast das Bündel an Herausforderungen benannt. Vielleicht können wir mit der Klimakrise sogar noch ein weiteres Thema dazusetzen. Magst du am Ende nochmal sagen: gibt es einen Tipp für Aktivist:innen, wie man gegen den Impuls, einfach zu verzweifeln und aufzugeben, angehen kann? Hast du etwas zum Weitergeben?

Man tut sich natürlich schwer mit Ratschlägen. Ich glaube, man muss immer versuchen, in großen Linien zu denken. Das ist momentan ganz wichtig. Allein schon, was die Begrifflichkeit betrifft. Ich hoffe sehr, dass sich in der jungen Generation Menschen finden, die uns neue Denkmodelle anbieten können in dieser ganz akuten Situation.

Aber zusätzlich hilft vielleicht das, was man täglich machen kann. Jemanden helfen, der Hilfe braucht. Ich meine diese Theorie der kleinen Sachen, um nicht in einer Depression unterzugehen und sich nicht irgendwelche Gedanken über den Weltuntergang zu machen. Sondern zu überlegen: Kann ich helfen? Was kann ich tun?

Ich bin hier in Weimar und habe hier eine kleine Gruppe von jungen Studentinnen kennengelernt. Sie sind aus Russland gekommen und studieren dort. Wir haben auch Ukrainerinnen betreut, die in dieser Flüchtlingswelle nach Weimar gekommen sind in eine kleine Stadt, aber es war trotzdem sehr schwierig. Sie haben sie betreut und sie haben geholfen, sie unterzubringen. Sie haben für sie gedolmetscht und jetzt machen sie eine kleine Ausstellung. Das ist in meinen Augen eine sehr gute Initiative. Sie zeigen die Gegenstände und die Geschichten, die die Menschen mitgebracht haben. Es wird eine dreitägige Ausstellung hier in Weimar geben und sie wird mit einem Chorprogramm von ukrainischen Frauen verbunden.

Das kann natürlich nicht davon abhalten, über größere Dinge nachzudenken. Aber momentan hilft das vielleicht ganz praktisch.

Liebe Irina, ich möchte dir herzlich danken, wie du mich und uns zwischen den ganz Großen und den konkreten Dingen hin und her geführt hast. Ich wünsche dir und allen Engagierten von Memorial – egal ob in Russland oder im Exil – alles, alles Gute! Vielen Dank für das Gespräch.

Vielen, vielen Dank! Wir sind sehr, sehr dankbar für Unterstützung. Denn wenn wir die nicht bekommen hätten, hätten wir überhaupt nicht die Möglichkeit, weiter arbeiten zu können. Vielen Dank.

Das war unser History and Politics Podcast mit Irina Scherbakowa zu Antriebskräften für Aufklärungsarbeit und Einsatz für Menschenrechte in Russland und zur Zukunftsperspektive der Arbeit von Memorial im Exil.

Weiterführende Links zur Arbeit von Memorial, zu Irina Scherbakowa selbst und zu ihrer Familiengeschichte finden Sie in den Shownotes und auf unserer Website. Da finden Sie auch das Manuskript zur Folge.

Wenn Sie Interesse haben an den Einschätzungen von Irina Scherbakowa zu den politischen Hintergründen des russischen Angriffs auf die Ukraine und zu Szenarien eines Kriegsendes, empfehlen wir auch den Mitschnitt unserer öffentlichen Diskussionsveranstaltungen mit ihr und dem Historiker Volkhard Knigge im Körber-Forum vom 9. November.

Wenn Sie Informationen zu den Aktivitäten des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung interessieren, finden Sie diese ebenfalls auf unserer Stiftungswebsite. Da gibt’s natürlich auch alle weiteren Folgen unseres Podcasts.

Haben Sie Fragen, oder Anregungen zu unserem Podcast? Dann schreiben Sie uns gerne eine Email an gp@koerber-stiftung.de.

Vielen Dank fürs Zuhören, hoffentlich bis zur nächsten Folge, machen Sie es gut!

Artwork: Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Geschichte ist Gegenwart! Der History & Politics Podcast der Körber-Stiftung

Warum Geschichte immer Gegenwart ist, besprechen wir mit unseren Gästen im History & Politics Podcast. Wir zeigen, wie uns die Geschichte hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

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